Gewalt: Hand aufs Herz

Das Gespräch über geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt erregt die Gemüter. Es ist ein Thema zwischen Fakten, Ehrlichkeit und festgefahrenen Denkmustern.

In der Diskussion um männliche Täterschaft, sollten auch Männer verstärkt Farbe bekennen und Fragen stellen. (Foto: Snapwire)

Mit entschuldigenden Gesten bahnt er sich mit einer Ledertasche unterm Arm und in farbigem Strickpullover einen Weg durch die Stuhlreihen, bis zu einem freien Sitzplatz bei der „table ronde“ der Gemeinde Sanem zu „Gewaltopfer, Gewalttäter: Ass Gewaltbereetschaft ofhängeg vu Geschlecht, Alter a sozialem Ëmfeld?“. Immer wieder nickt er Francis Spautz, Psychologe und Leiter der Beratungsstelle „infoMann“, zu. Der spricht über die Gewalt von Männern gegen Männer und andere. Darüber, dass die männliche Täterschaft unter anderem ein Produkt der gesellschaftlichen Struktur sei, die Männern oft ein von Konkurrenzdenken, Leistung und unterdrückten Gefühlen geprägtes Leben abverlange. Neben ihm sitzen Andrée Birnbaum von „Femmes en détresse“, Caroline Klein von „Pro Familia“ und Uli Engelmann von „Riicht eraus“.

Irgendwann schießt im Publikum ein Finger mit Goldring in die Höhe und verliert sich im abrupten Schweigen am Rednertisch der „table ronde“. Er gehört zum Mann im Strickpulli. Er steht auf, will etwas sagen – zuerst leise, dann laut. Der Übersetzerin wegen, die ihn sonst in der anderen Ecke des Raumes nicht hören kann, vielleicht aber auch um seiner selbst willen. „Das Problem ist, wir denken bei dem Thema in Klischees“, spricht er mit Nachdruck ins Mikrofon, „es gibt auch Männer, die ‚soft‘ sind und Frauen, die dominieren.“ Der Moderator, Psychologe Gilbert Pregno, nimmt ihm zustimmend das Mikrofon aus der Hand. Es ist eine Aussage, die eigentlich nur bestätigt, was Spautz zuvor herauszuarbeiten versuchte. Dieser hatte sich nur wenige Minuten zuvor klar für ein vielseitiges Männerbild ausgesprochen.

Immer wieder fällt das Gespräch an dem Abend zudem auf die häusliche Gewalt in Luxemburg zurück. Frauenhäuser, der Wohnungsverweis der Täter*innen, die sozioökonomische Situation der Opfer, Gewaltprävention – die Redner*innen diskutierten über vieles, aber eben auch über die männliche Täterschaft. Statistisch gesehen überwiegt sie in Fällen häuslicher Gewalt. Das sind keine haltlosen Vorurteile, die Erkenntnis beruht auf Zahlen.

2017 verzeichnete das „Comité de coopération entre les professionnels dans le domaine de la lutte contre la violence“ 715 polizeiliche Eingriffe wegen häuslicher Gewalt. Die Opfer waren zu rund 65 Prozent weiblich, zu 35 Prozent männlich. Am häufigsten kam es in heterosexuellen Ehen zu häuslicher Gewalt. Dabei wurden letztes Jahr 104 Männer und acht Frauen als Täter*innen erkannt; in den Fällen, bei denen die Polizei einen zweiwöchigen Wohnungsverweis aussprach. Der „Service d’assistance aux victimes de violence domestique“ (SAVVD) hält zudem fest, dass bei den rund 11 Prozent männlicher Opfer, die die Beratungsstelle 2017 beanspruchten, zwei Drittel vom gleichen Geschlecht angegriffen wurden. Die Dunkelziffer ist allgemein vermutlich deutlich höher. Spautz merkte im Gespräch mit der „woxx“ außerdem an, dass man davon ausgehen könne, dass weniger Männer als Opfer bei der Polizei vorstellig würden, als Frauen. Aus Scham, aus falschem Ehrgefühl, aus Angst vor Bloßstellung. Trotzdem würden die Zahlen eine eindeutige Sprache sprechen. Eine Sprache, die die ADR-Frauenfraktion nicht zu verstehen scheint.

Wer legt die Karten auf 
den Tisch?

In einem Schreiben echauffierte sie sich nämlich trotzdem darüber, die „Orange Week“ – die Aktionstage gegen die Gewalt gegen Frauen – blende die männlichen Opfer häuslicher Gewalt aus. Dabei geht es bei der diesjährigen „Orange Week“ in Luxemburg um Gewalt gegen Frauen – nicht allgemein um die Opfer häuslicher Gewalt, unter die auch minderjährige Jungen und Mädchen sowie Senior*innen fallen müssten. Ganz davon abgesehen, dass es jeder Kampagne freisteht, einen thematischen Schwerpunkt zu setzen, um auf einen kleinen Teil eines noch viel größeren Problems zu verweisen. Vielleicht wäre es passender gewesen, die ADR hätte das Thema der häuslichen Gewalt gegen Männer am Weltmännertag (3. November) – einem Aktionstag zur Männergesundheit – oder am Internationalen Männertag (19. November) aufgerollt. Das hätte ihr aber vermutlich die Pointe versaut: Der Diskurs über häusliche Gewalt sei wegen der Beschränkung auf weibliche Opfer weder ehrlich noch objektiv, sondern getrieben von einer männerfeindlichen Ideologie, die das Sujet zweckentfremde. Verwirrende Aussage, wenn man den Kopf aus dem eigenen Goldfischglas zieht und sich an die Statistik des Komitees zurückerinnert.

Über die vergleichsweise hohe Täterschaft von Männern zu reden, ist kein Aufwiegeln der Geschlechter, kein Fingerzeig oder subjektives Empfinden. Es gründet auf nackten Zahlen – und die offenbaren ein Problem, das die Gesellschaft geschlossen angehen muss. Die Krux der hohen Gewaltbereitschaft liegt nämlich unter anderem in der immer noch binär gestrickten Geschlechterwelt. Der Mann im Strickpulli hat Recht, wenn er von Klischees spricht, aber sie sind weit mehr als Attribute, die einem aufgrund des biologischen Geschlechts zugeordnet werden. Sie mutieren zu wichtigen Faktoren der Sozialisation und haben einen wesentlichen Einfluss auf unsere Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder. „Schon im Kindesalter wird vielen Männern beigebracht, keine Angst zu haben, keinen Schmerz zu zeigen“, beobachtet Spautz, „eng Fauscht an der Täsch ze maachen.“ Das führe zwangsläufig zu Schwierigkeiten, sich seiner und der Verletzlichkeit anderer bewusst zu werden. Es sind Erziehungsmodelle, die nur bedingt zu einem diversifizierten Männerbild führen, das einen differenzierten Diskurs über die Gewaltproblematik ermöglichen würde. Die wenigsten Männer würden sich für eine vielseitige Sicht auf das eigene Geschlecht stark machen, die von dem typisierten Männerbild des starken, beschützenden, leistungsfähigen und erfolgsorientierten Mannes abweiche, stellt Spautz fest.

Nicht den Aktionstagen für Frauen fehlt es an Ehrlichkeit, wie die ADR-Frauen bedauern, sondern der Diskussion über diese immer noch festgefahrenen Männerbilder. Die Männerwelt braucht eine eigene, selbstkritische Hinterfragung patriarchaler, geschlechtsdefinierter Strukturen und Lebenskonzepte, wenn sie sich progressiv entwickeln will. Und das ist eine Debatte, an der sich die Männer selbst beteiligen sollten. „Männer müssen lernen, sich mehr mit ihrem Dasein als Mann auseinanderzusetzen. Sie sollten auch ihren Umgang untereinander, also Männer mit Männern, reflektieren. Wir brauchen engagierte Männer.“ Spautz schnitt bereits am Montag im Gespräch mit der „woxx“ an, was er einen Tag später beim Rundtischgespräch wiederholte. „Sie könnten lernen sich gegenseitig zu unterstützen, anstatt hauptsächlich zu rivalisieren, sich zu solidarisieren. Natürlich nicht gegen Frauen, sondern für mehr Lebensqualität.“

Unterm Strich geht es darum, das Phänomen der männlichen Täterschaft und der immer noch starren Rolle des Mannes in der Gesellschaft als Realität anzunehmen und sie zu überdenken. Das hat an und für sich nichts mit einer pauschalen Verurteilung zu tun. Es ist vielmehr die Reaktion auf eine Täterschaft, die nur die Spitze des Eisbergs ist. Tiefgreifender wurzelt das Problem in einem porösen Gesellschaftskonstrukt, das unter den bestehenden Bedingungen früher oder später zusammenzubrechen droht. In dem Kontext sollte man dann auch auf die psychische und körperliche Gewalt gegen Männer hinweisen, die sowohl von Frauen als auch von Männern und nicht zuletzt vom gesellschaftlichen System ausgeht.

Nicht nur die Symptome beheben

Über all diese Fragen sinnieren die ADR-Frauen in ihrer Pressemitteilung nicht. Dafür schütteln sie in ihrem Schreiben den Kopf über fehlende Männerhäuser. Was sie nicht erwähnen ist, dass die Beratungsstelle „infoMann“ sieben Betten für Männer bereithält, die aus einem Gewaltkreislauf ausbrechen wollen. Mal reichen die Betten nicht aus, mal bleiben sie über längere Zeit leer. Die Beratungsstelle wird rege genutzt: 2017 suchten 250 Männer die Stelle auf, in diesem Jahr waren es bisher 230. Darunter fielen 19 Männer, die unter unterschiedlichen Gewaltformen litten. Die Hilfesuchenden kommen aus allen Gesellschaftsschichten. Es lässt sich nun darüber streiten, ob ein dezentralisiertes, regionales System angemessener wäre und ob sieben Plätze tatsächlich ausreichen. Für Frauen stehen in vergleichbaren Strukturen immerhin rund 220 Betten bereit und die Wartelisten sind trotzdem ellenlang, wie Birnbaum und Klein bei der „table ronde“ schulterzuckend zugaben.

Den Bedarf, das Angebot für männerspezifische Notunterkünfte auszuweiten, sieht Spautz, der an der Quelle sitzt, derzeit allerdings nicht. „Grundsätzlich halte ich es für sinnvoller Präventionsarbeit zu leisten, als weitere Auffangstrukturen nach Problemen zu schaffen“, fordert er stattdessen. „Wir müssen über Gewalt in Luxemburg sprechen, nicht nur über weitere Wohnstrukturen für Opfer und Täter – und das müssen Frauen und Männer gemeinsam tun.“ Menschen in Not bräuchten Hilfe, aber das eigentliche Ziel müsse es sein, die Probleme im Keim zu ersticken. Die Ansicht, dass die Aktionen gegen Gewalt gegen Frauen gewissermaßen eine Ohrfeige für männliche Gewalt-
opfer sind, teilt er nicht. Im Gegenteil. Er sieht Kampagnen und Bewegungen, wie die „Orange Week“ oder #MeToo, eher als Gelegenheit das Dasein als Mann in der heutigen Gesellschaft zu hinterfragen. Es sei wichtig, sich mit weiblichen Gewaltopfern zu solidarisieren. Natürlich sei es unangenehm, mit Straftätern oder sexistischen Männern in einen Topf geschmissen zu werden, aber wer mit sich selbst im Reinen sei, habe nichts zu befürchten. Es sage viel über das eigene Selbstverständnis aus, wenn man pikiert auf die #Metoo-Debatte reagiere und sich angegriffen fühle.

Foto: Prince Photos

Schmollen ist kontraproduktiv

Dinge, die der Wort-Journalist Gaston Carré laut seinem Edito vom 23. November vermutlich anders sieht. Spautz verlangt nach engagierten Männern, die sich bewusst und aktiv von einem von außen zugewiesenen, undifferenzierten Geschlechterbild abwenden? Carré meldet sich freiwillig und geht mit gutem Beispiel voran – oder eher mit schlechtem Beispiel, denn er steigt aus. Sein Edito nannte er „#Metoo sans moi“: ein Titel mit Schuss. Ein Schuss, der nach hinten losgeht. Zuerst freut man sich für Carré, dass er kein Missbrauchsopfer ist, und will mit ihm darauf anstoßen, dass er sich gegen sexualisierte Gewalt ausspricht. Das Glas knallt aber dann recht schnell wieder auf den Tisch, die Freude legt sich ein paar Zeilen weiter. Carré spricht nämlich nicht von der Erfahrung oder Nicht-Erfahrung sexualisierter und genderspezifischer Gewalt, sondern distanziert sich vom Diskurs über diese Verbrechen. Er verurteilt ihn zu einem „discours dont la violence est pareillement exécrable“.

Ja, auf Twitter kursierte der Hashtag #MenAreTrash, der sich sowohl ironisch als auch ernsthaft gegen das traditionelle Patriarchat und seine Werte richtete. Und ja, die freie Autorin und Journalistin Sibel Schick schrieb ein Gedicht mit dem Titel „Männer sind Arschlöcher“. Über solche Pauschalisierungen lässt sich streiten. Sie könnten unter Umständen als unreflektierte kollektive Schuldzuweisung durchgehen, aber auf sie nimmt Carré nicht Bezug. Ihm geht es vielmehr um die unzähligen Aktionen gegen Gewalt gegen Frauen und die überbordende Berichterstattung über weibliche Missbrauchsopfer. Ein Zuviel an Informationen, das letzten Endes zum Trugschluss führe, dass der Mann ein Übel sei. Es verginge kein Tag, an dem nicht darüber berichtet würde, dass „une telle a été violée par un tel“. Ob man dieses Inventar denn wirklich kontinuierlich füttern müsse?

Betrachtet man die aktuellen politischen Entwicklungen weltweit, wie etwa in Ungarn, Polen oder Brasilien, wo frauenfeindliche Regime am Ruder sind, müsste die Antwort klar sein: Ja. Die eingangs genannten Zahlen aus Luxemburg sind ebenfalls alles andere als beruhigend. Darüber hinaus schätzte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014, dass allein in Europa jede dritte Frau – das entspricht 61 von insgesamt 85 Millionen – seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexualisierte Gewalt erfahren hat. Manche sogar beides. Dabei ist die Situation in Europa noch vergleichsweise „gut“, denkt man an Länder und Regionen, in denen die Beschneidung und systematische Unterdrückung und Misshandlung von Frauen an der Tagesordnung sind. Darüber hinaus lässt sich kaum abstreiten, dass wir unter einem globalen Gewaltproblem leiden. Spautz schätzt, dass 99 Prozent der Gewalttaten dabei von Männern ausgehen. Jede Bewegung gegen Gewalt ist also begrüßenswert, jeder Versuch der Sensibilisierung durchaus sinnvoll. Es muss Tacheles geredet werden und ein Diskussionspunkt ist dabei nun mal, wie bereits erwähnt, die männliche Täterschaft.

Dabei geht es auf beiden Seiten nicht darum, den Spieß umzudrehen und Gewalt gegen den jeweils anderen auszuüben, sondern um ein respektvolles Miteinander. Nicht etwa darum sich – wie Carré es in seinem Text macht – als „nous“ gegen ein „vous“ aufzubäumen. Die Aktionswochen und Bewegungen gegen die Gewalt gegen Frauen sollen die Gesellschaft zusammenbringen, nicht auseinandertreiben. Etwa so, wie bei der „table ronde“. Andrée Birnbaum lehnte sich irgendwann lachend zurück und meinte, Francis Spautz sei feministischer, als „Femmes en détresse“. Der zeigte sich erfreut, lachte erstaunt, dankend auf. „Ja, das erzähle ich immer allen anderen“, lächelte Birnbaum dann, „persönlich habe ich es dir noch nie gesagt. Das wäre hiermit getan.“ Schon vorher hatte sie sich ans Publikum gewandt und betont, alle die hier am Tisch säßen, zögen an einem Strang. Es sei keine Arbeit gegeneinander.

Das bedeutet ein gleichberechtigtes Miteinander auch: Realitäten gemeinsam wahrzunehmen und sie geschlossen anzugehen, wie es die Redner*innen und das Publikum bei der „table ronde“ vormachten. Dabei müssen mal die einen, mal die anderen Gewohnheiten loslassen, um Freiheiten dazuzugewinnen. Oder wie die Journalistin und Publizistin Carolin Emcke in „Gegen den Hass“ schreibt: „Eine demokratische Gesellschaft ist eine dynamische, lernfähige Ordnung, und das setzt auch die individuelle wie kollektive Bereitschaft voraus, individuelle oder kollektive Irrtümer einzugestehen, historische Ungerechtigkeiten zu korrigieren und sich gegenseitig zu verzeihen.“ Und zwar immer wieder.


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