Die Luxemburger des RPB 101 und der Holocaust – Querschnitt einer Forschungsdebatte

Mitglieder des Reserve-Polizeibataillons 101 in Polen – darunter X und 
weitere Luxemburger. (© Coll. MnR/ Coll. Privée)

1992 veröffentlichte der Historiker Christopher Browning seine Studie „Ordinary Men: Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland“(1). Browning stützte seine Recherchen auf die Akten von zwei Hamburger Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitglieder des besagten Bataillons und versuchte anhand von 125 Vernehmungsprotokollen, die zwischen 1962 und 1967 erstellt wurden, darzulegen, dass selbst ganz normale Männer, unter bestimmten Bedingungen, zu Massenmördern werden können. Das Bataillon war an Exekutionen von 38.000 Juden sowie an der Deportation von 45.000 Juden beteiligt gewesen. Auch 14 Luxemburger der früheren Freiwilligenkompanie waren Bestandteil dieses Bataillons.

„Ganz normale Männer“

Infolge der Veröffentlichung des Buches „Hitler’s Willing Executioners“ (1996) von Daniel Goldhagen (2) – in dem er bei den Deutschen einen tief verwurzelten „eliminatorischen Antisemitismus“ diagnostiziert – brach ein Historikerstreit aus. Browning versuchte, Goldhagens These anhand des Beispiels der Luxemburger zu widerlegen. Auch in Luxemburg schlug das Thema hohe Wellen und wurde für kurze Zeit in der Presse heiß diskutiert. Am 8./9. Juni 1996 veröffentlichte der Historiker Lucien Blau (3) im Tageblatt den Artikel „Ein Beispiel unbewältigter Geschichte“. In diesem resümierte er nochmals die Problematik und analysierte mittels der Browning’schen Studie die 1986 publizierten Zeitzeugenaussagen ehemaliger Mitglieder des Reserve-Polizeibataillons 101 (Roger Wietor und Jean Heinen). Der Artikel veranlasste Jean Heinen (4) wiederum zu einer vierteiligen Stellungnahme im Luxemburger Wort.

Erste historische Recherchen

Das Justizministerium bat um Aufklärung und beauftragte seinerseits den Historiker Paul Dostert mit Recherchen bei der Staatsanwaltschaft in Hamburg. Seine Ergebnisse wurden 2000 in der Geschichtszeitschrift Hémecht veröffentlicht. Dostert kam zum Schluss, dass an den Morden „zweifellos auch die Luxemburger (in)direkt beteiligt [gewesen] waren.“(5) Nach dem Krieg hätte „der Verdrängungsprozess die Vermischung mit den Kämpfen gegen Partisanen [im Gedächtnis] beschleunigt [so dass] der Einsatz des Bataillons und zu guter Letzt auch die Kriegsgefangenschaft in Russland die Erinnerung an die Judenmorde überlagert[e]. Als [die Mitglieder des RPB 101] nach Luxemburg zurückkamen, wurden sie nicht über ihre Einsätze in Polen befragt, ein Umstand, der es erleichterte, die „Opferrolle“ und den Widerstand hervor zu streichen.“ (6)

Frage nach Mitschuld

Etwa die gleiche Ansicht vertrat auch Mil Lorang in seinem 2017 im Tageblatt erschienenen Artikel „Vor 77 Jahren: Die Luxemburger Armee verlässt Luxemburg … Wie Luxemburger Soldaten in Osteuropa zu Teilnehmern am Judenmord wurden“ (7). 2019 erweiterte Lorang seinen Beitrag im Rahmen der Veröffentlichung seines Buches „Luxemburg im Schatten der Shoah“ (8) um Auszüge aus den bisher unveröffentlichten Memoiren eines Luxemburger Ordnungspolizisten des RPB 101, die neue Details zu „Judenaktionen“ (Judenjagden und Deportationen) lieferten. Sie sind komplementär zu den von Lorang bereits 2017 veröffentlichten Auszügen eines bisher unveröffentlichten achtstündigen Interviews von Victor Weitzel mit Jean Heinen im Jahr 1996.
2018 veröffentlichte Marc Trossen (9) im vierten Band von „Verluere Joëren“ den Artikel „Ein Luxemburger im Polizei-Bataillon 101“. Darin kommt er infolge eines Quervergleichs sämtlicher bisheriger Ergebnisse und Aussagen (Browning, Dostert und Heinen) zum Schluss, dass „eine Beteiligung der Luxemburger an der Erschießung von Juden nicht bewiesen ist und auch unwahrscheinlich scheint“. (10) 
Ein Jahr später, 2019, entdeckte das Escher Resistenzmuseum den, in diesem Artikel analysierten, Nachweis für die Beteiligung eines Luxemburgers an sogenannten „Judenjagden“ im Distrikt Lublin (Polen). Aus Respekt vor den Angehörigen dieses Polizisten werden in diesem Artikel keine Namen genannt (11).

Siehe auch Neuer Nachweis für Beteiligung am Holocaust: Luxemburger im Reserve-Polizeibataillon 101.

1 Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Hamburg, S. 88.
2 Goldhagen, Daniel Jonah, Hiltlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin, 1996.
3 Blau, Lucien, Ein Beispiel unbewältigter Geschichte. Die Luxemburger im Reserve-Polizeibataillon 101, in: Tageblatt 132
(8-9. Juni 1996), S. 16-17.
4 Heinen, Jean, Die Luxemburger im Reserve-Polizeibataillon 101 (1-4), in: Luxemburger Wort 178 (3-4. August 1996), S. 15; Luxemburger Wort 181 (7. August 1996), S. 21; Luxemburger Wort 184 (10-11. August 1996), S. 14; Luxemburger Wort 187 (14. August 1996), S. 19.
5 Dostert, Paul, Die Luxemburger im Reserve-Polizei-Bataillon 101 und der Judenmord in Polen, in: Hémecht, 52/1 (2000), S. 81-99, bes. S. 97.
6 Dostert, Die Luxemburger im Reserve-Polizei-Bataillon 101, S. 98.
7 Lorang, Mil, Vor 77 Jahren: Die Luxemburger Armee verlässt Luxemburg … Wie Luxemburger Soldaten in Osteuropa zu Teilnehmern am Judenmord wurden, in: Tageblatt 280 (1.12.2017), S. 4-7.
8 Lorang, Mil, Luxemburg im Schatten der Shoah, Esch/Alzette 2019.
9 Trossen, Marc, „Verluere Joëren“ Luxembuger Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges berichten, Luxemburg, 2018.
10 Trossen, „Verluere Joëren“ , S. 893.
11 Den Historikern Paul Dostert, Vincent Artuso und Benoît Niederkorn sowie der Studentin Véronique Bastian sei herzlichst für Ihre Ratschläge und Korrekturen gedankt.

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