Essstörungen: „Iess dach mol eng Pizza“

Vergangene Woche hatte die Erwuessebildung zu einem Rundtischgespräch über Essstörungen eingeladen. Obwohl Bulimie und Binge-Eating im Verhältnis zur Anorexie viel zu kurz kamen, so verdeutlichte die Veranstaltung doch, auf welches Hilfsangebot Betroffene und ihr nahes Umfeld zählen können – und woran es fehlt.

Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält Erfahrungsberichte von Menschen mit Anorexie und Bulimie.

Für Menschen mit einer Essstörung dreht sich ständig alles ums Essen – unabhängig davon, ob sie dieses zu sich nehmen oder nicht. (Photo by Paulina Lohunko on StockSnap)

„Mir huet dat Angscht gemaach, wann een zu mir sot ‚Iess dach mol eng Pizza‘. A Pizza ass bis haut nach traumatiséirend, well et ëmmer just ëm déi blöd Pizza gaangen ass. Et war d’Pizza, déi sollt weisen, dass ech rëm gesond sinn. Dat si sou déi Stereotypen: Hatt muss dat Gewiicht hunn, dee BMI, an da muss hatt och nach Pizza an der Ëffentlechkeet iessen, dann ass nees alles gutt. Mee et ass eben net sou einfach.“

Diejenigen, die am vergangenen Donnerstag den Weg in die Erwuesse
bildung gefunden hatten und nicht um die Vielschichtigkeit der Problematik von Essstörungen wussten, waren, so zumindest der Eindruck, eindeutig in der Unterzahl. Im Laufe des rund 90-minütigen Rundtischgesprächs meldeten sich immer wieder Betroffene und Angehörige von Betroffenen zu Wort, um von ihren Erfahrungen zu berichten und der gegenüber sitzenden Expert*innengruppe Fragen zu stellen.

Expert*innen waren diese entweder ihres Berufs wegen – so etwa die auf Essstörungen spezialisierte Psychotherapeutin Claudia de Boer und die Ernährungsberaterin Céline Genson – oder aber aus persönlichen Gründen: Steve Goerend litt viele Jahre unter Binge-Eating; bei Gaby Schleich wiederum ist Mutter einer Betroffenen, wobei es sich bei Letzterer um niemand anderen als die Moderatorin des Abends, Nora Schleich, handelte.

Von dieser stammt auch das erwähnte Zitat. Den ganzen Abend über jonglierte Schleich ihre beiden Aufgaben – moderieren und von ihren Erfahrungen erzählen –, wobei unklar blieb, weshalb erstere Aufgabe nicht einer neutraleren Person anvertraut wurde. Immerhin hätte dies Schleich von der heiklen Aufgabe befreit, selbst zu entscheiden, wann sie als Betroffene das Wort ergreift.

Zu sagen hatten die Anwesenden auf jeden Fall sehr viel. Zunächst versuchten Genson und de Boer, das Thema theoretisch zu umreißen; sie gaben zudem Einblicke in ihre Arbeitspraxis. Goerend kam im Laufe des Abends nur sehr wenig zu Wort. Meist antwortete er nur, wenn er direkt etwas gefragt wurde, was nicht oft der Fall war. Generell stand bei der Veranstaltung vor allem Anorexie im Vordergrund, Bulimie und Binge-Eating kamen nur am Rande vor – ein Ungleichgewicht, das sich durch eine neutralere Moderation möglicherweise hätte verhindern lassen können.

Diejenigen im Publikum – zumindest die, die sich zu Wort meldeten – hatten mehrheitlich Erfahrung mit Anorexie. Bei ihrer Tochter, berichtete die Mutter einer Betroffenen, habe alles damit angefangen, dass sie in der Schule mit der – wissenschaftlich übrigens umstrittenen – Ernährungspyramide der Deutschen Gesellschaft für Ernährung vertraut gemacht worden sei. „Menger Duechter ass vermëttelt ginn, wouvun een op kee Fall zevill iesse soll an ab deem Moment wollt hatt iwwerdriwwe gesond liewen. Du war alles op eng Kéier net méi gutt.“ Sie, die Mutter, habe damals in der Schule angeregt, dass es nicht ausreiche, den Kindern zu vermitteln, was gesund sei. Man müsse etwa auch auf die Wichtigkeit von Kohlenhydraten verweisen. Dass die Mutter ausgerechnet Kohlenhydrate als Beispiel nannte, kam nicht von ungefähr: Ihre Tochter weigert sich Brot zu essen, nur zu einem Teller Nudeln könne die Mutter sie ab und zu überreden. „Wann an der Schoul iwwer Ernährung geschwat gëtt, misst onbedéngt och an engems iwwer d’Folge vun engem iwwerdriwwene Gesondheetswahn geschwat ginn.“ Sie sprach zudem das Konkurrenzdenken an, das sowohl von der Schule als auch von den Medien vermittelt werde. „Den Drock op eis Kanner ass enorm“, so ihre Einschätzung. Ihre dreizehnjährige Tochter habe täglich mit dem Gefühl zu kämpfen, nicht gut genug zu sein.

Zunehmendes Bewusstsein

Dass an Luxemburger Schulen durchaus auch ein Bewusstsein für die Problematik besteht, wurde an der Intervention eines Schulpsychologen deutlich. Von den Gastredner*innen wollte er wissen, ob er Jugendliche, die zu ihm in die Praxis kommen, darauf ansprechen solle, wenn diese entweder besonders dünn oder besonders dick seien. „Soll ech riicht eraus froen: Hues du eng Iessstéierung? Geet et dir gutt?“ Claudia de Boer bekräftigte ihn darin, warnte jedoch davor, mit der Tür ins Haus zu fallen: „Dat musst Dir sensibel maachen“. Dem*der betroffenen Jugendlichen sei oft alleine schon dadurch geholfen, dass man sich als Ansprechperson anbiete. Wenn dann irgendwann Redebedarf bestehe, wisse das Kind sogleich, an wen es sich wenden könne. „Wéi et bei mir ganz schlëmm war, war ech op der Uni“, berichtete Nora Schleich. „An do hunn d’Proffe mech och alt mol gefrot, ob alles ok wier“. Auch wenn sie die Fragen stets bejahte, so habe es ihr dennoch gutgetan, zu merken, dass Menschen sich um sie sorgen.

Für eine andere Mutter einer Betroffenen ist die Lage zwar nicht mehr akut, die Krankheit ihrer Tochter macht ihr aber immer noch zu schaffen. Damals habe diese sehr schnell sehr viel abgenommen, sie habe über chronisch kalte Füße geklagt, ihre Menstruation sei ausgeblieben, die Haare seien ihr ausgefallen. „Et ass jo schéin, dass hautzedaags an der Schoul driwwer geschwat gëtt, bei eis huet et sech awer immens laang gezunn, bis irgendeen eis weiderhëllefe konnt.“ Dann müsse sie wohl magersüchtig sein, habe der Hausarzt lapidar geschlussfolgert, nachdem keine andere Ursache gefunden werden konnte.

Gaby Stein machte eine ähnliche Erfahrung. Sie selbst habe die Ärzt*innen fragen müssen, ob das, woran ihre Tochter litt, Anorexie sein könne. Von sich aus, sei niemand drauf gekommen. „Dat waren einfach net déi richteg Leit. Ech wosst net, wat ech sollt maachen. Ech hunn dunn alt Bicher driwwer gelies“. Ihrer Meinung nach sei es das Beste, gleich eine*n Therapeut*in aufzusuchen, statt des*der Hausärzt*in. Da stelle sich aber das Problem mit den Wartezeiten. „Dann ass een endlech dofir bereed an dann heescht et, den nächste Rendez-vous wier réischt an dräi Méint méiglech.“

Céline Genson wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass am ersten Februar die Teil-Rückerstattung von Psychotherapien in Kraft getreten sei. „Ee groussen Duerchbroch.“ Sie hoffe, dass dies bald auch für Ernährungsberater*innen bei Essstörungen eingeführt werde. „Déi grondsätzlech Problematik awer ass, dass mer ze wéineg Psychotherapeuten hunn“, fügte de Boer ergänzend hinzu. Gleichzeitig gebe es aber immer mehr Hausärzt*innen, die in der Lage seien, Essstörungen schnell zu erkennen, und mit ihr als Therapeutin gut zusammenarbeiteten. „Dat war virun zwanzeg Joer definitiv nach e bëssen anescht. Besserung ass do.“

Die Rolle des nahen Umfelds

Eine betroffene Mutter sprach über die Isolation, in die sie und ihre Familie durch die Anorexie der Tochter hineingerutscht seien. „Mir kënnen net méi an e Restaurant goen a mäi Meedchen geet och net an d’Kantin.“ Sie, die Mutter, zögere zudem, Menschen nach Hause einzuladen. Wer nicht wisse, wie die Tochter ticke, habe schnell etwas Falsches gesagt. Eine Aussage wie „du hues awer gutt giess“ gehe zum Beispiel gar nicht. „Ech wëll mäi Kand natierlech schützen, ech wëll awer och net, dass et sech vun der Gesellschaft isoléiert. Ech probéiere ganz vill Gedold ze hunn, mee heinsdo sinn ech och um Enn.“ Es sei für sie klar, dass ihre Tochter Hilfe brauche, doch auch sie als Mutter benötige Hilfe. „Wéi kann ech mengem Kand hëllefen, ouni et ze drängen? Kachen ech a soen ‚Du ëss, wat op den Dësch kënnt‘ oder ginn ech senge Wënsch no? Wéini wäert déi Normalitéit antrieden, wou mir och mol eng Kéier spontan an de Restaurant goe kënnen?“ De Boer riet daraufhin, als Eltern auch mal an Therapiesitzungen des Kindes teilzunehmen und gemeinsam über solche Dinge zu reden. „Menger Meenung no ass et dat Bescht, wann déi Saachen ausgehandelt ginn.“ Sie rate zudem dazu, auch als Eltern eines*einer Betroffenen in Therapie zu gehen.

Als eine der einzigen ehemaligen Betroffenen im Raum konnte Nora Schleich in solchen Momenten aus dieser Perspektive den Effekt von gemeinsam ausgehandelten Essplänen beschreiben. „Dann hat ee sech op 100 Gramm Boune gëeenegt an dann ass et drëm gaang déi z’iessen. Dat kann ee sech net virstellen, dat war e mega Kompromiss mat mir selwer, déi och wierklech z’iessen a mech net häerno ze gäisselen, well ech déi giess hunn. Et ass eng onvierstellbar Corvée géint sech ze goen, géint dat, wat ee beherrscht.“

Sie schlug in dem Moment einen Bogen zur oben erwähnten Aussage bezüglich des Drucks, der auf Jugendlichen lastet. Essstörungen entwickelten sich zum Teil, weil die betroffene Person das Gefühl habe, nicht gut genug zu sein. Wenn ihre Eltern, Therapeut*innen oder Ernährungsberater*innen versuchten, ihr wieder eine normale Ernährungsweise anzutrainieren, sei aber auch das wieder nichts anderes, als dem*der Betroffenen zu sagen, dass er*sie nicht gut genug sei. „Do kënnt een an en Däiwelskrees. Et ass immens delikat an et gëtt keng allgemenggülteg Léisung. D’Autonomie vum Betraffenen dierf genausou wéineg vergiess ginn, wéi déi vu senge Familljememberen“, gab Schleich zu denken.

Mangelnde Austauschmöglichkeiten

Was ihr damals geholfen habe, ihre Bulimie zu überwinden, so eine andere ehemals Betroffene, sei eine zweimonatige stationäre Behandlung in einer Ernährungsklinik in Deutschland gewesen. „Am Géigesaz zu deenen anere Patiente war ech weder ganz déck nach ganz dënn, an hat dowéinst am Ufank Schwieregkeeten, meng Plaz ze fannen.“ Den Aufenthalt habe sie letztlich aber als Rettung vor ihrem Alltag empfunden. Auch der Austausch mit anderen Betroffenen habe ihr gutgetan: „Ze héieren, wéi anerer Wierder benotze fir eppes, wat ech empfond hunn, wat ech mengem Kierper ugedoen hunn, huet et och fir mech selwer manner zu engem Tabu gemaach.“ Ob es auch in Luxemburg ein solches Angebot zum Austausch von Betroffenen gebe, wollte die Frau abschließend von den Gastredner*innen wissen.

Eine andere Zuhörerin berichtete aus eigener Erfahrung, wie schwer es sei, nach einem stationären Aufenthalt wieder nach Hause zu kommen. Selbst wenn der Körper wieder gesund sei und die Essstörung nicht mehr ausgelebt werde, so bestehe die Krankheit im Kopf nach wie vor fort. Für Menschen, die ihre Therapie erfolgreich abgeschlossen hätten, bestehe ihrer Ansicht nach in Luxemburg aber kein ausreichendes Angebot.

„Ech sinn total averstanen an huelen d’Iddi sécherlech mat.“ Worauf Genson mit dieser Aussage anspielte, war ein Dokument, auf welches im Laufe des Abends immer wieder verwiesen wurde und das unter der Initiative von ihr selbst sowie Claudia de Boer entstanden ist: Eine Übersicht mit Anlaufstellen für Betroffene von Essstörungen und ihr nahes Umfeld. In der Liste finden sich neben nationalen und internationalen Institutionen auch die Kontaktdaten spezialisierter, in Luxemburg praktizierender Psychotherapeut*innen und Ernährungsberater*innen. Komplett ist die Liste noch nicht, wer den aktuellen Stand einsehen möchte, kann eine entsprechende Anfrage an Genson richten.

Im Rahmen der Veranstaltung räumte die Ernährungsberaterin allerdings ein, dass es zurzeit noch an einem nationalen Angebot an Gesprächskreisen mangele. Abgesehen von demjenigen, der von der Erwuessebildung organisiert werde, sei ihr keiner bekannt. Der nächste Termin ist am 18. Februar in den Räumlichkeiten der Erwuessebildung. „Et ass keng Therapie an et ass net vu Professionellen encadréiert“, stellte Nora Schleich am Donnerstag klar, damit niemand mit falschen Erwartungen dahin komme.

Im Laufe des Abends wurde das Thema Anorexie von vielen Seiten beleuchtet. Dass andere Essstörungen nur marginal erwähnt wurden, war vor allem deshalb bedauernswert, weil die unterschiedlichen Ursachen, Auswirkungen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die jeweiligen Krankheiten dadurch ebenfalls zu kurz kamen.

Die Veranstaltung schien ein Spiegelbild der großen Aufmerksamkeit zu sein, die Anorexie generell im Verhältnis zu anderen Essstörungen zuteil wird. Möglicherweise hatten sich die Veranstalter*innen für dieses eine Rundtischgespräch auch einfach zu viel vorgenommen. Das Ziel, einen Überblick über das bestehende und noch fehlende Angebot zu erhalten, wurde aber auf jeden Fall erreicht.

Das Video der Veranstaltung kann auf 
www.ewb.lu und auf Youtube gestreamt werden.

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