Unabhängig davon, ob es um Rassismus oder Sexismus geht: Luxemburger Sekundarschulen tun sich offenbar schwer damit, ungemütliche Gesellschaftsdiskurse konstruktiv aufzugreifen.
Seit zwei Wochen hält die Debatte rund um die Kleiderordnung des Diekircher Gymnasiums (LCD) nun schon an. Nicht zu Unrecht fragen sich manche: Wieso gerade jetzt und wieso gerade das LCD? Über Kleiderordnungen verfügen immerhin zahlreiche Luxemburger Sekundarschulen, die meisten davon sind schon seit vielen Jahren in Kraft.
Die des LCD sticht deshalb heraus, weil sie erst zur diesjährigen Rentrée offiziell an die Schüler*innenschaft kommuniziert wurde. Auch wenn es im Grunde keinen Unterschied machen sollte: Eine 2020 verabschiedete, frauenfeindlich anmutende Regelung untersteht einem größeren Rechtfertigungszwang als eine, die vor zehn Jahren unauffällig eingeführt wurde und seither gilt. Neben dem Aktualitätsfaktor gibt es aber noch weitere Gründe für die Polemik: Seit MeToo besteht innerhalb der Gesellschaft nicht nur ein breiteres Bewusstsein für sexistische Konventionen, sondern auch eine größere Bereitschaft, diese anzuprangern. Hinzu kommen die sozialen Netzwerke, durch die sich Kritik mittlerweile weit über den eigenen Bekanntenkreis hinaus verbreiten lässt.
Die spezifische Dynamik, die sich in diesem Fall entwickelt hat, ist aber noch einem weiteren Aspekt geschuldet: Nämlich der Art und Weise, wie das LCD auf kritische Reaktionen wie etwa die Petition „Misogynen Dresscode am Lycée Classique de Diekirch“ reagiert hat. Auch wenn Direktor Marcel Kramer ablehnte, auf Fragen der woxx zu antworten, so kann seine Einstellung zur Thematik dennoch anderwärtig nachgelesen werden. Am Montag, dem 21. September, bezog er dazu erstmals auf Eldoradio öffentlich Stellung. Er verwies darauf, dass in vielen Schulen Kleiderordnungen gelten würden und die des LCD nicht erst kürzlich entstanden, sondern bereits im letzten Jahr ausgearbeitet worden sei. Der Reflex, sich hinter den Regelungen anderer Schulen zu verstecken, war diese Woche auch beim Präsidenten des LCD-Schülerkomitees Lex Tosseng zu sehen, der mit einer entsprechenden Aussage im Tageblatt zitiert wurde. Was aber soll damit ausgesagt werden? Dass ein Dresscode alleine deshalb schon gerechtfertigt ist, weil er in vielen Institutionen gilt? Dass er harmlos ist, nur weil andere noch strenger sind? Der Direktor erklärte Eldoradio gegenüber zudem, die Regelung möglichst allgemein gehalten zu haben, um die Schüler*innen nicht unnötig einzuschränken.
Über eine derart detaillierte Kleiderordnung wie das LCD verfügen indes nur die wenigsten öffentlichen Lyzeen. Solche wie das Athenäum (AL) fordern einzig „korrekte Kleidung“. Was darunter zu verstehen ist, wird nicht präzisiert. Ähnliches gilt für das Lycée Belval (LBV) und das Lycée Josy Barthel Mamer (LJBM), die jeweils „provozierende“ und „anstößige“ Kleidung verbieten. Auch die Formulierung „tenue de ville“, wie sie etwa das Lycée technique des arts et métiers (LTAM) oder die Ecole de commerce et de gestion (ECG) verwenden, lässt viel Interpretationsspielraum. Diese Uneindeutigkeiten sind nicht unbedingt positiv zu bewerten, können sie doch, je nach Fall, beliebig ausgelegt werden. Wie sollen Schüler*innen sich dagegen wehren, wenn ihnen vorgeworfen wird, sich „provokant“ zu kleiden? Handelt es sich dabei nicht um eine völlig subjektive Einschätzung? Was, wenn eine Lehrkraft sich von einem Nasenpiercing oder grün gefärbten Haaren provoziert fühlt?
So kritikwürdig diese Regelungen auch sind: Das LCD bietet eine bessere Angriffsfläche für Beanstandungen, weil es ausführt, was andere Schulen nur vage andeuten. So schreibt es nämlich explizit vor, dass Kleidungstücke wie die Unterwäsche und Körperteile wie Brust, Rücken, Bauch und Gesäß zu bedecken sind. Eldoradio gegenüber rechtfertigte Kramer die Auflistung damit, dass junge Mädchen nicht immer wüssten, welche Wirkung ihre Kleidung auf andere habe. Auch wenn er auf Twitter anschließend darüber klagte, falsch paraphrasiert worden zu sein und in dem Moment auch über Jungen gesprochen zu haben: Die Frage drängt sich auf, wieso auf die angenommene Naivität der Jugendlichen statt mit Sensibilisierung mit pauschalen Verboten reagiert wird.
Manche Schulen gehen aber sogar noch weiter als das LCD. Zusätzlich zu dessen Geboten und Verboten verlangt das Lycée Michel Rodange (LMRL) etwa Röcke und Hosen, „die mindestens die Hälfte der Oberschenkel bedecken“ und verbietet das Tragen von Schals sowie das Zeigen der Schultern. Im ECG sind im Gegensatz zum LCD Kopfbedeckungen zwar nicht explizit untersagt, dafür aber „exzessiv zerrissene oder ausgefranste“ Kleidung sowie Jogging und Leggins. Wechselt eine Schülerin vom ECG ins LTAM gilt es aufzupassen, denn in Letzterem ist das Tragen von Leggins bei kurzen Röcken und Shorts ausdrücklich geboten.
Willkürlich, übergriffig, sexistisch
Wer also denkt, dass es selbsterklärend ist, was im schulischen Kontext als „korrekte Kleidung“ gilt, wird beim Lesen der jeweiligen Kleiderordnungen eines Besseren belehrt: Nach allgemeingültigen, intuitiv nachvollziehbaren Regeln sucht man vergebens.
Bereits 2014 war hierzulande eine Debatte über Schul-Dresscodes aufgeflammt. Damals in Reaktion auf einen Artikel im Luxemburger Wort, in welchem der Direktor des Lycée technique du centre (LTC), Jean-Paul Lenertz, mit folgender Aussage zitiert wurde: „Der Kleidungsstil wird immer legerer. Mädchen in ihrem pubertären Alter meinen, sie müssten ihre Reize ganz unverhüllt zeigen. Wir denken aber, man muss den Speck nicht unbedingt sehen.“ Doch so sehr sich damals auch in den sozialen Netzwerken darüber empört wurde, passiert ist seither herzlich wenig. Die Petition zum LCD-Dresscode ist in dem Sinne ein Anlass, um diese mehr als notwendige Debatte wieder aufleben zu lassen.
Die offiziellen Reaktionen, die neben dem Verweis auf andere Schulen, vor allem „war nicht sexistisch gemeint, kann also auch nicht sexistisch sein“ lauten, lassen zu wünschen übrig. In diesem Kontext wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Kleiderordnung des LCD auf einer gemeinsamen Entscheidung von Vertreter*innen der Eltern, Schüler*innen, Lehrkräfte und Direktion beruht. Dadurch scheint man implizieren zu wollen, dass Schüler*innen wohl kaum einer Entscheidung zustimmen würden, die ihren eigenen Interessen zuwiderläuft. Dass Schüler*innen sich für sexistische Kleiderordnungen aussprechen, ist allerdings wenig überraschend: Genau wie der Rest der Gesellschaft sind auch sie von frauen- und jugendfeindlichen Konventionen geprägt und Institutionen wie die Schule legen ihnen nahe, diese nicht in Frage zu stellen.
Dass der Bedarf an einer breiten Debatte größer ist, als es der Rektor des LCD wahrhaben möchte, wird spätestens an den Social-Media-Reaktionen auf oben erwähnte Petition deutlich. Neben vielen Befürworter*innen, gibt es auch zahlreiche Komentator*innen, die Schul-Dresscodes unproblematisch finden. Manche finden es richtig, Schülerinnen mit solchen Regelungen davon abzuhalten, „wie Prostituierte“ rumzulaufen. Ein Lehrer klagt auf Facebook darüber, „sexy und freizügig gekleidete Mädchen und junge Frauen“ als Ablenkung zu empfinden: „Et ass nun eemol e Reiz (net nëmme fir Jongen a Männer) an eng Provokatioun (well si wësse jo am Fong, dass et gewot ass a si et net däerfen) an och ee Manktem un, lo kënnt et, Anstand“.
Was oben zitierter Lehrer explizit ausspricht und ansonsten eher implizit in der Debatte mitschwingt, ist die Meinung, dass Mädchen doch genau wüssten – oder zumindest wissen müssten – welche Körperstellen in welchen Kontexten eine „Provokation“ darstellen. In gleicher Manier wird davon ausgegangen, dass eine Frau, deren Kleidung als aufreizend empfunden wird, diese Wirkung auch ausdrücklich so erzielen wollte. Das Phänomen, die Verantwortung für die Sexualisierung, Objektivierung und Belästigung von Frauen und Mädchen auf diese zu übertragen, ist kein neues. „Slutshaming“ ist die englischsprachige Bezeichnung dafür und es schwingt bei der Frage nach der „tenue correcte“ von Schülerinnen immer automatisch mit.
In der ganzen Debatte werden die unzähligen, teils widersprüchlichen Botschaften ausgeblendet, die schon in jungen Jahren auf Mädchen einprasseln: Zu weit, zu eng, zu viel geschminkt, nicht ausreichend geschminkt, zu zugeknöpft, zu aufgeknöpft, zu kurz, zu lang, zu viel BH, nicht genug BH, zu sexy, zu bieder. Es ist ein Minenfeld, auf dem Mädchen und Frauen nur verlieren können. Modetrends, Werbungen und Influencer*innen diktieren, was gerade als schön und angesagt gilt. Wer sich an diesen orientiert, gilt aber als oberflächlich und, je nach Outfit, als, ja, „unanständig“. Gerade „Anstand“ und „Respekt“ werden immer wieder herangezogen, um Kleiderordnungen zu rechtfertigen. Die Haltung impliziert, dass man Kleidung bewusst wählt, um anderen eine Botschaft zu übermitteln. Trage ich im Unterricht ein Crop-Top, wird das automatisch als Zeichen für meine Respektlosigkeit gewertet – gegenüber der Lehrkraft, den Mitschüler*innen, den Lerninhalten. Wieso eigentlich? Das kritisch aufzuarbeiten, wäre gerade die Aufgabe einer Bildungsinstitution.
Auch wenn Schulen wie das LCD mit ihren Kleiderordnungen nicht bewusst auf die Sexualisierung von Schülerinnen abzielen, so darf und muss man von ihnen erwarten, dass sie sich dieses Diskurses bewusst sind und diesen zu solchen Anlässen thematisieren. Allein um Sichtweisen, nach denen Frauen sich einschränken müssen, damit Männer nicht „abgelenkt“ werden, keinen weiteren Nährboden zu bieten.
Schulen existieren nicht in einem Vakuum. Verabschieden sie Regeln, die innerhalb der Gesamtgesellschaft als übertriebener Eingriff in die Privatsphäre oder gar diskriminierend gelten würden, reicht ein Verweis auf andere Schulen oder die Berufswelt nicht aus. Davon einmal abgesehen: Vorzuschreiben, wie lang der Rock, wie hoch die Schuhe oder wie geschminkt das Gesicht sein muss, wird nicht weniger sexistisch, nur weil es am Arbeitsplatz passiert. Im Gegensatz zu „angemessener Kleidung“ variiert die Definition von Frauenfeindlichkeit nämlich nicht je nach Kontext.