Sexualerziehung: Da geht noch mehr

Ungleichmäßig gewichtete Kapitel, irreführende Erklärungen und zu viel Heteronormativität: Der neue Leitfaden für Sexualerziehung in Luxemburg ist deutlich weniger sexpositiv, feministisch und inklusiv als erhofft.

Es fragt sich welches Bild von BDSM die Autor*innen im Kopf hatten, als sie sich entschieden die Praktik einzig auf eine abschreckende Weise zu thematisieren. (Quelle: joshuatkd/pixabay.com)

Mit Pauken und Trompeten wurde am Montag die neue Ausgabe des Ratgebers „Let’s Talk About Sex – Gesundheit, Liebe und Sexualität im Jugendalter“ vorstellt. Ausgearbeitet wurde sie von den Ministerien für Gesundheit, Bildung, Gleichstellung und Familie, sowie fünf weiteren Akteuren: Cesas, HIV Berodung, Planning Familial, Centre LGBTIQ+ Cigale und der Association des parents d’enfants mentalement handicapés. In der Ankündigung heißt es, der Leitfaden verfolge einen ganzheitlichen und positiven Ansatz und sei an die „heutigen Gegebenheiten“ angepasst. Ergänzende Lernblätter seien zurzeit noch in Ausarbeitung, heißt es zudem.

Wie dies bereits erahnen lässt, richtet die Broschüre sich in erster Linie an Professionelle. Dementsprechend enthält sie eine Übersicht mit Kontaktstellen rund um den Bereich der affektiven und sexuellen Gesundheit und eine Auflistung davon, welche Informationen Kinder und Jugendliche in welchem Alter erhalten sollten. Zusätzlich gibt’s einen Überblick über affektive und sexuelle Gesundheit im Allgemeinen, sowie Informationen über Themen wie Gender, Pubertät, erste Erfahrungen mit Verliebtheit und Sex, sexualisierte Gewalt und Sexualität und Behinderung.

Heteronormativ und transfeindlich

Auch wenn die Broschüre auf Inklusion setzt und betont, dass Penetration kein notwendiger Teil von Sex sein muss, so ist sie doch insgesamt recht heterozentriert. Zwar können viele Informationen als allgemeingültig verstanden werden, aber in einer heteronormativen Gesellschaft kommt man nicht daran vorbei, Queerness explizit zu benennen. Das hätte man zum Beispiel tun können, indem man lesbische Sexualpraktiken wie die Tribadie thematisiert. Auch dem Thema Transgeschlechtlichkeit hätte man durchaus mehr Gewicht geben können. Eine etwas ausführlichere Erwähnung findet diese einzig in den Kapiteln über Genderidentität, über Homo- und Transfeindlichkeit und im Glossar.

Ein Zusatz bei der Definition von „Schwuler“ hätte dagegen getrost weggelassen werden können. Dahinter steht nämlich in Klammern, es handele sich um eine „teils negativ konnotierte Bezeichnung“. Teilweise negativ konnotiert sind so einige der im Glossar aufgeführten Begriffe. Ganz davon abgesehen, dass der Zusatz nur beim Wort „Schwuler“ vorzufinden ist, ist fraglich, wieso er Teil einer Begriffsdefinition sein sollte. Sinnvoller wäre es gewesen, die zum Teil negative Verwendung dieses Begriffs zu thematisieren. Doch auch diese Ausführungen hätten eher in den Haupttext gepasst als ins Glossar.

Auch eine Skala zum biologischen Geschlecht, bei welcher „Mann“ und „Frau“ an beiden Enden stehen, mit „intersexuell“ in der Mitte macht stutzig. Wieso stattdessen nicht auf den Diskurs hinweisen, demzufolge die Existenz intergeschlechtlicher Menschen, die Einteilung von Genitalien in „männliche“ und „weibliche“ insgesamt in Frage stellt?

Eine Skala auf der gleichen Seite wirft ebenfalls Fragen auf: Hier wird bei der Rubrik „Geschlechtsidentität“ „trans“ genau in der Mitte zwischen „Mann“ und „Frau“ verortet. Davon abgesehen, dass auf dieser Skala nicht-binäre Geschlechter keinen Platz haben, handelt es sich bei „trans“ nicht um eine Geschlechtsidentität. Es bedeutet einzig, dass man sich nicht mit dem Geschlecht identifiziert, das einem bei der Geburt zugewiesen wurde. Identifiziert wird sich auch in diesem Fall etwa als „Mann, „Frau“, „nicht-binär“ oder „genderqueer“.

Wundern dürften sich viele auch über die Definition von „heteronormativ“: „Perspektive, die die Heterosexualität als einzig existierende und/oder legitime sexuelle und emotionale Lebensweise anerkennt. Diese Haltung geht mit beleidigenden und diskriminierenden Äußerungen oder Handlungen gegenüber allen nicht-hetero-sexuellen Personen einher, da sie ganz einfach die Existenz und Bedürfnisse anderer sexueller Orientierungen ignoriert.“ Was hier beschrieben wird, ist eher Queerfeindlichkeit. Im Gegensatz dazu ist Heteronormativität als ein unsichtbares Netz zu verstehen, das unsere gesamte Gesellschaft überspannt. Es geht dabei eher um Privilegien, die mit Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit einhergehen, als um offene Feindlichkeit. Geschlechtsorgane als männlich und weiblich zu bezeichnen oder gebärende Menschen pauschal als „Mütter“ zu bezeichnen – auch das ist heteronormativ.

Gerade dass Heteronormativität so unbemerkt funktioniert und meist ohne böswillige Intention reproduziert wird, macht es so schwer, sie wahrzunehmen und zu bekämpfen. Es ist bedauerlich, dass im Rahmen dieses Leitfadens nicht davon profitiert wurde, diese Matrix sichtbarer zu machen. Leider wird Heteronormativität nicht nur falsch definiert, sondern auch in zahlreichen Kapiteln appliziert. Im Kapitel über Pubertät wird zwar mittels eines Kastens betont, dass einzig auf den „biologischen Standardtyp“ eingegangen worden sei, nicht aber auf „Variationen der Geschlechtsmerkmale“, wie intergeschlechtliche Menschen sie aufweisen. Wieso über Eierstöcke und Brüste nur in Bezug auf Mädchen und über Hoden und Bartwuchs nur in Bezug auf Jungen gesprochen wird, und das Kapitel somit transfeindlich ist, erklären die Autor*innen jedoch nicht.

Morderska/Wikimedia Commons

Auch wenn es sich hierbei scheinbar um technische Aspekte oder sprachliche Details handelt, so gehen damit Konsequenzen für Menschen außerhalb der geschlechtlichen Norm einher. Bei Professionellen, die sich wenig mit dem Genderthema auskennen, wird der Leitfaden diesbezüglich wohl mehr Fragen aufwerfen als er beantwortet. Das wird im besten Fall dazu führen, dass Betroffene sich auf eigene Faust weiterinformieren oder an Fortbildungen teilnehmen, schlimmstenfalls werden sie jedoch falsche oder missverständliche Informationen an Kinder und Jugendliche weitergeben.

Von den insgesamt 120 Seiten ist rund die Hälfte den Themen Verhütung und Geschlechtskrankheiten gewidmet. Gerade im Sinne der angestrebten sexpositiven Ausrichtung, wäre eine andere Gewichtung denkbar gewesen. So sind etwa die Informationen bezüglich Sexualpraktiken mehr als dürftig und auf solche beschränkt, die den meisten wahrscheinlich ohnehin bekannt sind. Sexspielzeug wird zwar erwähnt, jedoch ohne es im Einzelnen zu benennen, zu erklären oder auf Erwerbsmöglichkeiten einzugehen.

Reale Konsequenzen

Besonders bedauerlich ist die Art und Weise wie BDSM thematisiert wird. So wird die Praktik einzig im Zusammenhang mit „schockierenden oder für Jugendliche nicht geeigneten Bildern“ wie von Gewalt und Folter genannt. Zu finden ist diese Bemerkung in einem Kapitel über die Risiken der Internetnutzung. Wäre BDSM zumindest in das Glossar des Leitfadens einbezogen worden, hätte Bewusstsein für diese oft missverstandene Praktik geschaffen werden können. Auch im Kapitel über „Einvernehmen“ hätte sich BDSM gut einbringen lassen, indem betont worden wäre, dass ausnahmslos jede menschrechtskonforme Praktik ausgelebt werden kann, solange alle Beteiligten damit einverstanden sind. Die BDSM-Thematik hätte sich in diesem Kontext auch gut geeignet, um etwa „Safe Wörter“ oder „Aftercare“ zu thematisieren, Dinge, die auch bei regulären Sexualkontakten hilfreich und kommunikationsfördernd sein können. Der Kommunikation sowie dem Umgang mit potenziell divergierenden sexuellen Bedürfnissen wird im Leitfaden generell keine ausreichend große Bedeutung beigemessen.

Allgemein fehlt es dem Leitfaden an einem feministischen Ansatz. Auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern wird einzig bezüglich körperlicher Spezifitäten eingegangen. Dass Jungen und Mädchen unterschiedlich sozialisiert werden, womit andere Verhaltensweisen, Unsicherheiten und Unkenntnisse einhergehen können, wird nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Liste an fehlenden Aspekten ließe sich weiterführen: Welche Informationen sollte man Jugendlichen vor ihrem ersten Gynäkologie- oder Urologiebesuch mit auf den Weg geben? Wie mit ihnen über Körperbehaarung, Haarentfernung, Diätkultur und Bodyshaming sprechen? Über Pornografie und Prostitution? Intimbehaarung wird zwar erwähnt, deren Entfernung jedoch damit kommentiert, dass manche Frauen dadurch einem bestimmten „Standard“ zu entsprechen versuchten – eine unnötig wertende Aussage, die eine nuancierte Auseinandersetzung mit dem Diskurs rund um Körperbehaarung vermissen lässt. Was ein Begriff wie „Scham“ im Sinne von „Schamlippen“ oder „Schamhügel“ noch in einem 2020 herausgegebenen Sexualratgeber zu suchen hat, ist ebenfalls unverständlich.

Zu begrüßen ist der Evaluationsbogen, der dem Leitfaden hinten angefügt ist. Hier kann unter anderem angegeben werden, welche Informationen als besonders nützlich empfunden wurden und welche in den einzelnen Kapiteln noch fehlen. Es ist jedoch zu hoffen, dass sich bei der Überarbeitung des Leitfadens nicht nur an den Einschätzungen von Erwachsenen orientiert wird.

So zeitgemäß und sexpositiv wie er sich gibt, ist „Let’s Talk About Sex“ letztendlich wirklich nicht. Wenn es sich hierbei um den umfassendsten Leitfaden handelt, der zurzeit in Luxemburger Klassenzimmern Anwendung findet, will man sich gar nicht ausmalen, was den Schüler*innen bisher vermittelt wurde.


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