Joseph Funck: Unterwelt

„Jim Steller war ein Trinker”, so beginnt Joseph Funcks Erzählung „Kleines Schicksal” aus dem Jahre 1934. Der Luxemburger Schauspieler Steve Karier hat die Geschichte um den Hundekotsammler Steller und seine Vertreibung aus der Unterstadt als Hörbuch neu eingelesen.

Joseph Funck wurde 1934 vom Literaturkritiker Joseph-Emile Muller für sein Debüt „Kleines Schicksal“ gelobt. (Bildquelle: CNL)

Als „Kleines Schicksal” von Joseph Funck 1934 zum ersten Mal erschien, wurde es sofort zu einem großen Erfolg, sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik. „Hier schreibt einer, der schreiben kann; einer, der etwas zu sagen hat”, so urteilte der Kunst- und Literaturkritiker Joseph-Emile Muller über das Debüt des damals 32-jährigen Autors. Und damit fasste er kurz und bündig die beiden Stärken des Textes zusammen: Die Geschichte ist schlüssig, sogar spannend, und wird in starken, eindrücklichen Bildern geschildert. Funck selbst bemängelte, dass die luxemburgische Literatur seiner Zeit charakterisiert sei durch „zu viel Dekoration und zu wenig Inhalt” und dem wollte er entgegenwirken.

Nachdem 2002 bereits eine von Pierre Marson kommentierte Ausgabe im Rahmen der „Lëtzebuerger Bibliothéik” erschienen ist, hat das Centre national de littérature in Zusammenarbeit mit dem Centre national de l’audiovisuel die Geschichte nun als Hörbuch neu auflegen lassen. Die CD ist ansprechend aufgemacht, bebildert mit Original-Illustrationen von Raymon Mehlen und Albert Kaiser aus den Ausgaben von 1939 und 1957. Vorgelesen wird der Text von Steve Karier, der kürzlich auch als Sprecher von Roger Manderscheids „Schacko Klak” fungierte. Wer nicht mehr über einen CD-Spieler verfügt, für den ist ein Download-Code für die mp3-Audio-
datei beigefügt.

Im Mittelpunkt von „Kleines Schicksal” steht ein Mann, Jim Steller, und das Milieu, aus dem er stammt, die Vorstadt. Obwohl Funck sie nicht ausdrücklich identifiziert, liegt die Annahme nahe, dass es sich hier um das Pfaffenthal handelt. Der Protagonist mag ein Trinker sein, aber „in seinem Milieu war Laster etwas zu Gewohntes, als dass man dadurch auffiel.” Auf den ersten Seiten skizziert Funck das Viertel und seine Einwohner*innen: Die Vorstadt wird als „Rumpelkammer der Stadt” beschrieben, „Zank, Schläge und Messerstiche waren etwas Häufiges”.

Steller ist Hundekotsammler, ein „Knollereefer”, und gehört damit der untersten gesellschaftlichen Schicht an, nach den Lumpenleuten und den Schrotthändlern, die in der Vorstadt höheres Ansehen genießen. Der Hundekot wird zum Gerben des Leders in der ortsansässigen Handschuhfabrik benötigt. Mit seinem Leben ist Jim Steller trotz seiner niedrigen Stellung voll und ganz zufrieden, er genießt die Unabhängigkeit, die ihm sein Wagen und sein Hund Lina bieten, und ist stolz, mit Annie ausgerechnet eines der meist umworbenen Mädchen der Vorstadt erobert zu haben. Funck fasst das erfolgreiche Werben kurz und wenig schmeichelhaft zusammen: „Annies Klassenstolz war vor Jims stierstarker Männlichkeit dahingeschmolzen; an seinen unvermeidlichen Berufsduft hatte sie die Zeit gewöhnt.” Abends spielt Steller Mundharmonika und verleiht so der „Wurschtigkeit, die über dem wehen, freien Inhalt seiner Tage lag, launige Töne.”

Eines Tages bricht er jedoch neben seinem Karren zusammen und wird in das hauptstädtische Krankenhaus am Fischmarkt eingeliefert. Und dort nimmt das Drama seinen Lauf. Der übereifrige Arzt Karl Emmel hat es sich in den Kopf gesetzt, Jim nicht nur zur Genesung zu verhelfen, sondern ihn auch von seinem Lebenswandel zu kurieren. Er möchte ihm eine Stelle als Gärtner beschaffen, und obwohl ihn die Kollegen belächeln, sonnt sich Emmel in seiner Wohltätigkeit. Die Wissenschaft soll nicht nur heilen, sondern auch sozial sein, das glaubt der Arzt, bis Jim Steller ihn eines Besseren belehrt. Dieser möchte sich nämlich weder bekehren noch umerziehen lassen. Die bürgerliche Welt trifft auf Jims widerspenstiges Rebellentum. „Wie war die Welt noch zu verstehen (…), wenn der Elende nicht mehr demütig war?”, wundert sich Emmel. Sein Patient möchte so schnell wie möglich zurück in sein altes Leben, zu seinen Gewohnheiten und vor allem zu Annie, bevor ihm einer seiner Kumpane die Frau abspenstig macht. Doch Missverständnisse und Verwicklungen führen dazu, dass Jim Steller die Rückkehr zuerst schwer, dann unmöglich gemacht wird.

In Funcks Erzählung gibt es zwei Schwerpunkte: das Sittengemälde der Vorstadt und das Kräftemessen zwischen Steller und seinem Arzt. Versinnbildlicht wird dies durch die Tatsache, dass der Autor die Oberstadt mit ihren feinen Leuten, ihrer „gehegten Bürgerlichkeit” als Paradies beschreibt, in dem Steller nur geduldet wird, dessen eigentliches Paradies aber die „faltigen Gassen” der Unterstadt sind, wo man ihm „mit Achtung begegnet, wo er als „vollwertig” gilt, ehe er aus ebendiesem verstoßen wird.

Joseph Funck selbst stammte nicht aus dem Pfaffenthal, er wuchs im hauptstädtischen Bahnhofsviertel und danach in Petingen und Esch-Alzette auf, wo er auch später eine Anstellung als Büroarbeiter bei der Société Métallurgique des Terres Rouges annahm. Die Vorstadt kannte er durch Besuche bei Verwandten und durch seine Vorliebe für ausgedehnte Spaziergänge.

In seiner Erzählung kultiviert er das raue Image der Vorstadt, das zu jener Zeit ein „weit verbreitetes Klischee” war, wie Marson in der kommentierten Ausgabe von 2002 schreibt. Seine Protagonisten tragen Spitznamen wie im Pfaffenthal üblich, sie heißen „der lange Lex”, der „gelbe Sassi” oder der „scheele Heini” und pflegen die ortstypische „breite Aussprache”. Es ist ein Motiv, das in der Luxemburger Literatur häufig vorkam, manchmal nostalgisch verklärend wie in den Gedichten von Michel Lentz, oftmals aber auch satirisch wie bei Putty Stein oder Auguste Liesch. Auch aus folkloristischer und sozialkritischer Sicht blickte man auf die Vorstädte. Funck hatte sich zweifellos für seinen Text an bereits erschienenen Werken inspiriert, zum Beispiel von Marie Henriette Steil oder Pol Henkes.

Funck gab später an, dass sein Protagonist Steller eigentlich einer Minderheit entstammte und der Großteil der Vorstädter*innen dem von ihm entworfenen Bild nicht entsprächen. Sein Antrieb war es weniger, ein Milieu in Gänze zu beschreiben, als eine soziale Gruppe zu charakterisieren, die sich vornehmlich in der Vorstadt angesiedelt hatte, die „Menschen, die außerhalb der Gesellschaft stehen”. Funck sah in „Klassen, Klassengegensätzen und Klassenumschichtungen” die Voraussetzungen für eine „vollwertige Erzählprosa”, wie es Marson nennt. Und diese Gegensätze zeigten sich eben am deutlichsten am Rande der großen Städte.

Die von Funck aufgegriffenen Themen mochten 1934 hochaktuell sein, als auch Luxemburg unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise litt, die Welt, die er in seiner Erzählung beschreibt, gab es beim Erscheinen des Buches so nicht mehr. Die Handlung ist nicht ausdrücklich datiert, jedoch ist geschichtlich belegt, dass nach dem Ersten Weltkrieg kein Hundekot zum Beizen mehr eingesetzt wurde, aus hygienischen Gründen, aber auch, da die sich entwickelnde Chemieindustrie mittlerweile Alternativen anbot.

Woher aber hatte die Vorstadt ihren Ruf? Einerseits hatte die Industrialisierung, aber auch das Schleifen der Festung und der Abzug der Garnison dazu geführt, dass viele Einwohner*innen ihre Arbeit verloren und die Wohlhabenderen in die neugegründeten Viertel außerhalb der Stadtmauern zogen. Die Einwohner*innen empfanden dies als Deklassierung, während gleichzeitig die Oberstadt florierte. Funcks Darstellung mag schematisch sein, aber ganz falsch war sie nicht. Noch im Erscheinungsjahr der Erzählung war die Sterblichkeitsrate im Pfaffenthal viermal höher als im Neubaugebiet Neumerl.

Funck geht mit Frauen und Männern hart ins Gericht

Funck wollte durchaus auf soziale Missstände aufmerksam machen, deshalb erinnern seine Figuren manchmal eher an Stereotype als an Menschen aus Fleisch und Blut. Deshalb entschied er sich auch für die deutsche, anstatt für die luxemburgische Sprache, um der Geschichte eine größere Universalität zu verleihen. Er schwärzte wohl bewusst das Bild und verschonte niemanden.

In „Kleines Schicksal” haben die Frauen zu gehorchen und sind ansonsten wankelmütige Geschöpfe, die sich ihre Treuschwüre rasch vom nächstbesten Kerl abknüpfen lassen und übergriffige Verehrer schon mal über Brückengeländer werfen. Jim ist stolz auf Annies „kuschende Anhänglichkeit”, das Mädchen pariert keinem so „wie Jim es die Annie gelehrt hatte”. Darüber könnte man sich ärgern, aber Funck geht mit dem männlichen Personal seiner Erzählung gleichermaßen hart ins Gericht. Jim und seine Kumpane benehmen sich wie Tiere, der lange Lex wird als „sabbernder” Lüstling beschrieben, der wie ein „großer, gereizter Vogel” auf Annie losgeht. Aber auch den Arzt und Spießbürger Emmel betitelt Steller als „gebildeter Affe”.

Wer über das Literarische hinausgehen möchte und sich für die Vorstadt und ihre Geschichte(n) interessiert, dem sei auch noch einmal das Buch „Kanner O Kanner” empfohlen, welches das Syndicat d’intérêts locaux Pfaffenthal-Siechenhof vor einigen Monaten vorgestellt hat. Zusammen mit Pierre Marsons kommentierter Ausgabe bietet sich so ein guter Überblick über die Vorstadt in ihrer ganzen Vielfalt. Der Untertitel des „Kanner O Kanner”-Bands lautet übrigens: „Eng Hymne op eng eenzegaarteg Ënnerstad”. Eine Hymne ist „Kleines Schicksal” sicher nicht, dafür eine schwarz-humorige, oft wahrhaftige Moritat.

Joseph Funck, Kleines Schicksal, 
eine Ko-Produktion des CNA und des CNL, gelesen von Steve Karier, 
Regie: Martin Engler, 
Spieldauer: 3 Stunden und 7 Minuten.

Auch interessant:

Joseph Funck, Kleines Schicksal, vorgestellt und kommentiert von Pierre Marson, Lëtzebuerger Bibliothéik, 2002, 270 Seiten.

Kanner O Kanner, 
Syndicat d’intérêts locaux Pfaffenthal-Siechenhof (SILPS) a.s.b.l., 268 Seiten.


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