Kapitalistische Zerfallserscheinungen: Ausweitung der Sonderwirtschaftszone

Der kanadische Historiker Quinn Slobodian schreibt in seinem Buch „Kapitalismus ohne Demokratie“ über marktradikale Ideen, in denen der Staat für rechte Libertäre zum Feindbild wird. Dabei lässt er den Kapitalismus selbst als verlorenen Garten Eden erscheinen.

Kapitalismus ohne Demokratie? Der Historiker Quinn Slobodian zeichnet in seinem Buch ein Zerrbild der neoliberalen Ära, das diese nicht aus der kapitalistischen Logik, sondern aus den Köpfen einiger Theoretiker entstehen lässt.

Das Weltwirtschaftsforum in Davos hatte im Januar mit Javier Milei einen speziellen Gast. Als frisch gewählter Präsident Argentiniens war er zu dem jährlichen Treffen im Schweizer Kanto Graubünden gekommen – und ließ gleich mit den ersten Worten seiner Rede aufhorchen: „Ich bin hier um zu sagen, dass die westliche Welt in Gefahr ist.“ Die Bedrohung gehe von Kollektivismus, Feminismus und Sozialismus aus, so der ultrarechte Politiker mit der Löwenmähne. Der Staat sei nicht die Lösung, sondern das Problem. Milei schloss mit dem Ruf: „Viva la libertad, carajo!“ Der Argentinier ist weltweit der erste Anarchokapitalist als Staatschef.

Doch woher stammen die radikalen Ideen des studierten Volkswirts, der sich als Systemsprenger inszeniert? Sie sind auf eine ökonomische Theorie und politische Philosophie zurückzuführen, deren Ziel eine Gesellschaftsordnung ist, in der die Kräfte des freien Marktes vorherrschen. Der Staat ist für die Anhänger des Anarchokapitalismus eine illegitime politische Institution. Milei nennt ihn sogar eine „kriminelle Organisation“ und bezeichnet Steuern als Diebstahl. Was zählt, sind das uneingeschränkte Recht auf individuelle Selbstbestimmung und die weitreichende Verfügungsgewalt auf Privateigentum. Eines der Vorbilder des Argentiniers ist der US-Ökonom Murray Rothbard (1926-1995), der die libertären Ideen aus Nordamerika mit jenen neoliberaler Theoretiker wie des in Wien geborenen Friedrich August Hayek (1899-1992) verband.

Die Anarchokapitalisten wollen den Staat abschaffen oder staatliches Handeln zumindest maximal beschränken. Der freie Markt soll das gesellschaftliche Zusammenleben regeln. Steuern seien unrechtmäßig, behaupten sie. Sie gehen von der radikalen Selbstbestimmung des Menschen aus; von den Prinzipien der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit halten sie wenig. Sie sehen es nicht mal als Aufgabe des Staates, das Eigentum zu schützen. Der freie Markt soll auch hier Priorität haben.

In seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Kapitalismus ohne Demokratie“ hat der kanadische Historiker Quinn E. Slobodian die libertären Marktradikalen unter die Lupe genommen, denen die Zerschlagung der Staaten in kleine Steueroasen, Privatstädte oder Mikronationen vorschwebt. Der Autor nennt ihre Ideen „neoliberale Utopien“. Im Original heißt das Buch „Crack-Up Capitalism: Market Radicals and the Dream of a World Without Democracy”.

In einem Beitrag für die Januar-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik unter dem Titel „Staat ohne Macht. Die Geburt des Anarchokapitalismus aus dem Geist des Rechtsradikalismus“ erklärt Slobodian: „Die Libertären stellen die Freiheit über alles und wollen den Staat so weit wie möglich zurückdrängen.“ Im Gegensatz zu den Liberalen hätten sie jedoch nicht das Ideal einer toleranten, offenen Gesellschaft.

Prominente Libertäre sind etwa der frühere republikanische Kongressabgeordnete Ronald „Ron“ Paul sowie David Friedman, Sohn des Nobelpreisträgers und neoliberalen Vordenkers Milton Friedman. Der Begriff Anarchokapitalismus geht angeblich auf Rothbard zurück. 1982 gründete dieser zusammen mit Ron Paul in Auburn im US-Bundesstaat Alabama das Mises-Institut. Das nach dem österreichisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Ludwig Heinrich von Mises benannte Institut propagiert anarchokapitalistische Ideen.

Murray Rothbard wollte eine anarchokapitalistische Revolution in den USA, so Sloboadian. Um die „Herrschaft der Unterklasse“ zu beenden, forderte Rothbard unter anderem radikale Steuersenkungen und die nicht minder radikale Kürzung von Sozialleistungen. Polizisten sollten zudem „entfesselt werden und das Recht erhalten, Verbrecher sofort zu bestrafen“. Er benutzte dafür den Begriff „instant punishment“. Zu seinem aus acht Punkten bestehenden Programm gehörten auch die Abschaffung der Notenbank und Donald Trumps späteres Motto „America First“.

Ein enger Vertrauter Rothbards war Llewellyn „Lew“ Rockwell jr., ein radikaler Libertärer und Befürworter des ethnischen Separatismus. Er schlug eine Segregation der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen vor. Der rechte Libertäre Ron Paul widmete sich ähnlichen Fragen. In seinem „Ron Paul Survival Report“, nach Slobodians Worten „eine Art Ikea-Katalog für den kommenden Rassenkrieg“, riet er den Lesern unter anderem, ihr Geld in Gold anzulegen oder ins Ausland zu schaffen, das eigene Haus in eine Festung zu verwandeln und die eigene Familie zu verteidigen. Paul schwärmte von einer universellen Apartheid. „Die Menschen ziehen die Gesellschaft von ihresgleichen vor“, behauptete er. In seinem „Survival-Rapport“ wird vor einem „Verschwinden der weißen Mehrheit“ gewarnt.

Einer weiterer Schützling Rothbards war Hans-Herrmann Hoppe. Der gebürtige Österreicher, der in Frankfurt am Main Soziologie studiert und bei Jürgen Habermas promoviert hatte, war in die USA ausgewandert und hat sich Rothbard an der University of Nevada in Las Vegas angeschlossen. Hoppe wurde zu einer Kultfigur der extremen Rechten. Das allgemeine Wahlrecht nannte er eine Erbsünde der Moderne. In seinem Buch „Democracy: The God that failed“ forderte Hoppe, dass es keine Toleranz gegenüber Demokraten und Kommunisten geben dürfe. Sie müssten von der übrigen Gesellschaften getrennt und ausgestoßen werden.

In Internetforen und sozialen Netzwerken taucht Hoppes Konterfei als „Hoppeans Snake“ auf, eine Schlange mit der Mütze des früheren chilenischen Diktators Augusto Pinochet, manchmal zusammen mit einem Helikopter, einer Anspielung auf die südamerikanischen Todesschwadrone, die Oppositionelle oft über dem offenen Meer aus dem Hubschrauber warfen. Hoppe schrieb 2018 das Vorwort zu dem Buch „White, Right, and Libertarian“. Auf dem Umschlag einer Version des Buches ist ein Helikopter zu sehen, an dem vier Körper hängen. Deren Köpfe sind mit den Symbolen von Kommunismus, Antifa, Feminismus und Islam versehen, Feindbilder der Anarchokapitalisten.

Libertäre Aktivisten scheinen vom Tod des Staates zu träumen, oder wollen diesem entkommen, damit sie keine Steuern zahlen müssen. Sie gehen davon aus, dass Freiheit und Demokratie unvereinbar seien, wie etwa der deutsch-amerikanische Milliardär, Investor und PayPal-Gründer Peter Thiel, den Slobodian folgendermaßen zitiert: „Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen.“

In jener schönen neuen Welt der Gated Communities beherrscht und lenkt eine hochmobile Klasse von Superreichen eine Masse von zumeist rechtlosen und politisch machtlosen Arbeitskräften.

Nach dem Ende des Realsozialismus und dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens in den 1990er-Jahren schlossen sich in den USA Marktradikale und sogenannte Neokonföderierte zusammen, wie Slobodian erklärt. Die einen strebten ein kapitalistisches Gemeinwesen jenseits der Demokratie an, die anderen wollten die amerikanischen Südstaaten wiederbeleben. Ihre Anhänger freuten sich über das Auftauchen neuer Staaten: „Jeder durch Sezession entstandene Staat war ein neuer Rechtsraum, ein Start-up-Territorium, das sich als Zufluchtsort für Kapital oder als Standort für eine nicht regulierte Unternehmens- oder Forschungstätigkeit anbieten könnte.“

Diese Mikronationen sind demnach Zonen, die sich ein entfesselter Kapitalismus anlegt und die sich für wirtschaftliche Experimente eignen, etwa in Form von Steueroasen oder Gated Communities, wo Reiche möglichst unbehelligt vom Staat sind, nur umgeben von „einer weitgehend rechtlosen Armee aus Dienstmädchen, Gärtnern, Fahrerinnen, Boten und oder Fabrikarbeitern“. Libertäre könnten aber auch im Cyberspace, im Weltraum und auf dem offenen Meer Zuflucht finden. „Wenn wir mehr Freiheit wollen“, erklärt Peter Thiel etwa, „sollten wir die Zahl der Länder erhöhen.“

„Kapitalismus ohne Demokratie“ ist in drei Teile sowie elf Fallstudien aufgeteilt und beginnt mit der Sonderwirtschaftszone Hongkong nach der britischen Kolonialherrschaft und während der wirtschaftlichen Liberalisierung Chinas unter Deng Xiaoping. Inspiriert vom Hongkonger Vorbild, entstand zu Zeiten der britischen Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren der Londoner Finanzbezirk in Canary Wharf, der zur Spielwiese von Investmentbankern und Immobilienspekulanten wurde.

Weitere Beispiele sind der autoritär regierte Stadtstaat Singapur und das Fürstentum Liechtenstein, die rechtlichen „Bubble Domes“ von Dubai ebenso wie Freihäfen und Offshore-Zonen, das vom Bürgerkrieg zerrüttete Somalia und „libertäre Bantustans“. Auch Elon Musks texanischer Weltraumbahnhof und ein „Cloud-Land im Metaversum“ können allesamt als Versuche gewertet werden, die wirtschaftliche Macht der demokratischen Willensbildung zu entziehen. In jener schönen neuen Welt der Gated Communities beherrscht und lenkt eine hochmobile Klasse von Superreichen eine Masse von zumeist rechtlosen und politisch machtlosen Arbeitskräften. Slobodian kommt nicht zuletzt auf sogenannte Charter Cities zu sprechen, wo Konzerne die Rolle der Regierung übernehmen – solche Versuche gab es in den vergangenen Jahren unter anderem in El Salvador, Honduras und einigen afrikanischen Staaten.

Dagegen sind aus neoliberal-marktradikaler Sicht (Massen-)Demokratien mit teuren öffentlichen Bildungssystemen und Gesundheitswesen, hohen Sozialleistungen und Umweltstandards nur Hindernisse für die wirtschaftliche Freiheit. Die staatlichen Aufgaben wie etwa die Strafverfolgung sollen nach den Vorstellungen der „Crack-Up Capitalists“ privatisiert werden. Das Ende des sozialliberalen Zeitalters geht einher mit dem inneren Zerfall der westlichen Demokratien und ihrer Sozialmodelle. Mit den heute wieder verstärkt festzustellenden nationalistischen Tendenzen spukt demnach in den Köpfen neoliberaler Autokraten die Idee eines in Sonderwirtschaftszonen zersplitterten Kapitalismus herum. Der Historiker Slobodian zählt weltweit 5.400 dieser „Zonen“: ob als Lagerhallen, Produktionsstätten oder Gemeinden – man könnte auch die unzähligen Briefkastenfirmen hinzuzählen, die auch zehn Jahre nach den „Lux-Leaks“-Enthüllungen nicht aus Luxemburg verschwunden sind.

Slobodians von Stephan Glaser aus dem Englischen übersetztes Buch ist unterhaltsam und liefert zugleich eine Fülle an informativem Material. Allerdings klingt diese ökonomische Verfallsgeschichte, als hätte es vor dem Neoliberalismus keine Probleme und vor Hongkong keine Sonderwirtschaftszonen („Zonen“) gegeben. Hier greift das Buch zu kurz. Außerdem fällt Slobodians Analyse jenseits der Bestandsaufnahme und Anekdoten verhältnismäßig knapp aus. Nichtsdestotrotz ist es lesenswert.

Im Schlusskapitel kommt der Autor nochmals auf die „Zonen“ zu sprechen. Sie seien überall, schreibt er, „aber anders als von ihren Anhängern behauptet, sind sie keine vom Staat unbehelligten Inseln der Freiheit“. Weiter heißt es: „Stattdessen setzen die Staaten sie als Werkzeuge ein, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen.“ Dort, wo der sezessionistische Traum weiterlebe, werde er oft von einem Gefühl der Panik überlagert. „Abgesehen davon sehen die Vereinigten Staaten selbst wie eine Zone aus“, stellt Slobodian fest. Auch werde der Status der USA als einer Demokratie mittlerweile in Zweifel gezogen: Wie aus „Made in Hongkong“ einmal „Made in China“ wurde, entwickeln sich die USA laut Slobodian zur „Anokratie“, einem Staat, der weder Autokratie noch Demokratie ist.

Quinn Slobodian: Kapitalismus ohne Demokratie: Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen. Suhrkamp Verlag, 427 Seiten.

Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged , , , , , , , .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.