Ernährungssouveränität
: Zweckentfremdeter Rat

Ein demokratisches Gremium, das über Ernährungsfragen berät und Brücken zwischen zerstrittenen Lagern im Agrarsektor baut – das ist die Idee eines Ernährungsrates. Doch im Landwirtschaftsministerium hat man andere Pläne, was für Zwist in der Regierung sorgt.

Mit Großherzog im Schlepptau klappt der Dialog – 
eine wahrhaft demokratische Form des Ernährungs-
rates will Landwirtschaftsminister Romain Schneider jedoch lieber nicht umsetzen. (Foto: SIP/Jean-Christophe Verhaegen)

Wie die Luxemburger Landwirtschaft in Zukunft aussehen soll, ist eins der umstrittensten Themen. Während Umweltschützer*innen mehr Maßnahmen für Naturschutz und Biolandwirtschaft fordern, wünschen sich konventionelle Landwirt*innen mehr Freiheit und ein Auskommen, ohne viel an ihren tradierten Bewirtschaftungsformen ändern zu müssen. Eine Idee, wie diese gegensätzlichen Lager an einen Tisch gebracht werden könnten, wird offenbar vom Landwirtschaftsministerium torpediert.

Das Centre for Ecological Learning Luxembourg (Cell) schrieb am 29. Juli eine entsetzte Pressemitteilung. Das Projekt eines Ernährungsrates, das man anfangs gemeinsam mit dem Landwirtschaftsministerium und der Uni.lu entwickelt hatte, soll nun „zweckentfremdet“ umgesetzt werden. Bereits am Tag danach sollte das Gesetzesprojekt im Regierungsrat besprochen werden.

Im Bericht des Regierungsrates von letztem Freitag ist nichts von einem Ernährungsrat zu lesen. „Vermutlich hat ein anderes Ministerium das Projekt blockiert“, mutmaßt Norry Schneider. Der Koordinator von Cell erklärte der woxx am Telefon, wie das Projekt entstanden ist. „2018 war Ernährung das Thema unserer Transition Days, da ging es in vielen Vorträgen und Workshops um das Recht auf Nahrung und Demokratisierung. Wir haben dort auch Beispiele von Ernährungsräten aus Deutschland gehört.“ Anfangs habe man mit dem Umweltministerium zusammengearbeitet, die Schaffung eines Ernährungsrates steht auch im Koalitionsprogramm.

Nicht ohne Dialog möglich

„Luxemburg wäre das erste Land der Welt, das einen nationalen Ernährungsrat hätte. Aber das, was jetzt kommen soll, ist das Gegenteil von dem, was wir uns vorgestellt haben. Die Politik sollte ein gleichberechtigter Partner im Rat sein, nicht die Spitze einer Pyramide“, so Schneider weiter. Das Cell bemängelt, dass das Projekt des Landwirtschaftsministeriums nicht mit den Prinzipien eines Ernährungsrates vereinbar sei. Der systemische Blick und der Bezug zum Klima würden fehlen. Und vor allem sei nicht geplant, alle Akteur*innen miteinzubeziehen.

Das widerspricht jedoch dem Konzept der Ernährungsräte. Die sind nämlich „eine dialogische demokratische Struktur, die repräsentative demokratische Strukturen ergänzt, insbesondere gewählte Politiker*innen im Dienste des Gemeinwohls für Ernährungsfragen. Es sind speziell eingerichtete Gremien, die verschiedene Interessengruppen des lokalen Ernährungssystems zusammenbringen, um gemeinsam eine Bestandsaufnahme zu erstellen und anschließend eine umfassende Strategie mit konkreten Leitlinien und Maßnahmen zur Transition des Ernährungssystems zu entwickeln und umzusetzen“, wie Rachel Reckinger, Ernährungsoziologin und Kulturanthropologin an der Universität Luxemburg, der woxx via E-Mail erklärt.

Wenn ein solcher Rat mehr als nur Greenwashing sein soll, müssten alle Akteur*innen gleichberechtigt im Dialog miteinander stehen und Ressourcenasymmetrien anerkennen. „Eine solche Struktur hat wenig gemein mit einem Schein-Multi-Stakeholder-Ansatz, bei dem die Teilnehmenden nur eine beratende Funktion haben. Vielmehr werden hier die Positionen von Minderheiten (oder weniger mächtigen Akteuren) gleichberechtigt einbezogen, um langfristig die Entstehung einer Lebensmittelethik auf System-
ebene zu erleichtern“, so Reckinger weiter.

Die Forscherin betont auch, wie wichtig es ist, dass ein Ernährungsrat autonom ist, Projekte initiieren und öffentlich eine kritische Haltung zugunsten der Ernährungssouveränität einnehmen kann. Unter diesem Begriff wird das Recht verstanden, demokratisch die eigenen Agrar- und Ernährungspolitiken zu bestimmen. Die Teilnahme von Regierungsvertreter*innen kann nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren: „Es muss sichergestellt sein, dass diese zur Gestaltung einer ganzheitlichen Vision eines nachhaltigen Ernährungssystems beitragen, und demnach aus den landwirtschaftlichen, ökologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen kommen. Idealerweise werden sie durch die Bereiche der Internationalen Zusammenarbeit, der Bildung und der Gesundheit ergänzt. Gerade in institutionalisierten Entstehungsprozessen muss von Anfang an eine Zusammenarbeit aller Beteiligten erfolgen, um sicherzustellen, dass der Prozess nicht von Partikularinteressen unterlaufen wird, und dass eine gemeinschaftliche Governance-Kultur fundamental verankert wird. Dazu ist die Einladung einer fairen Auswahl von Akteuren des gesamten Ernährungssystems und die Einbindung von Bürger*innen unabdingbar.“

Kein gemeinsames Lernen

Ein Ernährungsrat soll sich im Idealfall nicht auf einzelne Teilbereiche fokussieren, sondern alle relevanten Politikbereiche im Auge haben – und auch beeinflussen können, damit Ernährungspolitik kohärenter wird. Weiter erklärt Reckinger: „Ernährungsräte sind innovative und wirksame Instrumente, da sie staatliches Handeln mit Marktinitiativen sowie Innovationen aus Zivilgesellschaft und Forschung verbinden. Keines dieser großen Handlungsfelder kann einzeln die erforderliche Transformation des Ernährungssystems herbeiführen, denn diese verlangt enge Kooperation, Koordination, sowie Gerechtigkeit. Die erforderliche Vermittlungsarbeit, grundlegende Neuausrichtung und langfristige Vision können nur Ernährungsräte leisten. Sie beschleunigen gemeinsames Lernen und führen zur parallelen Entstehung vieler kleiner Initiativen mit soziokulturellem, ökologischem und wirtschaftlichem Vorbildcharakter. “

Gemeinsames Lernen scheint dem Landwirtschaftsministerium allerdings nicht so zu liegen. „Man hat sich so lange mit uns getroffen, wie man unsere Vorarbeit gebraucht hat“, erzählt Schneider. 2020 habe es noch zwei Treffen gegeben: Im Juli wurde Cell und Uni ein fertiger Text vorgestellt, indem bereits eine „pyramidale Form“ des Ernährungsrates vorgesehen war. Nachdem beide Akteure sich die Mühe gemacht hatten, den Text zu kommentieren, war der letzte Kontakt im Oktober 2020. „Ich hatte das Gefühl, das war ein pro-forma-Treffen, wir wurden nicht wirklich ernst genommen“, so der Umweltaktivist. Ein Ernährungsrat könne nicht einfach so von oben herab diktiert werden, der Entstehungsprozess sei „ein Teil des Resultates“. Im Idealfall solle eine Pilotgruppe diesen Prozess koordinieren und sich dann auflösen, wenn der Rat seine Arbeit aufnimmt.

Konflikt in der Koalition

Im Landwirtschaftsministerium schweigt man zu dem Thema. Obwohl die Vorwürfe, die das Cell erhebt, doch gravierend sind, wird der Fragenkatalog der woxx mit zwei Sätzen abgeschmettert: „Danke für Ihre Anfrage, allerdings kommunizieren wir, so wie das immer gemacht wird, erst über das Projekt, wenn es im Regierungsrat angenommen wurde. Sobald das der Fall ist, werden wir der Presse das Projekt auch im Detail vorstellen“, hieß es aus dem Landwirtschaftsministerium. Bis das Projekt im Regierungsrat besprochen werden könne, dauere es sicher noch bis September, so die Auskunft auf eine weitere Nachfrage. Den vorläufigen Gesetzestext wollte man uns nicht zeigen.

(Foto: CC-BY Donald Lee Pardue)

Beim Umweltministerium erfahren wir mehr. Am Telefon erklärt uns ein Sprecher, dass das Gesetzesprojekt zum Ernährungsrat durchaus auf der Tagesordnung des Regierungsrates vom 30. Juli gestanden habe. Das Projekt sei allerdings nicht blockiert worden, sondern man habe sich darauf verständigt, es nicht abzustimmen und nachzubessern. „Es gab keine Einigung, aber wir werden gemeinsam weiter daran arbeiten. Alle haben ein Interesse daran, sich einig zu werden, und das werden wir auch!“, so der Beamte des Umweltministeriums.

Die blau-rot-grüne Koalition schafft es meistens, dass interne Konflikte nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Dass das ausgerechnet bei einem eher „kleinen“ Projekt passiert, mag verwundern, auch weil Minister*innen von Déi Gréng bisher nicht unbedingt durch echte Partizipationsmöglichkeiten geglänzt haben. Allerdings sind die Gräben, die Landwirtschaft und Umweltschutz voneinander trennen wohl so groß, dass ein Instrument wie der Ernährungsrat mehr als angebracht wäre.

 


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