EU-Flüchtlingspolitik in Libyen: Bündnis mit den Banden

Zur Abschottung Europas vor Flüchtlingen setzt die EU-Kommission auf die Kooperation mit kriminellen Banden. Für die sogenannte libysche Küstenwache und andere Milizen bedeutet diese Flüchtlingspolitik nicht zuletzt dank Geldern aus Brüssel ein einträgliches Geschäft.

Erfolgloser Versuch einer Mittelmeerüberfahrt: Flüchtlinge gehen im Juli 2017 von Bord eines libyschen Küstenwachschiffs, im Hafen des östlich von Tripolis gelegenen Guarabouli. (Foto: EPA/Stringer)

Auf seinen Internetseiten preist das Europäische Parlament die Vorteile der Kreislaufökonomie: Diese sei ein Wirtschaftsmodell, bei dem Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet und recycelt werden, um das Maximum aus ihnen herauszuholen. Ungefähr so sieht auch das Geschäftsmodell der libyschen Banden aus, die ihr Geld mit der Ausbeutung und dem Schmuggel von Flüchtlingen verdienen. Eine zentrale Rolle hat darin die von der Europäischen Union mitfinanzierte sogenannte libysche Küstenwache. Trotz des offiziell klingenden Namens besteht sie aus lokalen Patrouillen, die von bewaffneten Gruppen geführt werden.

„Die libysche Küstenwache und die Schmuggler sind eine Einheit“, fasst ein ehemaliger libyscher Polizeibeamter die Realität vor Ort zusammen, die er dem Nachrichtenportal „EUObserver“ im vergangenen Jahr geschildert hat. Die Zusammenarbeit besteht nämlich nicht einfach nur darin, dass Menschenschmuggler patrouillierende Küstenwächter bestechen, damit Fluchtboote ungestört in Richtung Europa aufbrechen können. Die Flüchtlinge werden vielmehr systematisch ausgebeutet.

Die libyschen Flüchtlingslager, wo willkürliche Gewaltanwendung, Folter, Vergewaltigung, Sklavenarbeit und Prostitution an der Tagesordnung sind, bilden einen wichtigen Bestandteil dieser Ausbeutungsstruktur. Damit die Flüchtlinge von dort frei kommen, kassieren die Schmuggler zunächst Geld von den Familien der in den Lagern festgehaltenen Personen. Ein Teil des Geldes wird dann an die Betreiber des Lagers für die Freilassung der Inhaftierten bezahlt. Danach wird die sogenannte Küstenwache über eine bevorstehende Überfahrt informiert und ebenfalls geschmiert. Benötigte Boote inklusive Außenbordmotoren werden praktischerweise auch gleich bei der Küstenwache gekauft. Diese hat davon jede Menge im Angebot: Regelmäßig werden Fluchtversuche verhindert und die dabei verwendeten Boote beschlagnahmt. „Viele dieser Boote werden so ständig zwischen der libyschen Küstenwache und den Schmugglern ausgetauscht“, so der ehemalige Polizeibeamte.

Nicht selten durchlaufen Flüchtlinge mehrmals dieses System: Die Bestechung der libyschen Küstenwache, die ja keine einheitliche Behörde ist, bietet keine Garantie für eine vollständig ungestörte Überfahrt, insbesondere, falls eines der Fluchtboote in Seenot gerät. Haben libysche „Küstenwächter“ ein Boot gestoppt, werden die Geflüchteten erneut in ein Lager gebracht. Auch hier wird wieder eine Schmiergeldzahlung fällig. Dieses Mal sind es die Lagerbetreiber, die die Küstenwache für den Erhalt der Flüchtlinge bestechen, damit man deren Familie weiter auspressen kann, die dann ein weiteres Mal für eine Freilassung bezahlen muss. Und so geht es fort, immer im Kreis. Die libyschen Banden wissen genau, welche Summen sie je Herkunftsland im Schnitt von den Familien verlangen können. Wer aller Habseligkeiten beraubt und auch sonst restlos ausgepresst worden ist, landet am Ende womöglich auf unbestimmte Zeit im Gefängnis. Andere werden in ihr jeweiliges Herkunftsland zurückgebracht, was die Europäische Union als Erfolg verbucht.

Der EU ist es auch zu verdanken, dass die gesamte barbarische Praxis zu einem so lukrativen Geschäft geworden ist. Sie nämlich finanziert die sogenannte libysche Küstenwache nach Kräften mit. Rund 465 Millionen Euro hat man seit 2015 an Libyen bezahlt, mehr als die Hälfte davon fließen laut Francisco Gaztelu Mezquiriz, einem leitenden Beamten der EU-Kommission, in den „Schutz von Migranten und Asylbewerbern“. Zu diesem „Schutz“ zählen auch die drei Patrouillenschnellboote der Klasse „P150“, die man derzeit für die sogenannte libysche Küstenwache kauft. Sie werden „ausschließlich zur Unterstützung von Such- und Rettungs-
aktionen“ eingesetzt, sofern man Olivér Várhelyi, dem für die Nachbarschaftspolitik zuständigen EU-Kommissar, Glauben schenken will.

Zivile Seenotretter bedroht

Vor Ort tätige Seenotrettungsorganisationen wissen anderes zu berichten. Ende vergangener Woche hat der „Europäische Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen“ (Ecre) eine Vielzahl von Situationen aufgelistet, in denen Flüchtlingsboote jüngst im Mittelmeer in Seenot geraten sind. Am weiteren Geschehen war zum Teil auch die libysche Küstenwache beteiligt. So habe am 9. Mai „MSFSea“, die Seenotrettung der NGO „Ärzte ohne Grenzen“, rund 200 Personen aus einer lebensbedrohlichen Situation gerettet. Die libysche Küstenwache sei in sehr geringer Entfernung navigiert, habe aber selbst nicht helfend eingegriffen. Vergangenen Oktober ließ sie sich zehn Stunden Zeit, ehe sie auf einen Notruf reagierte. Mindestens 15 Personen aus einem gekenterten Boot waren da bereits ertrunken.

Für die Kommission ist dies ebenso wenig wie die Zustände in den libyschen Lagern Grund genug, an der Kooperation mit der libyschen Seite zu zweifeln. Diese ist laut Gaztelu Mezquiriz rein humanitär motiviert: „Wir sind der festen Überzeugung, dass eine Steigerung der Effektivität der libyschen Such- und Rettungsaktionen nur dazu beitragen kann, die Zahl der Todesopfer auf See zu verringern“, sagte er vergangenen Monat gegenüber der Presse.

In Wahrheit betreibt Libyen vor allem das schmutzige Geschäft der Flüchtlingsabwehr im Auftrag der EU. Mehr als 5.700 Flüchtlinge und Migrant*innen sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in diesem Jahr bereits aus Libyen in ihre Herkunftsländer zurückverbracht worden. Zwar mag es darunter so manche geben, denen dies allemal lieber ist, als weiter unter höllischen Umständen in dem nordafrikanischen Land zu verbleiben. Der Großteil jedoch will weiter nach Europa und versucht, jeden Kontakt mit der sogenannten libyschen Küstenwache zu vermeiden, da dies entweder die Rückkehr ins Lager oder Abschiebung bedeutet. Nicht selten kommt es daher zu Panik und zu gefährlichen Situationen auf den Flüchtlingsbooten, wenn die von der EU mitfinanzierten libyschen Küstenwachboote auftauchen.

Zum Teil werden zivile Seenotretter daran gehindert, in libyschen Hoheitsgewässern Menschen zu Hilfe zukommen, berichtete Ende April die NGO „Sea-Watch International“. Zugleich operieren die libyschen Küstenwachboote selbst in Gewässern, in denen sie gar keine Hoheitsrechte haben. So wurde am Morgen des 4. Mai ein ziviles Rettungsschiff der Organisation „Sea-Eye“ von ihnen bedroht. „Das libysche Kriegsschiff forderte uns auf, „libysches Territorium“ zu verlassen“, so die NGO auf Twitter: „Wir befanden uns zu dem Zeitpunkt aber in internationalen Gewässern, wo sich Schiffe frei bewegen dürfen“. Die sogenannte libysche Küstenwache habe Rettungsschiffen in der Vergangenheit mehrfach mit Gewaltanwendung gedroht und sogar Warnschüsse abgegeben: „Auch laufende Rettungseinsätze wurden von diesen Milizen immer wieder gestört, in einigen Fällen sind dadurch Menschen ertrunken.“

Noch bedenklicher ist, dass die libysche Küstenwache mit dem stillen Einverständnis der verantwortlichen Behörden sogar in Gebieten operiert, in denen die maltesische Küstenwache für die Seenotrettung verantwortlich ist. Auch Journalisten des Nachrichtenportals „EUObserver“ wollen dies beobachtet haben. Das aggressive Verhalten der libyschen Küstenwachboote innerhalb von maltesischem Hoheitsgebiet habe „beinahe das Leben Dutzender Menschen gekostet“, heißt es in dem Bericht. Teilweise soll sogar die EU-Grenzschutzagentur Frontex aktiv an solchen „pull-backs“ beteiligt sein. Als „pull-backs“ werden Manöver des Grenzschutzes von Drittstaaten wie Libyen bezeichnet: Asylsuchende werden unter Verstoß gegen EU- und internationales Recht aus dem Hoheitsgebiet der EU, wo sie Anspruch auf Prüfung ihres Asylantrages haben, gegen ihren Willen zurück auf das Territorium des Drittstaates gebracht.

Frontex und das Recht

Wegen einem dieser Fälle ist die Organisation Sea-Watch im April vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gezogen. Die NGO wirft Frontex vor, Details über das Ausmaß der Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache zu verweigern. Mitglieder von Sea-Watch sagen zudem, sie könnten einen Zwischenfall vom 30. Juli vergangenen Jahres bezeugen, bei dem die libysche Küstenwacheboote innerhalb der maltesischen Rettungszone ein Boot mit 20 Personen abgefangen habe, wahrscheinlich mit Hilfe der Informationen einer Frontex-Drohne. Der frühere Direktor von Frontex, Fabrice Leggeri, war Ende April zurückgetreten, nachdem er wegen der Verwicklung seiner Behörde in Menschenrechtsverletzungen auch persönlich immer stärker unter Druck geraten war (siehe die Meldung „Frontex ohne Kopf“ in woxx 1683).

Finanziert wird die Kollaboration der EU mit den libyschen Banden in erster Linie über den sogenannten „European Union Emergency Trust Fund for Africa“ (EUTF for Africa). Dieser wurde laut EU-Kommission eingerichtet, um die „die Ursachen für irreguläre Migration und Vertreibung in Afrika“ zu bekämpfen. Offiziell läuft die Zusammenarbeit über Italien, das 2017 mit der libyschen Regierung ein entsprechendes „Memorandum of Understanding“ unterzeichnet hat. Seither wird die sogenannte libysche Küstenwache von der italienischen Regierung umfassend mit technischem Material und sonstigen Mitteln ausgestattet; das Geld dafür stammt aus dem EU-Treuhandfonds. Doch anstatt den Flüchtlingen Schutz zu gewähren, werden sie vor allem von der EU ferngehalten, so die Einschätzung von „Ärzte ohne Grenzen“. Abschreckung ist die Devise.

In diesem Sinne darf wohl auch die Duldung der Zustände in den libyschen Lagern durch die Europäische Union verstanden werden, an der sich auch nach jahrelanger Kritik nichts geändert hat (siehe unter anderem den Artikel „Abwrackung des Asylrechts“ in woxx 1534). Die EU-Kommission behauptet zwar, sie sei auch um bessere Bedingungen in den libyschen Lagern bemüht und arbeite hierfür mit humanitären Hilfsorganisationen zusammen. Vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) sowie von „Ärzte ohne Grenzen“ wird dies jedoch bestritten. Ein vorläufiger Bericht des EU-Menschenrechtsrats vom März zeigt: die Bedingungen für Flüchtlinge in Libyen sind unverändert katastrophal. Es kommt zu Mord, Folter und Vergewaltigung, Menschen verschwinden spurlos. Zudem wird über eine Reihe von Geheimgefängnissen berichtet; diese werden ebenfalls von verschiedenen bewaffneten Milizen kontrolliert, darunter auch eine Reihe von Gefängnissen, die gegenüber EU und UN für geschlossen erklärt wurden, aber heimlich weiterbetrieben werden.

„Jahr für Jahr rechtfertigt die EU, was nicht zu rechtfertigen ist“ sagt Inma Vazquez von „Ärzte ohne Grenzen“ hierzu und bringt die Situation auf den Punkt: Entweder die EU-Kommission versuche weiterhin, Europa vor Flüchtlingen abzuschotten, oder sie halte sich endlich an geltendes Recht – beides zusammen sei nicht realisierbar. Theoretisch mag man in Brüssel weiterhin etwas anderes beteuern, doch praktisch hat man sich längst für eine der beiden Alternativen entschieden.


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