COP27 und Gerechtigkeit: „Die Klimakrise ist eine Form des Kolonialismus“

Die sechs Schlüsselthemen für die COP27 ergeben sich aus dem dringenden Handlungsbedarf im Globalen Süden und dem Prinzip der Klimagerechtigkeit, wie es in der woxx 1706 dargelegt wurde.

Am 12. November richtet das Internationale Klima-Bündnis in Sharm el Sheikh, gemeinsam mit der ASTM und weiteren Partnern, wie bereits auf der COP26, ein Side Event aus. Diesmal geht es um lokale Lösungen zum Schutz des Amazonas. (© ASTM)

Für die Menschen, die als „Frontliner“ täglich den verheerenden Konsequenzen des Klimawandels ausgeliefert sind, ist es ein Schlag ins Gesicht: Die Tatsache, dass die internationale Staatengemeinschaft in wenigen Tagen die mittlerweile 27. Weltklimakonferenz durchführt und weitere bereits in Planung sind. Denn wie kann es sein, dass gefährdete Länder auf der ganzen Welt mehrjährige Verhandlungen abwarten müssen, wenn der Bedarf so unmittelbar und dringend ist?

„Die Klimakrise ist Ausdruck ineinandergreifender Unterdrückungssysteme und eine Form des Kolonialismus“, stellt die Klimaaktivistin Meera Ghani, früher selbst Verhandlungsführerin für Pakistan, fest. Dieser Ansicht schließt sich auch das Konsortium „Allied for Climate Transformation 2025“ (ACT2025) an, ein Zusammenschluss von Think Tanks und Expert*innen, die ehrgeizige, gerechte und ausgewogene Ergebnisse bei den UN-Klimaverhandlungen fordern und dabei vor allem die Bedürfnisse und Prioritäten besonders gefährdeter Entwicklungsländer im Blick haben. Im Vorfeld der COP27 hat diese Allianz den Aufruf gestartet, die Bedürfnisse der gefährdeten Länder bei der Umsetzung des Pariser Abkommens in konkreten Handlungsfeldern in besonderem Maß zu berücksichtigen. Kernelemente des Aufrufs sind die ehrgeizigere Formulierung der NDCs (Nationally Determined Contributions) im Rahmen einer inklusiven und gerechten globalen Bestandsaufnahme der Verantwortlichkeiten und Kapazitäten. Um dies zu erreichen, „sollte der UN-Generalsekretär Länder und nichtstaatliche Akteure zur Rechenschaft ziehen, um ein solides System der Rechenschaftspflicht für Verpflichtungen zu entwickeln, die außerhalb des UNFCCC-Prozesses eingegangen wurden.“

ACT2025 fordert mindestens in den fünf folgenden Bereichen entscheidende Fortschritte, um das Vertrauen wiederherzustellen, dass globale, gemeinsame Maßnahmen die größten Herausforderungen der Menschheit lösen können. Das World Resources Institute erweitert diese Liste auf insgesamt sechs Schlüsselaufgaben, um künftige internationale Klimaschutzmaßnahmen und Unterstützung voranzutreiben.

Sechs Punkte fürs Klima

An erster Stelle steht eine Bestandsaufnahme, aufgrund derer das Tempo für Klimamaßnahmen erhöht werden kann. Die Ergebnisse einer solchen globalen Bestandsaufnahme (global stocktake) müssen politisch relevant sein und sich nicht in Informationsweitergabe oder vagen Empfehlungen erschöpfen. Die COP27 kann dazu beitragen, die Richtung dieser Bestandsaufnahme zu bestimmen, indem sie Ländern, Expert*innen und nichtstaatlichen Akteuren den Raum bietet, eine kohärente technische Bewertung des kollektiven Fortschritts im Hinblick auf die langfristigen Ziele des Pariser Abkommens vorzunehmen und eine gemeinsame Vision zu entwickeln, um auf der COP28 mit einem politischen Paket abschließen zu können, unter Berücksichtigung der Diskussionen über das Globale Anpassungsziel (GGA), Verluste und Schäden (Loss and Damage), Abschwächung und das neue Finanzierungsziel.

Am Ende dieser Diskussionen muss, so die zweite Aufgabe, die Schaffung eines Finanzierungsmechanismus zur Bewältigung von Verlusten und Schäden stehen. Es geht um Auswirkungen des Klimawandels, die so gravierend sind, dass sich Gemeinschaften nicht an sie anpassen können. Hierfür forderten die Entwicklungsländer bei der COP26 in Glasgow zunächst eine spezielle Einrichtung, durch die Finanzmittel kanalisiert werden könnten, die aber unter dem Druck vieler Industrieländer durch den Glasgow-Dialog ersetzt wurde. Angesichts der Laufzeit dieses Dialogs bis 2024 verstrich wieder wertvolle Zeit bis zum Juni 2022, als die Entwicklungsländer bei den UN-Klimaverhandlungen in Bonn erneut die sofortige Einrichtung einer Finanzierungs-Fazilität fordern konnten.

Grafik: Raphael Pouget/Climate Visuals Countdown

Der Finanzbedarf für Loss and Damage muss in den Augen der Entwicklungsländer und der Zivilgesellschaft aber in jedem Fall das Kriterium der Zusätzlichkeit erfüllen und darf nicht Teil der Hilfen für Anpassung, humanitäre Hilfe oder Entwicklungshilfe sein. Industrieländer argumentieren in diesem Zusammenhang dagegen für eine Stärkung bestehender Kanäle wie dem Grünen Klimafonds, InsuResilience oder dem UN-Büro für Katastrophenrisikominderung, um keine neue Institution zur Kanalisierung finanzieller Hilfe schaffen zu müssen. Die Minimalforderung, einen Prozess zur Formalisierung von Finanzierungsvereinbarungen zur Bewältigung von Verlusten und Schäden im Rahmen des UNFCCC einzuleiten, könnte sich dabei schon am ersten Tag der COP27 in Luft auflösen: Sollte der Antrag der G77 und China, formell über Finanzierungsvereinbarungen für Verluste und Schäden zu diskutieren, am ersten Verhandlungstag keinen Konsens aller Länder finden, würde dieser (noch nicht offiziell bestätigte) Tagesordnungspunkt fallen gelassen und die Verhandlungen schon zu Beginn gefährden. In seiner Rolle als „Katalysator“ für das Erreichen der Klimaziele sagte der hochrangige UN-Klimabeauftragte für Ägypten, Mahmoud Mohieldin, dass er sich für alle benachteiligten Parteien, wie zum Beispiel kleine Inselstaaten, einsetzen und darauf drängen werde, heiße Themen wie „Verluste und Schäden“ auf den Tisch zu bringen.

Emissionen reduzieren – geht gerade nicht?

Damit würden die wenigen Zusagen für Loss and Damage (Schottland, Wallonien, Dänemark und Philanthropen) auch weiterhin mehr auf Freiwilligkeit als auf Verpflichtung basieren und die Finanzierung von Schäden und Verlusten weiterhin ins Abseits schieben. Daran würden auch geplante Initiativen wie die Crowd-Sourcing-Kampagne des Climate Vulnerable Forum und der Vulnerable Twenty (V20)-Gruppe nichts ändern. Darüber hinaus hängt der Erfolg der COP27 auch davon ab, ob die Verhandlungsführer das Santiago-Netzwerk in vollem Umfang in Betrieb nehmen. Organisationen der Zivilgesellschaft werden auf der COP27 noch einen Schritt weitergehen: Sie werden darüber hinaus einen Schuldenerlass im Zusammenhang mit Loss and Damage fordern, um im Bedarfsfall Gelder mit Hilfe von Schuldenmoratorien schnell und zielgerichtet an die Bevölkerung weiterzuleiten.

Der dritte dringend notwendige Schritt nach vorn betrifft die Erhöhung der nationalen Reduktionsziele. Die Überprüfung und Erhöhung der NDCs bis Ende 2022 war eine der wichtigsten Aufträge der COP26 an alle Länder, insbesondere die großen Emittenten. Die Ergebnisse präsentiert der NDC Synthesis Report 2022. Der Bericht fasst Informationen aus den 166 neuesten verfügbaren NDCs zusammen, die 193 Vertragsparteien des Pariser Abkommens repräsentieren. Insgesamt 39 Vertragsparteien haben seit dem 12. Oktober 2021 neue oder aktualisierte NDCs übermittelt, 24 davon nach der COP26. (5) Indien, Australien, Indonesien und Ägypten als große Emittenten haben im Laufe des Jahres ehrgeizigere Pläne vorgelegt – ehrgeizig bezieht sich hier entsprechend auf die vorherige Version.

Die in den NDCs angekündigten Ziele müssten dabei durch politische Maßnahmen – und vor allem durch Investitionen – untermauert werden, um sie in die Tat umzusetzen. 2022 sind die Weichen für die Klimaverpflichtungen jedoch anders gestellt worden: Als Reaktion auf die Energiekrise und die Erdgasknappheit wurden unter anderem Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen mit dem Effekt, dass gleichzeitig die Klimaverpflichtungen großer Emissionsländer quasi rückgängig gemacht wurden. Die Denkfabrik Ember Climate schätzt, dass die europäischen Regierungen in diesem Winter mehr als 48 Milliarden Dollar für neue oder erweiterte Infrastrukturen und Lieferungen fossiler Brennstoffe ausgeben werden.

Finanzielle Mittel werden aber nicht nur für die Minderung des Klimawandels gebraucht, sondern auch für die Anpassung. Der vierte Punkt betrifft die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen – bis 2025 ist eine Verdoppelung des Finanzbedarfs gegenüber 2019 vorgesehen. Die Mittel für die Anpassung müssen erhöht und an die für die Emissionsreduzierung bereitgestellten angeglichen werden.

Lächeln und der Weltpolitik nicht in die Quere kommen: Gute (Zivil-)Gesellschaft macht gutes Klima, wie in diesem PR-Video zur COP27. (cop27.eg)

100 Milliarden reichen nicht!

Was insbesondere die Entwicklungsländer in Sharm el Sheikh interessieren dürfte, sind darüber hinaus vor allem das Mitspracherecht bei Investitionsentscheidungen und der Zugang zu Finanzmitteln sowie anderen Ressourcen, die für den Aufbau von klimawandelbedingter Widerstandsfähigkeit benötigt werden. Nicht zuletzt müssen die Staaten eine Antwort finden auf die Frage, wie sichergestellt werden soll, dass diese Mittel diejenigen erreichen, die sie am dringendsten benötigen. Ähnlich wie bei humanitärer Hilfe bietet auch dieser Punkt eine Menge Sprengstoff, da die Industrieländer sich als Finanzgeber auch die Verteilung der Gelder vorbehalten. Lokal geführte Anpassungsmaßnahmen sind jedoch hier das Ziel, um schnell und zielgerichtet unterstützen zu können.

Die COP27 wird auch an ihren Fortschritten bei der Umsetzung des Globalen Anpassungsziels (GGA) gemessen werden, das einen Rahmen für die Verbesserung der Anpassungsfähigkeit sowie die Stärkung der Widerstandsfähigkeit leisten muss und gleichzeitig zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen soll, um eine gerechte und lokal geführte Anpassung zu fördern.

Fünfte, längst überfällige Aufgabe ist die Erfüllung des 100-Milliarden-Dollar-Klimafinanzierungsversprechens – und das Eingehen neuer Verpflichtungen. Die im Jahr 2009 gemachte Zusage der Industrieländer, jährlich 100 Milliarden Dollar für die Entwicklungsländer zu mobilisieren, um deren Klimaschutzmaßnahmen zu unterstützen, ist nämlich bis heute nicht eingelöst worden. Laut einer aktuellen Bewertung der OECD wurden zum Beispiel im Jahr 2020 nur 83,3 Milliarden Dollar an Klimafinanzierung mobilisiert. Diese Lücke muss bis 2023 verbindlich geschlossen werden, unter anderem mittels der in Glasgow gemachten Zusagen für den Anpassungsfonds, durch die Mitteilung neuer und zusätzlicher Zusagen für multilaterale Fonds und durch bilaterale Unterstützung. Hier spielt sicher auch die nicht ausgeschöpfte Kapitalstruktur multilateraler Entwicklungsbanken (MEB) eine entsprechende Rolle. Die MEB sind nach wie vor ein integraler Bestandteil der Klimafinanzierungsarchitektur und müssen ihre Klimamaßnahmen weiter ausbauen, insbesondere im Bereich der Anpassung. Zudem steht auch ein Beschluss über ein neues kollektives Finanzierungsziel aus, das nach 2025 in Kraft treten soll.

Planet and people before profit

Last but not least gab es abseits der „großen Themen“ bei der COP26 eine ganze Reihe von Zusagen und Vorschlägen von Regierungen, Unternehmen oder Interessenvertreter*innen wie beispielsweise die Verdoppelung der 2019 bereitgestellten Mittel für die Anpassung an den Klimawandel bis 2025, die Ausweitung der Anpassungsmaßnahmen auf lokaler Ebene, die Beendigung der internationalen Finanzierung fossiler Brennstoffe, die Eindämmung von Methanemissionen, die Eindämmung und Umkehrung des Waldverlustes, die Ausrichtung des Finanzsektors auf eine Netto-Null-Strategie bis 2050 und weitere. Die COP27 wird zeigen, inwieweit es sich hier um Papiertiger oder konkrete Maßnahmen handelt. Welche Fortschritte wurden erzielt, welche Hindernisse stehen der Umsetzung im Weg? Und über allem steht die Frage der Rechenschaftspflicht. Diesbezüglich ist es wohl kaum ein Zufall, dass nur wenige Tage vor der COP27 Konzernvertreter*innen und Lobbyist*innen aus aller Welt sich im Hinblick auf die Klimaverhandlungen zu Vorgesprächen treffen – Stichworte wie „Ausrichtung der privaten Finanzströme auf die Pariser Klimaziele“ und „Transformation der Wirtschaft“ dürften hier häufig fallen.

Polly Higgins, verstorbene britische Anwältin und Visionärin, definierte – ohne sich auf eine COP zu beziehen – die Frage nach dem Schutz der Menschen, der Ressourcen und Ökosysteme des Planeten als ein Opfer falscher Prioritäten: „The rules of our world are laws, and they can be changed. Laws can restrict or they can enable. What matters is what they serve. Many of the laws in our world serve property – they are based on ownership. But imagine a law that has a higher moral authority … a law that puts people and planet first. Imagine a law that starts from first do no harm, that stops this dangerous game and takes us to a place of safety …“

Higgins legte der UN-Rechtskommission 2010 eine Definition von Ökozid vor, die zu einer Kampagne mit der Forderung führte, Ökozid zu einem Verbrechen zu machen, und die auch außerhalb der Zivilgesellschaft schon breite Unterstützung fand. Sollte die Weltklimakonferenz auch dieses Jahr wieder mehr Emissionen als Ergebnisse produzieren und notwendige globale Vereinbarungen und länderspezifische Regelungen zum Schutz des Klimas und des Planeten nicht anstoßen, wird man von dieser Kampagne in naher Zukunft mehr hören.

World Resources Institute: www.wri.org

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