Nutztierhaltung: „Wir brauchen eine Fleischwende“

Im Fleischatlas 2021 steht die Zukunft der Nutztierhaltung im Fokus: Wie sehen junge Menschen die heutige Fleischproduktion? Wie könnte diese ökologischer und nachhaltiger gestaltet werden? Und zurzeit besonders relevant: Wie lässt sich das Risiko weiterer Pandemien reduzieren?

Weltweit steigt die Nachfrage nach Fleisch, besonders nach jenem von Geflügel … (Roee Shpernik/Wikimedia Commons)

„Die wirtschaftlichen Interessen der milliardenschweren Fleischindustrie und die Reformverweigerung der Politik halten uns auf einem dramatischen Irrweg, der die ökologischen Grenzen des Planeten sprengt.“ Am Mittwoch stellten die hier zitierte Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, sowie Olaf Bandt, Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die neuste Ausgabe des Fleischatlas vor. Jedes zweite Jahr werden darin aktuelle Statistiken und Studien rund um Tiere als Nahrungsmittel vorgestellt. Anders ist diesmal, dass wir uns mitten in einer weltweiten Pandemie befinden, die das Thema Tierhaltung mit beispielloser Dringlichkeit in den Vordergrund rückt.

Oder besser gesagt „rücken müsste“. Wie im Vorwort der Publikation beschrieben, blieb eine grundsätzliche Infragestellung der globalen Lebensmittelindustrie auch 2020 aus. „Für uns ist es kaum nachvollziehbar, wie wenig sich ändert – trotz der seit nun fast zehn Jahren anhaltenden öffentlichen Kritik und der vielen Skandale.“ Mit Letzterem sind vor allem die Schlagzeilen rund um den Rheda-Wiedenbrücker Schlachtbetrieb Tönnies gemeint. Im Frühling standen die hohe Anzahl an Covid-19-infizierten Mitarbeiter*innen und die miserablen Arbeitsbedingungen des größten Schlachtbetriebs Deutschlands wochenlang im öffentlichen Rampenlicht. Dieser Thematik ist im Fleischatlas denn auch ein eigenes Kapitel gewidmet. Darin sind die prekären Arbeitsbedingungen beschrieben.

Die Probleme, die die Verfasser*
innen des Fleischatlas bei Betrieben wie Tönnies ausmachen, gehen jedoch weit über die Arbeitsbedingungen hinaus. Genau darum geht es im Kapitel „Konzerne“. Zusammen mit den Schlachthöfen Westfleisch und Vion, macht Tönnies in Deutschland zurzeit einen Marktanteil von 57,1 Prozent aus. Auch weltweit betrachtet wird die Fleischindustrie von einigen wenigen Unternehmen dominiert, der größte davon ist der brasilianische Konzern JBS, der mehr als 210.000 Tonnen Fleisch im Monat produziert. Die Marktdominanz dieser Konzerne ermöglicht es ihnen, ihr Fleisch äußerst billig zu verkaufen, kleinbäuerliche Betriebe werden verdrängt.

Tier, Mensch, Pandemien

Ein wenig überraschend ist nur eins der insgesamt 19 Kapitel dem Thema Pandemien gewidmet. Konkret geht es darin um sogenannte Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übergehen. Zu den bekanntesten Zoonosen zählen, neben Covid-19, unter anderem Aids, Rinderwahn, Vogelgrippe, Schweinegrippe und Sars. Zoonosen können sich in zahlreichen Kontexten vollziehen: etwa durch Tierweiden in der Nähe von Wäldern, durch den Verzehr exotischer Tiere oder den Export von Wildtieren und Wildtierprodukten. Der mit Abstand häufigste Grund für Zoonosen liegt in der Zerstörung von Lebensräumen, etwa durch Brandrodung oder Trockenlegung. Kommen die vertriebenen Wildtiere oder Mücken dann in Kontakt mit Nutztieren, ist das Risiko für eine Virusübertragung auf den Menschen groß. In diesem Zusammenhang wird im Fleischatlas auch die industrielle Tierhaltung als Problemursache hervorgehoben: Werden tausende Tiere mit wenig genetischer Vielfalt auf engstem Raum gehalten, kann sich ein eingedrungenes Virus leicht verbreiten. Das im Fleischatlas geäußerte Fazit ist eindeutig: „Um das Risiko künftiger Pandemien zu verringern, muss die Biodiversität unseres Planeten geschützt und die industrielle Tierhaltung umgebaut werden.“

www.bund.net

Abgerundet wird der Fleischatlas durch die Ergebnisse einer Umfrage. Dafür wurden im Oktober letzten Jahres 1.227 Personen im Alter von 15 bis 29 Jahren befragt. Einer der Befunde: Junge Menschen ernähren sich doppelt so häufig vegetarisch oder vegan wie der Rest der Bevölkerung. Neben den 13 Prozent, die gänzlich auf Fleischprodukte verzichten, ist auch die Anzahl an Flexitarier*innen beachtlich: Ein Viertel der Befragten bezeichnete sich als solche*n. Von den befragten Fleischesser*innen gaben 44 Prozent an, ihren Konsum verringern zu wollen. Die Umfrage bestätigt, was auch andere bereits zeigten: 70 Prozent der befragten Vegetarier*innen und Veganer*innen sind weiblichen Geschlechts. Daneben wurde auch eine Korrelation mit der politischen Gesinnung festgestellt: Ein gesteigertes Umwelt-, Ernährungs- und Tierschutzbewusstsein korreliert mit einem reduzierten Fleischkonsum. Die Verfasser*innen des Fleischatlas folgern: „Ganz offensichtlich ist der Fleisch- oder Nicht-Fleischkonsum heute ein stark politisches Thema, keine private ‚Geschmacksfrage‘.“ Unterschiede gibt es ebenfalls bei der Frage, wie die Nutztierhaltung in Zukunft gestaltet werden soll: Von den Veganer*innen sind 96 Prozent dafür diese abzuschaffen, bei den Vegetarier*innen 49 Prozent und bei den Flexitarier*innen 15 Prozent. Im Gegenzug dazu wurden bezüglich soziodemografischer Merkmale keine nennenswerten Unterschiede festgestellt, zwischen jenen, die Fleisch essen, und solchen, die darauf verzichten.

Die Frage, wie junge Generationen zu dieser Thematik stehen, stellt sich vor allem mit Blick auf das im Fleischatlas formulierte Ziel, den Fleischverbrauch in den Industrieländern zu halbieren. Nur so könnten Klima und Biodiversität nachhaltig geschützt werden. Das kann auf vielfältige Weise erreicht werden. Auf politischer Ebene sei neben einem Umbau der Fleischindustrie auch die Festlegung und Umsetzung von Reduktionszielen nötig. Laut Verfasser*innen des Fleischatlas ist man von letzterer Umsetzung zurzeit weit entfernt. Politische Interventionen würden mit der Begründung unterlassen, Bürger*innen frei über ihre Ernährung bestimmen lassen zu wollen. Informationskampagnen über Gesundheits- und Klimaeffekte eines zu hohen Fleischkonsums stünden laut Altas dabei oft im Schatten privatwirtschaftlicher Einflüsse: „Das verfügbare Angebot, die Preise, die Bildersprache und das gesamte Einkaufssetting beeinflussen Kaufentscheidungen mehr als das grundsätzliche Wissen über Umwelt, Tierwohl und Gesundheit.“

Auf individuellem Niveau wird geraten, den eigenen Fleischkonsum weitestgehend zu reduzieren und vor allem regionale Bioprodukte zu kaufen. Im Atlas wird auch daran erinnert, dass Fleischersatzprodukte nicht immer eine bessere Alternative sind, da sie häufig Eier enthalten, „was wiederum mit der Tötung von Küken einhergeht“. Denjenigen, die Fleisch essen, wird ans Herz gelegt, dieses wieder mehr wertzuschätzen. Gemeint ist damit etwa der verstärkte Verzehr von Innereien. Damit soll der hohen Verschwendung im Zusammenhang mit dem Fleischkonsum entgegengewirkt werden. Im Atlas werden diesbezüglich Zahlen zu Deutschland genannt: Der Verzehr von Innereien hat in den letzten 30 Jahren um 90 Prozent abgenommen; vom geschlachteten Schwein landen nur 60 Prozent auf dem Teller. Auch wenn manche Teile wie Krallen und Klauen zu Haustierfutter oder Biokraftstoff verarbeitet oder nach Asien exportiert werden (zum Beispiel Füße und Flügel), wird ein beträchtlicher Teil einfach entsorgt. Allein in Deutschland sterben jährlich fast 100 Millionen Tiere, ohne dass ihr Fleisch verzehrt wird. Dazu gehören etwa 200.000 männliche Milchrasse-Kälber und 45 Millionen männliche Küken. Weltweit gehen zwischen Schlachtung und Einzelhandel 11,9 Prozent verloren. Das sind 8,7 Milliarden Tiere.

Quelle: Hans Braxmeier/pixabay.com

Politische Verantwortung

Um diese Problematik in den Griff zu bekommen, reicht höhere Wertschätzung natürlich nicht aus. Bessere Haltungssysteme oder der Rückgriff auf Mehrnutzungsrassen (sodass beispielsweise keine männlichen Küken mehr getötet werden müssen) könnten laut Fleischatlas ebenfalls zu einer Besserung beitragen. Auch im Zusammenhang mit dem Individualverbrauch lenkt der Fleischatlas den Fokus immer wieder auf die politische Verantwortung: Preise für Fleisch müssten „die ökologischen und sozialen Kosten widerspiegeln, Werbung und Bebilderung sich an realistischen Produktionsbedingungen orientieren und Sonderangebote im Supermarkt so reguliert werden, dass sie nicht unter dem Produktionspreis verkauft werden.“ Sozial benachteiligten Gruppen könnte etwa durch die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze der Zugang zu nachhaltiger Ernährung zugänglicher gemacht werden.

Wie nicht anders zu erwarten, liefert der Atlas eine ganze Menge allgemeine Zahlen und Prognosen. So habe sich der Fleischkonsum in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt; ohne Kurswechsel sei bis 2028 eine Steigerung um 40 Millionen auf rund 360 Millionen Tonnen im Jahr zu erwarten. Während der Fleischkonsum in den Industrieländern leicht gesunken ist, steigt er in den Ländern des Südens aufgrund des schnelleren Bevölkerungswachstums weiter an. Wie bereits in vorangegangenen Ausgaben finden sich im Atlas zudem Kapitel zu den hohen Treibhausgasemissionen in der Viehzucht und zu Antibiotika, die in der Nutztierhaltung oft rein vorsorglich eingesetzt werden und beim Menschen zu resistenten Keimen führen können.

Alles in allem vermag es der Atlas einen generellen Überblick über eine große Bandbreite an Problematiken zu vermitteln. Die zweiseitigen Kapitel kratzen dabei jedoch nur an der Oberfläche, viele Informationen werden in einem Satz erwähnt, eine Kontextualisierung bleibt aus. So hängt etwa die Aussage, dass Fleischkonsum kulturell mit Männlichkeit assoziiert werde, im luftleeren Raum. Ob und wie diese Problematik bekämpft werden sollte, müssen die Leser*innen selbst einordnen.


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