Digitale Kunst: Du spielst, was Du bist

Die Künstlerin Danielle Brathwaite-Shirley fügt Gender und Kolonialgeschichte in Spielwelten ein, die von der Identität ihrer Besucher*innen bestimmt werden.

In dem künstlerischen Videospiel „Pirating Blackness“ konfrontiert Danielle Brathwaite-Shirley ihr Publikum mit Kolonialgeschichte. (Copyright: Screenshot/Danille Brathwaite-Shirley)

„What’s revealed to your gaze will depend on how you identify“, heißt es im Anmeldebüro der City of Dreams, die in dichtem, gelbem Nebel versinkt. Zwar fällt die Aussage in Danielle Brathwaite-Shirleys interaktivem Kunstwerk „I CANT REMEMBER A TIME I DIDNT NEED YOU“ (2020), doch sie ist charakteristisch für alle ihre Arbeiten, die derzeit im Internet zu finden sind: Es sind Videospiele, deren Verlauf von Gender und Ethnie ihrer Spieler*innen abhängt. Konkret geht es um die Gräuel des Kolonialismus, die Unterdrückung Schwarzer Menschen, insbesondere Schwarzer trans Personen, sowie um Privilegien.

Die Künstlerin beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit der Archivierung, genauer genommen mit der Frage, was und wer in Archiven fehlt. Sie rückt dabei Schwarze trans Menschen in den Vordergrund. „Through history Black queer and trans people have been erased from the archives“, sagt sie in einem Video zu ihrer aktuellen Ausstellung „Haunting Alongside Our Shadows“ im britischen Kulturzentrum QUAD. „Because of this, it is necessary not only to archive our existence, but also the many creative narratives we have used and continue to use to share our experiences.“

Die Welten, in die Brathwaite-Shirley ihre Betrachter*innen entführt, sind vereinnahmend, teilweise beängstigend. Die Bildsprache und die Geräuschkulisse sind in „I CANT REMEMBER A TIME I DIDNT NEED YOU“ und in „Pirating Blackness“ (2021) verstörend und reizvoll zugleich: Es gibt verzerrte Pixel, schattenhafte Figuren, starke Farbkontraste, entfernte Schreie, Gesänge der „Black Lives Matter“-Proteste, krächzende Stimmen und einen heulenden Wind, die die Betrachter*innen magisch anziehen. Die Dialoge zwischen den Figuren und den Spieler*innen sind brutal, ehrlich, tragisch.

Existenzielle Fragen zu 
Gender und Ethnie

In „I CANT REMEMBER A TIME I DIDNT NEED YOU“ konzentriert Brathwaite-Shirley sich auf Gender, primär aus der Perspektive einer Schwarzen trans Person. Jeder Ort, den die Besucher*innen der Traumstadt ansteuern, verlangt die Angabe ihrer Genderidentität. Nur Anrufe bei einer Mutter, dem oder der Partner*in, Freund*in oder einem Kind sind ohne dies möglich. Das, was die einem mitteilen, ist kryptisch. So sagt die Mutter: „I’ve just become a mother. (…) You need to know from us that you deserve more than what you’ve got.” Ruft man das Kind an, ertönt ein Herzschlag. Was die Besucher*innen mit den Telefongesprächen anfangen, hängt von der eigenen Lebensgeschichte ab.

Wer tiefer in das Spiel eintauchen will, kommt nach dem Abstecher in die Telefonzelle nicht um einen Besuch des Anmeldebüros herum. Dort haben die Spieler*innen die Wahl zwischen trans, nicht-binär, gender fluid, „nothing“, cis-Mann oder cis-Frau. An die Frage nach dem Gender schließt die nach der Hautfarbe an – „are you black?“. Brathwaite-Shirley warnt: „If you are not Black and trans, this fog may have unwanted side effects.“ Was für Nebeneffekte, erfahren die Betroffenen, indem sie die unterschiedlichen Schauplätze, die nach der Anmeldung freigeschaltet sind, entdecken.

Für diesen Artikel haben zwei weiße cis-Personen und ein weißer trans Mann die „City of Dreams“ besucht. Die cis-Personen wurden beide mit der Frage nach ihren Privilegien konfrontiert. Es sind Momente wie dieser, in denen aus dem Spiel Ernst und wichtige Selbstreflexion wird: Die Besucher*innen müssen über ihre eigenen Vorteile nachdenken und sie benennen. Das verlangt selbst Menschen, die sich ihrer Privilegien bewusst sind, etwas ab. Vor allem dann, wenn Brathwaite-Shirley kein Erbarmen für ihre Handlungen zeigt. Der trans Mann fühlte sich in der Stadtapotheke hingegen an eigene Erfahrungen erinnert: Dort traf er auf Dr. Curiosity, einen transfeindlichen Arzt.

Die Tatsache, dass Brathwaite-Shirley mehrere Erzählstränge ermöglicht, erschwert es – wenn man die Fragen in den Spielen ehrlich beantwortet – alle Spielvarianten zu diskutieren. Dasselbe trifft auf „Pirating Blackness“ zu. Dort beginnt die Erzählung mit einer Figur, deren Computer gehackt wurde. Seitdem befindet sich darauf eine Datei namens „set sail“. Die Einstiegsfrage zielt hier mehr auf die ethnische Herkunft als auf Gender ab – sind die eigenen Vorfahren Kolonialist*innen oder deren Opfer? Die Geschichten spielen auf einem Schiff, das soeben eine Insel verlässt. Wer angibt, Nachfahre der Kolonialmächte zu sein, kann unter anderem einen Blick in die eigene Vergangenheit werfen: Brathwaite-Shirley erzählt von der Machtübernahme und der Abwertung der Ureinwohner*innen durch die Kolonialist*innen. Ein mögliches Ende ist, dass das Schiff kentert. „It is a work that examines an alternative past where the ocean itself did not support the journey towards colonisation made across its surface“, fasst das QUAD das vielseitige Werk zusammen.

Das ist ein Gedanke, der nachwirkt, wie Danielle Brathwaite-Shirleys Schaffen im Allgemeinen. Die Künstlerin stellt dringliche Fragen nach Identität, Sichtbarkeit und Geschichtsschreibung. Sie ist gnadenlos, wenn es um die eigene Verantwortung geht, und gibt niemandem die Freiheit, seinen persönlichen Handlungsspielraum zu negieren. Ein Fußtritt, der wachrüttelt.

„I CANT REMEMBER A TIME I DIDNT NEED YOU“ auf blacktransair.com und „Pirating Blackness“ auf blacktranssea.com

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