Literatur: „Gibt es Science Fiction in Luxemburg?“

Mit ihrem Online-Fanzine „Aner Welten“ verfolgen die Germanistin Sandy Heep und der Autor Cosimo Suglia ein klares Ziel: spekulative Fiktion aus Luxemburg fördern, die sich erst seit zehn Jahren hervortut. Wie hat sich das Genre entwickelt? Und welche Rolle spielen dabei marginalisierte Autor*innen? Ein Austausch.

Sandy Heep und Cosimo Suglia wollen mit „Aner Welten“ luxemburgische Literaturgeschichte schreiben. (Foto © Sandy Heep, Cosimo Suglia)

woxx: In der Präsentation Ihres Online-Fanzines „Aner Welten“ sprechen Sie von einem „Stigma“, das der spekulativen Fiktion und der Science Fiction anhafte und dem wollen Sie mit Ihrer Publikation entgegenwirken. Worin besteht diese negative Kennzeichnung konkret?


Sandy Heep: Die Stigmatisierung von Science Fiction macht sich schon dadurch bemerkbar, wo die entsprechenden Bücher in den Buchhandlungen einsortiert werden: Oft sind sie in der Abteilung für Kinder- und Jugendliteratur zu finden, statt zum Beispiel im Bereich für Krimis. Dabei sind Werke wie Mary Shelleys „Frankenstein“ (1818) alles andere als Kinder- und Jugendliteratur. In der TV- und Serienkultur wird Science Fiction regelrecht gefeiert. Du wirst heute daher auch nicht mehr belächelt, wenn du als erwachsene Person ein Spiderman-Shirt trägst. Im Literaturbetrieb jedoch ist der Umgang mit dem Genre weiterhin stiefmütterlich; das gilt auch für die Literaturszene in Luxemburg. Die größeren Verlage haben Angst, Texte anzunehmen und zu publizieren, die unter spekulative Fiktion fallen. Literarische Zeitschriften wie die „Les cahiers luxembourgeois“ sind dagegen offener.

Cosimo Suglia: Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass „Kremart Edition“ 2021 „Das Gangrän“ von Maxime Weber veröffentlicht hat, ein Buch, das unter spekulative Fiktion fällt. 2019 hat Jean Bürlesk den „Prix d´encouragement“ der Fondation Servais für sein Manuskript „The Pleasure of Drowning“ erhalten, das ebenfalls diesem Genre zugeordnet werden kann. Auch Francis Kirps‘ Texte haben etwas von H.P. Lovecraft, und er hat damit Erfolg. Es tut sich also hierzulande langsam etwas. Allgemein veränderte sich ab den 1990er- und 2000er-Jahren die Haltung gegenüber der spekulativen Fiktion und der Science Fiction. Das wird unter anderem durch den Erfolg von Autor*innen wie Kazu Ishiguro oder Margaret Atwood sichtbar, die heute als Klassiker gelten.

Cosimo, Sie haben sich in Ihrer Masterarbeit mit Science Fiction aus Luxemburg beschäftigt. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?


Cosimo: Es ist natürlich zu früh, um eine Bilanz zu ziehen: Die nationale Literaturszene entwickelt sich in diesem Genre erst seit ungefähr zehn Jahren, deswegen hatten Sandy und ich die Idee, das zu fördern und die Produktion spekulativer Fiktion durch „Aner Welten“ voranzutreiben. Am Anfang meiner Recherche standen jedenfalls drei Fragen: Was ist Science Fiction? Gibt es sie in Luxemburg? Und wenn ja: Welche Erzähltraditionen hat sie hervorgebracht? Ich habe mich auf Science Fiction konzentriert, mich aber auch mit der spekulativen Fiktion auseinandergesetzt. Was macht luxemburgische Science Fiction also aus? Nichts spezifisches, außer dass manche Texte, wie jene Maxime Webers, in Luxemburg spielen oder eine Dualität zwischen der Stadt und dem Land Luxemburg besteht. Ansonsten kommt man auf keinen gemeinsamen Nenner innerhalb des Genres in Luxemburg. Doch, vielleicht auf einen: dass sich an verschiedenen Science Fiction-Kulturen bedient wird. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass wir in Luxemburg Zugang zu Literatur in verschiedenen Sprachen haben.

In einem Facebook-Beitrag zu „Aner Welten“ schreiben Sie, der Vater der Science Fiction sei der Luxemburger Hugo Gernsback gewesen. Wie kommen Sie darauf?


Cosimo: Hugo Gernsback wurde in Luxemburg-Stadt geboren und wuchs in einer jüdischen Familie auf. Er war Ingenieur und wanderte 1904 im Alter von 19 Jahren nach New York aus. Dort hat er unzählige Dinge erfunden und 80 Patente angemeldet. Darüber hinaus war er Herausgeber einer Zeitschrift für Ingenieure, gründete später auch die erste Science Fiction-Zeitschrift, „Amazing Stories“. Es war sein Anspruch, Wissenschaft zu romantisieren, Technik logisch zu erklären und sich Geschichten auszudenken, die in der Zukunft spielen. Gernsback war dann auch der erste, der H.P. Lovecraft verlegt hat. Der größte Literaturpreis für Science Fiction, der „Hugo“, ist nach Gernsback benannt.

Meines Eindrucks nach wird er bei der Aufzählung luxemburgischer Literaturikonen selten erwähnt. Wie würden Sie ihn unter diesen einordnen?


Cosimo: In der Literaturvermittlung kann man ihn entweder auf eine Stufe mit Dicks und Michel Lentz stellen oder aber außen vor lassen, weil er Luxemburg jung verlassen hat. Zwar gibt es Belege, dass er sich immer wieder an sein Geburtsland erinnert hat, aber sein Bezug zu Luxemburg beschränkt sich darauf, dass er hier geboren und aufgewachsen ist. Auf Kirchberg ist immerhin ein Parkhaus nach ihm benannt. „Aner Welten“ soll ihm Tribut zollen: Er ist der Vater der Science Fiction und wir wollen dieses Erbe hochhalten.

„Es sind nicht mehr nur weiße Männer, die über Raumschiffe schreiben.”

Sie haben Mitte August die ersten Texte auf der Website veröffentlicht. Was hat Sie bisher am meisten begeistert?


Cosimo: Die Motivation, mit der die Autor*innen an das Projekt herangegangen sind! Ich habe im Vorfeld Bekannte und Freund*innen um Beiträge gebeten, die diese Bitte gleich weitergegeben haben. Auf diese Weise sind Autor*innen zusammengekommen, die bereits Texte veröffentlicht haben, und solche, die keine Erfahrung im Verfassen und Publizieren von eigenen Geschichten haben. Auch die Sprachenvielfalt hat mich beeindruckt: Wir haben Texte auf Englisch, Deutsch und Luxemburgisch erhalten. Besonders bei den luxemburgischen Texten – ich habe selbst einen Beitrag auf Luxemburgisch verfasst – gilt es, eine eigene Sprache zu finden: Es gibt kaum Vorlagen für spekulative Fiktion auf Luxemburgisch. Es ist anstrengend, eine eigene Stimme zu finden, statt bei anderen Kulturen spekulativer Fiktion abzuschreiben. Die Ergebnisse sind umso einzigartiger! Interessant ist auch, wie unterschiedlich die Personen das Genre interpretiert haben: Einige Texte fallen unter klassische Science Fiction, andere eher unter „Weird Fiction“ oder Geistergeschichten.

Sie schreiben in einem Facebook-Beitrag, dass sich das Genre verändert und diverser wird. Inwiefern?


Cosimo: Früher wurde Science Fiction streng von anderen Genres der spekulativen Fiktion getrennt. Heute sind die Übergänge in der Regel fließender. Der US-amerikanische Autor P. Djèlí Clark vermischt in seinen Werken beispielsweise Elemente verschiedener Genres: Marsmännchen landen auf der Erde und erlernen hier die Magie und Bräuche der Schamanen. Der Brite China Merville verknüpft in seinem Werk Marxismus und Science Fiction, während die Science Fiction in ihren Anfängen stark von der amerikanischen Kultur und kolonialen Denkmustern geprägt war.

Sandy: Die spekulative Fiktion entfernt sich heutzutage hiervon. Es ist ein Merkmal der Fantasy-Literatur, offen zu sein. Die Mischung zwischen Fantasy und Science Fiction ermöglicht es, diese Offenheit beizubehalten und mit harten Themen zu verbinden. Das Genre zeichnet sich auch durch die Vielseitigkeit der Autor*innen aus: Es sind nicht mehr nur weiße Männer, die über Raumschiffe schreiben.

Das Logo von „Aner Welten“ ist ein Käfer: Für Heep und Suglia eine Metapher für die spekulative Fiktion.

Inwiefern hat sich das Milieu der Science Fiction-Autor*innen geöffnet?


Cosimo: Der „Hugo“ und andere wichtige Preise des Genres gingen in den letzten fünfzehn Jahren vor allem an BPoC-Frauen, wie etwa an die Franko-Amerikanerin Aliette de Bodard. Darüber hinaus sind die afro-amerikanische spekulative Fiktion sowie der Afro-Futurismus erfolgreich. Es gibt auch regelmäßig Ausschreibungen, die sich ausschließlich an afro-Autor*innen oder an queere Personen richten.

Werden dadurch auch andere Themen aufgegriffen?


Cosimo: Das begann schon früher als man denken würde. Es gab schon in den 1960er- und 1970er-Jahren einzelne Texte mit progressiven Inhalten. Hierzu fällt mir unter anderem „The Left Hand of Darkness“ (1969) von Ursula K. Le Guin ein. In dem Buch wechseln Menschen jeden Monat ihr Geschlecht. Solche Werke bildeten jedoch eine Ausnahme. Das ist heute anders: Es sind inzwischen Autor*innen vertreten, die früher aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Gender nicht ernst genommen wurden. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Markt nicht mehr ausschließlich von traditionellen Verlagshäusern bestimmt wird, sondern Online-Magazine und Selbstverleger*innen ebenfalls eine Rolle spielen.

Sandy: Wir sind heute nicht mehr auf das beschränkt, was in den Bücherregalen der Buchhandlungen zu finden ist. Als weiße Frau aus Europa könnte ich so nur schwer erfahren, wie das Genre in anderen Kulturen ausgestaltet wird. Zwar gibt es in Buchläden Thementische zum „Black History Month“ oder zur Pride – und das ist gut –, doch das allein reicht nicht, um die Vielfalt der literarischen Stimmen abzubilden. Das Internet bietet mehr Spielraum: Es gibt Autor*innen die Möglichkeit, ihre Texte zu publizieren, ohne auf einen Vertrag mit einem Verlagshaus zu warten. Es ist wichtig, anderen Personen den Vortritt zu lassen und der Gruppe punktuell weniger Raum zu geben, die im Genre bisher überrepräsentiert war: weiße Männer.

Planen Sie Ausschreibungen, die sich an queere oder rassifizierte Menschen richten?


Sandy: Das ist derzeit nicht möglich, dafür ist Luxemburg zu klein und die Anzahl der Autor*innen letztlich überschaubar. Unser Anspruch ist daher zunächst: Sei kein Arschloch. Wir nehmen keine rassistischen oder homofeindlichen Texte an. Davon abgesehen sind alle willkommen, die sich an dem Genre versuchen wollen oder erfahren sind. Die Texte können auch unter einem Pseudonym veröffentlicht werden.

Das Logo von „Aner Welten“ ist ein Käfer. Das erinnert an die Erzählung „Die Verwandlung“ von Franz Kafka.Ist das eine Anspielung auf Gregor Samsa, der eines Tages als „Ungeziefer“ erwacht?


Sandy: Wenn Cosimo sich langweilt, zitiert er den ersten Satz aus Franz Kafkas „Die Verwandlung“ (1915). Allgemein ist er von Käfern besessen … Lass uns den Käfer Gregor taufen!

Cosimo: „Die Verwandlung“ ist meine liebste Kurzgeschichte.

Weshalb eignet sich der Käfer so emblematisch?


Sandy: Käfer repräsentieren die Kern-elemente der spekulativen Fiktion: Sie haben die spannendsten Eigenschaften und können verrückte Dinge anstellen. Sie leben gewissermaßen in ihrer eigenen Welt, die uns verborgen bleibt. Wir haben uns für dieses einfache Logo, für Gregor, entschieden, weil es Fragen aufwirft: Warum ein Käfer? Wofür stehen Käfer? Was hat das mit „Aner Welten“ zu tun? Und schon stellt man sich Fragen, die für die spekulative Fiktion relevant sind.

Cosimo: Insekten und Frösche stellen für mich Wesen aus einer Parallelwelt dar, deswegen schreibe ich oft über sie: Ihre Präsenz hat etwas von Aliens.

Das Online-Fanzine „Aner Welten“ ging Mitte August online: 
Die Germanistin Sandy Heep und der Autor Cosimo Suglia nehmen Kurzgeschichten (250 bis zu 2.000 Wörter) auf englisch, deutsch und luxemburgisch entgegen, die sie der Kategorie „Spekulative Fiktion“ zuordnen können. Darunter fallen unter anderem Fantasy, Science Fiction oder Steampunk. Eine Bezahlung der Autor*innen ist derzeit nicht möglich, aber für die Zukunft geplant. Weiterführende Informationen sowie die ersten Texte, inklusive Angabe der Lesedauer, gibt es unter anerwelten.lu.


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