Ist von Hypersexualisierung die Rede, sind Bevormundung und Frauenfeindlichkeit meist nicht weit. Über Widersprüche und Auslassungen innerhalb eines Diskurses, der für Empathie und Selbstermächtigung zu wenig Raum lässt.
„Hypersexualisierung“. Immer dann, wenn es um Sexualerziehung, die Werbebranche oder das neuste Musikvideo von Nicki Minaj geht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis dieses Wort fällt.
In der Broschüre „Réseau d’acteurs“ des Referenzzentrums für die Förderung affektiver und sexueller Gesundheit, kurz Cesas, gibt es mittlerweile sogar eine eigene Rubrik dafür. „L’hypersexualisation se définit comme la médiatisation et la commercialisation de la sexualité qui exagèrent les stéréotypes de la féminité ou de la masculinité et affectent le développement et comportement des enfants et adolescent·es.“ Ohne Vorwissen ist es schwer, sich etwas Genaues darunter vorzustellen. Vollends verwirrend wird es beim letzten Teil des Satzes: Hypersexualisierung, so heißt es, beeinflusse die Entwicklung und das Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Es wird weder gesagt, inwiefern diese Beeinflussung stattfindet, von wem sie ausgeübt wird, ob sie positiv oder negativ ist, und wieso sie explizit nur Minderjährige betrifft. Wer sich diese Definition vor Augen hält, kommt nicht umhin, sich unter Hypersexualisierung ein von Personen und Institutionen losgelöstes Phänomen vorzustellen, das auf magische Weise keine Wirkung auf Erwachsene hat.
Auch der neue luxemburgische Ratgeber für Sexualerziehung „Let’s Talk About Sex“ enthält eine Definition von Hypersexualität, die diese aber, im Gegensatz zum Cesas, eindeutig negativ einstuft. Beispiele für Hypersexualisierung werden in beiden Fällen keine genannt. Die Implikation: Wir wissen doch im Grunde alle, was damit gemeint ist. Doch gerade wenn man anfängt zu analysieren, was, je nach Kontext, unter Hypersexualisierung gefasst wird, wird es knifflig – und interessant. Hip-Hop-Musik, twerkende Teenies, Bikinis für präpubertäre Mädchen, halbnackte Frauen auf Werbeplakaten, Schülerinnen in Hotpants – all das wird als Folge einer hypersexualisierten Kultur angesehen. Was auffällt ist, dass es vor allem um Mädchen und Frauen, weniger um Jungen und Männer geht.
Wo bleibt die Empathie?
Je nachdem, wen man fragt, wird Hypersexualisierung mit moralischem Verfall oder aber mit feministischer Selbstermächtigung in Verbindung gebracht. Bei luxemburgischen Institutionen scheint eher die pessimistische Interpretation zu dominieren. In einem Artikel auf madi.lu vom 15. Oktober mit dem Titel „Sex ABC“ wird Sexualpädagoge Miguel Dias mit folgender Aussage zitiert: „Et gëtt eng immens grouss Iwwersexualiséi-erung an virun allem d’Meedercher spille gäre mat hire Reizen, twerken a maachen Dänz no, ouni se a Fro ze stellen.“ Auf unsere Nachfrage hin definiert das Planning familial Hypersexualisierung folgendermaßen: „Fir eis ass d’Hypersexualiséierung, datt d’Sexualitéit eng ëmmer méi grouss Plaz an eiser Gesellschaft hëllt an se bewosst an de Medien, soziale Medien, a Werbungen, Musek oder Pornografie agesat gëtt. Dëst huet natierlech een Afloss op de Mënsch, deen net ëmmer forcément positiv ass.“ So weit, so schwammig. Der erste Satz sagt aus, dass Sexualität in unserer Gesellschaft omnipräsent ist. Der zweite deutet vage die potenziell negativen Konsequenzen dieser Entwicklung an.
Das sexualpädagogische Team des Planning erklärt weiter, dass der Satz aus dem madi.lu-Artikel aus dem Kontext gerissen worden sei und sich auf den Netflix-Film „Mignonnes“ (2020) bezogen habe. In diesem geht es um eine Gruppe 11-jähriger Mädchen, die mit einer einstudierten Tanzchoreografie an einem Wettbewerb teilnehmen wollen. Eine von ihnen, die streng muslimisch erzogene Amy, lernt durch ihre neuen Freundinnen eine ihr bis dahin völlig unbekannte Art der Weiblichkeitsinszenierung kennen: Gemeinsam takeln sie sich auf, üben laszive Tanzbewegungen und blicken mit Schmollmund in Handykameras. Im Film geht es zum einen um die vielfältigen, teils widersprüchlichen Erwartungshaltungen, mit denen Mädchen bereits in jungen Jahren konfrontiert sind. Er handelt von der Schwierigkeit, sich inmitten dieser Ideale zurechtzufinden und zu positionieren, von der Unmöglichkeit es allen recht zu machen und den negativen Konsequenzen, die daraus resultieren. „Mignonnes“ rückt den Fokus auf das, was innerhalb der kollektiven Panik rund um Hypersexualisierung oft auf der Strecke bleibt: die Würde, die Wertschätzung und die psychische Gesundheit junger Mädchen.
Die Aussage, die Mädchen im Film würden ahnungslos mit ihren „Reizen spielen“, will das Planning nicht als negative Bewertung dieser Figuren verstanden wissen: „Et soll een op kee Fall di Jonk verurteelen, wéinst der Aart an Weis wéi si danzen, mee éischter dat Ganzt a Fro stellen“. Nicht bei den Jugendlichen liege das Problem, sondern unter anderem bei den Medien, die sich durch sexualisierte Darstellungen finanziellen Erfolg und Reichweite erhofften.
Auffällig oft geht die „Hinterfragung des Ganzen“ mit der Stigmatisierung oder Bevormundung von Mädchen und Frauen einher. Sobald von Hypersexualisierung die Rede ist, wird vor allem darüber geredet, was Mädchen tun (twerken und tanzen) und was sie haben (Reize). Dabei wird ihnen oftmals pauschal die Fähigkeit zum kritischen Denken abgesprochen. Sie müssen eines Besseren belehrt werden, damit sie nicht mehr tun, was andere (also Männer) als aufreizend empfinden. Ahmen Mädchen durch Tanzbewegungen und Kleidung nach, was sie in Musikvideos sehen, gelten sie als wehrlose Opfer ideologischer Manipulation. Grenzen sie sich jedoch klar davon ab, wird dies auf den positiven Einfluss ihres sozialen Umfelds zurückgeführt. Eigenmächtige Entscheidungen werden ihnen in beiden Fällen abgesprochen.
Das trifft im Übrigen nicht nur auf Minderjährige zu. Auch erwachsene Frauen stoßen auf kollektive Überforderung, wenn sie offen sexuell auftreten. Wenn Musikerinnen wie Lil’ Kim, Foxy Brown oder Cardi B in ihren Texten Sex einfordern und in ihren Videos in Unterwäsche twerken, werden auch sie wahlweise als bemitleidenswerte Opfer oder anstandslose Geldschlangen stigmatisiert. Was dabei aus dem Blick gerät: Wenn sexuell auftretende Frauen reflexartig zu Objekten deklariert werden, dann ist das Ausdruck von Sexismus. Auch das ist nämlich ein Teil des Diskurses rund um Hypersexualisierung: deren Aneignung zum Zweck der souveränen Verfügung über den eigenen Körper und die eigene Sexualität. Dass sich Musikvideos oder Tanzperformances diesbezüglich zum feministischen Schlachtfeld schlechthin entwickelt haben, ist wenig überraschend. In wenigen anderen Kontexten wird der weibliche Körper in ähnlich hohem Maße öffentlich in Szene gesetzt.
Mit der Art und Weise wie das sexualpädagogische Team vom Planning die Kontroverse rund um den Film „Mignonnes“ kommentiert, reproduziert es genau das, was Regisseurin und Drehbuchautorin Maïmouna Doucouré anprangern wollte: Es spricht einzig über das Verhalten der Mädchen beziehungsweise ihre sexualisierte Darstellung. Nicht, dass diese Thematisierung völlig unwichtig sei. Problematisch wird es allerdings, wenn die Reflexionen nicht darüber hinausgehen. Wer fragt eigentlich danach, wie es Mädchen mit alledem geht? Wo bleibt die Empathie?
Widersprüche und Auslassungen
Der Grund, weshalb es so schwer ist, das Phänomen „Hypersexualisierung“ zu fassen, ist teils auf die widersprüchlichen Botschaften, teils auf gravierende Auslassungen innerhalb des Diskurses zurückzuführen. Zu ersterem zählt, dass Kapitalismus und Medien als Übeltäter aufgelistet werden, bei konkreten Fällen aber vor allem über das besorgniserregende Auftreten der sogenannten Opfer geredet wird. Sie werden dann etwa aufgefordert, bestimmte Tänze, Plakataufschriften und Kleidungsstile zu unterlassen, oder keine sexy Fotos oder Videos von sich zu verschicken. Kurz gesagt: Unter dem Vorwand des Schutzes werden Mädchen und Frauen regularisiert.
Hinzu kommen die Auslassungen. So etwa die Rolle von Jungen und Männern im Kontext von Hypersexualisierung. Die Objektivierung von Frauen wäre immerhin kein Thema mehr, gäbe es keine Menschen, die sie objektivieren. Ebenso wenig wird in Frage gestellt, dass die Körper von Jungen und Männern gemeinhin als neutral wahrgenommen werden, während die von Mädchen und Frauen als inhärent sexuell gelten. In gängigen Definitionen, wie etwa denen des Cesas, wird so getan, als betreffe die Problematik beide Geschlechter gleichermaßen. Dabei wird ausgeblendet, dass Hypersexualisierung stets mit Frauenfeindlichkeit einhergeht. Generell fehlt auch der Hinweis darauf, dass Mädchen und Frauen nicht die Verantwortung zukommt, das Problem der Hypersexualisierung zu lösen, und sie das Recht haben, frei über ihren Körper zu verfügen.
Mehr als das Verhalten von Mädchen und Frauen sollte in der Debatte rund um Hypersexualisierung demnach im Fokus stehen: Wo genau liegt die Grenze zwischen freiem Körperausdruck und Hypersexualisierung? Wo hören Schutz und Sensibilisierung auf und wo fangen Beschämung und Bloßstellung an? Wer hat die Deutungshoheit? Welche Positionen werden gehört?
Die Debatte rund um Hypersexualisierung kann nur dann konstruktiv sein, wenn die Wahlfreiheit von Mädchen und Frauen zum obersten Ziel proklamiert wird. Was muss sich ändern, damit sie sich kleiden, verhalten und bewegen können, wie sie wollen, ohne dafür negative Konsequenzen befürchten zu müssen? Feministischer Fortschritt ist nicht dann erreicht, wenn keine 11-Jährigen mehr twerken oder Hotpants zur Schule tragen, sondern wenn sie keine Angst mehr haben müssen, deshalb sanktioniert, stigmatisiert oder herabgewürdigt zu werden.