Letzte Woche brachte die Unabhängigkeitsbewegung zum katalanischen Nationalfeiertag wieder eine Million Menschen auf die Straße. Sie wurde somit ihrem eigenen visuellen Anspruch gerecht, doch die Rhetorik dreht sich im Kreis. Eindrücke aus Barcelona.
Auf dem Fernseher, der typisch spanisch während der Mittagspause im Hintergrund vor sich hin dudelt, laufen Kommentare von Separatisten in der Dauerschleife: Quim Torra, Roger Torrente, Elisenda Paluzie. „Mach die Scheiße endlich aus“, ruft mein Mitbewohner, Halb-Katalane, Halb-Amerikaner aus der Küche, „es ist immer die gleiche Scheiße.“
Die Rhetorik der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien mag stocken, doch die zivile Unterstützung bleibt ungebrochen. Am 11. September riefen die separatistischen NGOs Òmnium Cultural und Assemblea Nacional Catalana zu einer weiteren Demo am katalanischen Nationalfeiertag, der Diada, auf. Wie 2017 füllte laut Angaben der Polizei eine Million Menschen die Innenstadt Barcelonas.
Es ist somit die siebte Diada – die dem Fall der Stadt Barcelona am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges 1714 gedenkt – in Folge, die zum Pro-Unabhängigkeitsmarsch umgestaltet wurde. 2012 lag die Beteiligung bei etwa 1,5 Millionen (von insgesamt 7,5 Millionen Einwohner*innen). Die Bilder der Diada 2014 gingen dann um die Welt, als sich in den Straßen Barcelonas etwa 2 Millionen Menschen in den Farben der katalanischen Flagge zu einem überdimensionalen V formierten, das für „votar“ (wählen) stand.
Gut geölte Demonstrationsmaschine
Das Kampagnensymbol wird jedes Jahr über Wochen von der NGO Assemblea erarbeitet und organisiert: dieses Jahr wollte man sechs Kilometer der Avinguda Diagonal, einer der Hauptstraßen, die Barcelona durchquert, füllen. Eine visuelle Schallwelle sollte durch die Menge reisen und am Ende eine symbolische Wand fällen. Diese sollte, laut Organisator*innen, „die Widrigkeiten, Hindernisse und Repressionen, die jetzt und in Zukunft die Anwendung dieses demokratischen Mandats zur Selbstbestimmung verhindern“, illustrieren.
460.000 Menschen hatten sich im Vorfeld online angemeldet und wurden von den Organisator*innen gleichmäßig auf Abschnitte verteilt. Über 1.500 Busse brachten Leute aus ganz Katalonien in die regionale Hauptstadt. Mehr als 275.000 speziell für das Event angefertigte T-Shirts mit der Aufschrift „Wir machen die Republik Katalonien“ wurden im Vorfeld verkauft. Eine organisatorische Meisterleistung. Darüber hinaus organisierten die internationalen Sektionen der Assemblea Solidaritätsmärsche weltweit in über 40 Städten, darunter London und Mexico City.
Sympathien für die katalanische Unabhängigkeitsbewegung werden oft visuell überschwänglich ausgedrückt. Bestens eingedeckt mit Unabhängigkeitsflaggen und den frisch bedruckten, lachsfarbenen T-Shirts strömte die Menge also am frühen Nachmittag des 11. Septembers zur Avinguda Diagonal. Dazu brachte der öffentliche Transport noch einmal das Doppelte an Schaulustigen, Familien und Teenagern auf das Gelände. Gute Voraussetzungen für die Gala der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung also, obwohl das politische Lager in den letzten Wochen gespalten war. Es ging dabei vor allem um Andeutungen der zweitgrößten separatistischen Partei ERC, die nicht ausschließen will, ein Unabhängigkeitsreferendum mit dem spanischen Parlament auszuhandeln.
Im offiziellen Teil der Diada kam die Assemblea-Präsidentin Elisenda Paluzie zu Wort. Sie resümierte noch einmal die separatistische Narrative des letzten Jahres, angefangen bei der Unterdrückung während des unilateralen Referendums, bis hin zu den Gerichtsverfahren gegen Separatist*innen, die diesen Herbst zu erwarten sind. Unterstützt wurde sie unter anderem von Aamer Anwar, dem Anwalt der früheren Ministerin Clara Ponsati, die im schottischen Exil weilt. „Der frühere Diktator Francisco Franco wäre stolz auf dieses Spanien“, erklärte er. Darüber hinaus forderte er die bedingungslose Freilassung aller politischen Häftlinge. Die Politisierung des regionalen Feiertages stieß aber auch auf Gegenwehr: Die liberale Partei Ciudadanos und die sozialdemokratische PSC hatten sich zum ersten Mal von den institutionellen Ereignissen zurückgezogen, da die Hälfte Kataloniens vom Feiertag ausgeschlossen würde.
Einstimmung auf einen heißen Herbst
Auf der Demo merke ich schnell: Die Masse kannte ihre Rolle aus dem Eff-Eff. Seit letztem Oktober gab es mehr Demonstrationen als Streifen in der katalanischen Flagge. „Die Straßen bleiben für immer unsere“, schrien alle wie aus einem Hals. Kurz vor 17.14 Uhr – zum Gedenken an den Fall von Barcelona im Jahre 1714 – wurde es still. Westlich von uns riss die Menge ihre Hände in die Luft. Die La-Ola raste auf uns zu, über uns hinweg – die katalanische Schallwelle war schon vorbei. Der große Moment der Diada, so kurz, so antiklimaktisch. Die Menschen hatten die Orientierung verloren. War das schon alles? War das alles, wofür die katalanische Unabhängigkeit stand? Einige Gruppen versuchten sich von der Linie zu lösen, um Nachmittagstourismus in Barcelona zu verüben. Die übrigen Menschen wurden schnell von lokalen Marching Bands aufgefangen und zur Afterparty am Triumphbogen weitergetrieben.
Dort stehen alle vor der Bühne zusammengepresst. Zwischen den musikalischen Acts dann noch mehr Propaganda der Moderator*innen, deren Argumente mir aus dem Fernsehen arg bekannt vorkommen. Meinem Mitbewohner reicht es endgültig und wir verlassen das Konzert. Wir brauchen Minuten, um uns aus der Masse zu befreien.
Doch sobald wir wieder Luft kriegen, sehen wir, dass nur etwa die Hälfte des Platzes gefüllt ist. Die Seite der Unabhängigkeitsanhänger*innen mag zwar momentan visuell und symbolisch die Überhand gewonnen haben, doch sobald man dem Sog der Bewegung entkommt, erkennt man wieder, dass nicht alle Katalan*innen auch Separatist*innen sind. Auf der Straße, die wir überqueren, sind Hakenkreuze neben die Symbole der katalanischen Unabhängigkeit gesprayt.
Laut Organisator*innen war die Diada nur eine Einstimmung auf einen heißen Herbst. Mit Spannung werden die Prozesse der sogenannten politischen Häftlinge erwartet, der Politiker*innen, die teilweise seit November 2017 wegen ihrer Implikation im unilateralen katalanischen Referendum in Untersuchungshaft sitzen. Zudem muss der neue spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez sein Angebot eines Referendums zur Selbstverwaltung der autonomen Region ausarbeiten und mit den Separatist*innen verhandeln.