Der Skandal um die EU-Grenzschutzagentur Frontex: Schild und Schwert

Schnee von gestern – so würde die EU-Kommission Vorwürfe gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex gern verkaufen, die ein Mitte Oktober publizierter und zuvor geleakter Bericht des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (Olaf) als erwiesen betrachtet. Eine Mehrheit im EU-Parlament sieht das anders und verweigerte Frontex vergangene Woche die Entlastung für den Haushalt von 2020.

Business as usual: Aija Kalnaja, die Interim-Exekutivdirektorin von Frontex (links) im Mai dieses Jahres mit Ylva Johansson, der EU-Kommissarin für Inneres. (Foto: European Union, 2022/EC – Audiovisual Service/Janek Skarzynski)

Der ehemalige Frontex-Chef Fabrice Leggeri war vor seinem Rücktritt Ende April nicht zuletzt für die Unverfrorenheit berüchtigt, mit der er das von Medien und NGOs vielfach und akribisch belegte Fehlverhalten der von ihm geleiteten EU-Grenzschutzagentur bestritten hatte. Im Mittelpunkt standen illegale Zurückweisungen von Asylsuchenden entlang der EU-Außengrenzen: Über solche Pushbacks, beispielsweise durch griechische Grenzschutzbehörden, sei Frontex informiert und zum Teil auch daran beteiligt gewesen, so der Vorwurf.

Ende 2020 ging das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) der Sache nach und kam im vergangenen April „auf der Grundlage der im Laufe der Untersuchung gesammelten Beweise zu dem Schluss, dass die Anschuldigungen bewiesen sind“, wie es in einem Bericht heißt, der Anfang des Jahres offiziell nur an einige Mitglieder der EU-Kommission, des Frontex-Verwaltungsrates sowie des Europäischen Parlaments gegangen war. Ab Juli veröffentlichten das deutsche Nachrichtenmagazin „Spiegel“ und das für mehr Transparenz staatlicher Aktivitäten engagierte Internetportal „Frag den Staat“ Details aus dem Bericht, der an sie geleakt worden war; Mitte Oktober publizierten sie ihn schließlich in Gänze.

Detailliert wird dort geschildert, was man sich bei Frontex zuschulden kommen lassen hat. Nicht nur wurden zahlreiche zuvor von den Medien und NGOs berichtete Vorfälle von Pushbacks bestätigt (siehe den woxx-Artikel „Grenzschutz außer Kontrolle“ in woxx 1607). Wie aus dem Bericht hervorgeht, wurde der Menschenrechtsbeauftragte von Frontex gezielt und systematisch daran gehindert, seine Tätigkeit auszuüben und etwaigen Menschenrechtsverletzungen unter Beteiligung seiner Agentur nachzugehen. Zu diesem Zweck habe man ihn beispielsweise von der Berichtskette ausgeschlossen und ihm dadurch entscheidende Informationen vorenthalten. Auch weitere Praktiken kommen zur Sprache. So sei in einem Fall ein Frontex-Überwachungsflugzeug in ein anderes Gebiet beordert worden, um Belege für möglicherweise an Flüchtlingen begangene Menschenrechtsverletzungen am ursprünglichen Einsatzort zu vermeiden.

Der 129 Seiten umfassende Bericht setzt sich aus dem Material zusammen, das die Betrugsbehörde durch die Auswertung von E-Mails, Whatsapp-Nachrichten und sonstigen digitalen Daten, 20 mündlich sowie zehn per Fragebogen geführten Interviews mit „Zeugen“ und weiteren Materialien erhalten hat. Auch mehrere Büros von Frontex-Verantwortlichen wurden zu Beginn der Ermittlungen durchsucht. Der Bericht konstatiert ein schweres Fehlverhalten insbesondere des ehemaligen Exekutivdirektors Fabrice Leggeri sowie zweier weiterer Mitglieder des Leitungspersonals.

Deutlich wird dank des Berichts nicht zuletzt, wie feindselig die Frontex-Führungsetage der Forderung nach einer mit den Menschenrechten kompatiblen Praxis auch aus den eigenen Reihen gegenüberstand. So geht aus der teilweise geschwärzten Passage eines digitalen Chats über eine Person hervor, diese sei „die erste Frontex-[geschwärzt; Anm. d. Red.], die alles an die NGOs meldet und den Terror der Roten Khmer in der Agentur aufleben lässt“. Wer für den Frontex-Menschenrechtsbeauftragten arbeitete, wurde also schlicht als Gegner*in betrachtet, der oder die mit wahnhaftem, ideologisch motiviertem Verfolgungseifer zu Werke geht. So berichtet eine interviewte Person, ihr sei gesagt worden: „Ihr könnt euch mit ihnen [den für Menschenrechte Zuständigen innerhalb von Frontex; Anm. d. Red.] treffen, mit ihnen auf dem Korridor reden und auch freundlich zu ihnen sein, aber [geschwärzt] ist keine[r] von uns.“ Sogar die EU-Kommission wurde als zu weich verdächtigt. Insbesondere einige der dort verantwortlichen Beamten*innen hielt man laut Olaf als „zu sehr auf Grundrechtsfragen konzentriert und zu bürokratisch, ohne Verständnis für die operativen Herausforderungen des Schutzes der Außengrenzen“.

Das skandalöse Gesamtbild, das die Veröffentlichung des Berichts über die Zustände innerhalb der mit einem Budget von 754 Millionen Euro für das Jahr 2022 mit Abstand größten Agentur der Europäischen Union vermittelt, löste zwar kein politisches Erdbeben aus, nötigte den Verantwortlichen aber doch mehr oder weniger ausführliche Stellungnahmen ab.

Den Anfang machte Frontex selbst. Einen Tag nach der vollständigen Publikation des Berichts veröffentlichte die Agentur am 14. Oktober eine Pressemitteilung. Darin wird in den ersten beiden Absätzen auf den Text des Olaf Bezug genommen, um dann einen dritten Absatz hinterherzuschieben, der mit Blick auf die über Jahre hinweg gemachten, nunmehr bestätigten Vorwürfe aus einem einzigen Satz besteht: „Dies waren Praktiken der Vergangenheit.“

Wer für den Frontex-Menschenrechtsbeauftragten arbeitete, wurde schlicht als Gegner betrachtet.

Wenige Tage später äußerte sich mit Ylva Johansson die zuständige EU-Kommissarin. „Ich bin mir bewusst, dass die Lektüre des Berichts viele von Ihnen schockiert hat“, sagte Johansson bei einer Debatte im EU-Parlament in Straßburg. Zugleich sah sie durch den Bericht des Olaf aber bestätigt, dass die Kontrollmechanismen der EU-Grenzschutzagentur letztlich greifen würden: „Ich bin überzeugt, dass der Verwaltungsrat von Frontex seiner Verantwortung in vollem Umfang und auf sehr effiziente Weise nachgekommen ist“, so die EU-Kommissarin. Dies habe es der Agentur ermöglicht, weiterhin „reibungslos“ zu funktionieren und gleichzeitig „hart daran zu arbeiten, die verbleibenden Mängel zu beheben“.

EU, 2015/EC – Audiovisual Service/Angelos Tzortzinis

Reibungslos, effizient, Praktiken der Vergangenheit – eine derart dreiste Rhetorik erinnert an den ehemaligen Frontex-Direktor Leggeri. Dieser hatte Anfang Dezember vergangenen Jahres das EU-Parlament mit seiner Unverfrorenheit nicht zu überzeugen vermocht (siehe den Artikel „Vorwürfe gegen EU-Grenzschutzagentur: Langsam wird es unbequem“ in woxx 1616). Mit den Beteuerungen von Frontex und Johansson ging es den Straßburger Parlamentarier*innen in der vergangenen Woche ähnlich: Eine Mehrheit von 345 Abgeordneten stimmte dagegen, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache für das Haushaltsjahr 2020 zu entlasten.

Mit seinem Votum machte das Parlament deutlich, dass man sich mit Sonntagsreden nicht abspeisen lassen will, sondern reelle Veränderungen erwartet, ehe man als Kontrollorgan bestätigt, dass das enorme Frontex-Budget ordnungsgemäß und im Einklang mit den Werten der EU verwendet wird. „Eine Missbilligung des Haushaltes bringt im Normalfall einen Rücktritt der Direktion mit sich“, so dazu die Luxemburger EU-Abgeordnete Tilly Metz von „Déi Gréng“ in einer Pressemitteilung. Zwar sei Leggeri bereits im Frühjahr zurückgetreten. Mit der Blockade des Jahresabschlusses wolle das Parlament deutlich machen, „dass die Probleme damit aber noch nicht gelöst sind“.

Davon kann in der Tat kaum die Rede sein. Erst im Juli wurde Aija Kalnaja offiziell zur Interim-Exekutivdirektorin von Frontex ernannt, bis die Nachfolge von Leggeri geklärt ist. Schon im September reichte die NGO „front-lex“ Klage gegen die Beamtin beim Gerichtshof der Europäischen Union ein. Die juristische Nichtregierungsorganisation argumentiert, Frontex müsse die gemeinsamen Operationen mit der griechischen Küstenwache in der Ägäis beenden oder zumindest suspendieren, da es dabei zu zahlreichen schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen sei. Das jedoch habe Kalnaja nicht getan.

Im Mai hatte die Frontex-Interimsdirektorin gesagt, die anhaltende Kritik an der EU-Agentur lasse manche ihrer Mitarbeiter*innen „traumatisiert“ zurück.

Die NGO stützt sich nicht zuletzt auf den Olaf-Bericht. Kalnaja habe es versäumt, daraus die Konsequenzen zu ziehen, „wie es ihre rechtliche Verpflichtung nach Art. 46(4) gewesen wäre“, heißt es unter Bezug auf die für Frontex geltende EU-Verordnung in einer Pressemitteilung der NGO. Der zitierte Paragraf sieht vor, dass der Exekutivdirektor beziehungsweise die Exekutivdirektorin von Frontex „jedwede Tätigkeit der Agentur ganz oder teilweise“ aussetzt und beendet, „wenn er der Auffassung ist, dass im Zusammenhang mit der betreffenden Tätigkeit schwerwiegende oder voraussichtlich weiter anhaltende Verstöße gegen Grundrechte oder Verpflichtungen des internationalen Schutzes vorliegen“.

Dieser Meinung scheint Kalnaja nicht zu sein. Stattdessen habe die seit 2018 bei Frontex tätige ehemalige hochrangige lettische Polizeibeamtin erklärt, sie wolle „Artikel 46 rückgängig machen“, so „front-lex“. Damit setze sich die Interimsdirektorin „grotesk über Rechtsstaatlichkeit und die EU-Verträge hinweg“: „Mit jedem Tag, an dem Frau Kalnaja straffrei ausgeht, wird die EU-Rechtsordnung unwiderruflich ausgehöhlt“, so die NGO.

Im Mai hatte die Frontex-Interimsdirektorin, damals schon kommissarisch im Amt, während einer Anhörung im EU-Parlament gesagt, die anhaltende Kritik an der Agentur lasse manche ihrer Mitarbeiter*innen „traumatisiert“ zurück. Diese also, und nicht etwa die unter Mitwirkung oder Duldung der EU-Grenzschutzbehörde misshandelten Flüchtlinge sollen offenbar die Opfer der aktuellen Zustände sein. Auch wenn sie zugleich anmahnte, es bedürfe bei Frontex einer „anderen Kultur“: Statt eines Paradigmenwechsels kündigt sich in solchen Worten eher ein „Business as usual“ an.

Die EU-Parlamentarier*innen haben daher allen Grund zu der Annahme, dass die Probleme in der Agentur „tiefgreifender ‚struktureller‘ Natur sind und über das Fehlverhalten einzelner Personen hinausgehen“, wie es in einer Pressemitteilung zu der bereits zitierten Debatte vorige Woche in Straßburg heißt. Als etwa Griechenland im März 2020 das Asylrecht für einen Monat außer Kraft setzte, nachdem Tausende versucht hatten, aus der Türkei in die EU zu gelangen, bedankte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angesichts des völkerrechtlich umstrittenen Schritts bei der griechischen Regierung, das Land sei in diesen Tagen Europas „Schild“. Bald danach häuften sich Berichte über griechische Sicherheitskräfte, die Asylsuchende illegal in die Türkei zurückdrängen.

Die griechischen Zustände sind nur die Spitze des Eisbergs, wie etwa die Kooperation mit den als „Küstenwache“ etikettierten libyschen Banden zeigt, die auch dank der EU mit dem Elend der Flüchtlinge Kasse machen (siehe den Artikel „Bündnis mit den Banden“ in woxx 1685). Und nicht zuletzt die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, während zahllose Menschen im Mittelmeer ertrinken (sie den Artikel „Beschränkte Befugnis“ in woxx 1696), macht deutlich, wo die Prioritäten des Staatenverbundes liegen.

Das Problem liegt daher nicht allein bei Frontex, und es ist nicht bloß strukturell, sondern vor allem systematisch: Es ist die der Agentur übertragene und von dieser letztlich konsequent ausgeführte EU-Flüchtlingsabwehrpolitik. „Ich kann heute hier vieles erzählen“, so Aija Kalnaja während der Anhörung im Mai, „aber es kommt nicht darauf an, was ich sage. Was zählt, ist, was wir liefern.“ Und diesbezüglich scheint man sich in den maßgeblichen EU-Institutionen weiterhin einig zu sein.


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