Richtlinien für Kultureinrichtungen
: „Et muss eis op d’Fangere 
gekuckt ginn“


Den einen geht sie zu weit, den anderen nicht weit genug: Die im Juni 2022 in Kraft getretene Ethik-Charta für Kultureinrichtungen war vergangene Woche Thema bei einem Rundtischgespräch im Neimënster.

Könnten dem Trifolion Gelder gekürzt werden? Hilft die „Charte de déontologie“ Künstler*innen wirklich? Direktor Maxime Bender ist pessimistisch. (Quelle: Echternach.lu)

Im Wahlkampf war Kultur kein Thema und auch allgemein fehlt es hierzulande an einer gesellschaftlichen Debatte darüber. Die Konferenzreihe „Debattekultur, eng Kulturdebatt“ soll das ändern. Übergreifende Thematik der Konferenzreihe, die auf eine Initiative von Philosophin Nora Schleich zurückgeht, ist der Zugang zu Kultur. „Elitarismus in der Kultur“ war das Thema der ersten Ausgabe, in derjenigen vom 11. Oktober wurde sich mit der Ethik-Charta für Kultureinrichtungen befasst.

Seit diese im Juni 2022 der Presse vorgestellt wurde, ist es auffällig ruhig um sie geworden. Nicht etwa, weil sie von der Kulturbranche ignoriert worden wäre. Ganz im Gegenteil: 126 Kultureinrichtungen haben die Charta bisher unterzeichnet. Dass das 28-seitige Dokument, das Richtlinien in puncto Bezahlung und Diversität vorgibt, keine größere Kontroverse auslöste, liegt sicherlich an dessen partizipativem Ausarbeitungsprozess.

15 Monate nach Inkrafttreten der Maßnahme stellt sich allerdings die Frage: Hat sie etwas bewirkt? Muss nachgebessert werden? Müsste sie gar wieder abgeschafft werden, so wie es die ADR in ihrem Wahlprogramm forderte? Um über diese Fragen zu diskutieren, hatten sich am vergangenen Donnerstagabend Vertreter*innen der Luxemburger Kulturbranche in Neimënster zusammengefunden: Musiker und Direktor des Trifolion, Maxime Bender, Choreograf und Aspro-Mitglied Gianfranco Celestino, Richtung22-Mitglied Kevin Sousa, die Direktorin vom Neimënster, Ainhoa Achutegui, und Nadine Erpelding vom Kulturministerium.

„Es macht Sinn, Kultur und Ethik zusammenzudenken. Immerhin ist Kultur eine Sphäre, die einerseits von Werten und Normen geprägt ist, diese andererseits aber auch mitverhandelt und hinterfragt“, so die einleitenden Worte von Moderatorin Nora Schleich. Kultur vermittele Formen vom Miteinander, oft auch auf symbolische Weise, und habe aus dem Grund immer auch eine soziale Komponente. Schleich warf in diesem Kontext gleich mehrere Fragen auf: Ist es möglich, allgemeingültige moralische Prinzipien von oben herab vorzugeben? Darf sich ein Kulturministerium eigentlich auch um den Bereich Moral kümmern? Ab wann kann von Zensur gesprochen werden?

Zu streng? Nicht streng genug?

Als Maxime Bender ansetzte, die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Ethik-Charta zu beantworten, schien zunächst eine ablehnende Haltung durch. Sowohl die Freiheit der Künstler*innen als auch diejenige der Kultureinrichtungen müsse absolut sein, erklärte der Musiker, vorausgesetzt, sie handelten im Einklang mit der Gesetzeslage und der Verfassung. Er führte hier das Beispiel von Thilo Sarrazin an, der im Jahr 2016, noch bevor Bender Direktor wurde, ins Trifolion eingeladen worden war – eine Entscheidung, die damals für viel Kritik gesorgt hatte. Er selber, so Bender, hätte Sarrazin zwar nicht eingeladen, er könne die Entscheidung jedoch nachvollziehen: Sarrazin habe zwar ein umstrittenes Buch veröffentlicht, eine Straftat habe er jedoch nicht begangen.

Der Ethik-Charta ihre Existenzberechtigung absprechen, wolle er zwar nicht, dennoch habe er große Bedenken: „Mit der aktuellen Charta sind wir ganz zufrieden, mit dem Regierungswechsel könnte sich das aber ändern.“ Eine neue Regierung könne etwa entscheiden, Gelder zu streichen, wenn man sich nicht an die Charta halte, so eine von Benders Befürchtungen. Eine andere bezieht sich auf die Umsetzbarkeit: Das Trifolion etwa müsse nicht nur den Ansprüchen des Kulturministeriums gerecht werden, sondern auch denen der Gemeinde Echternach. Was aber, wenn sich die jeweiligen Richtlinien voneinander unterschieden? „Et ass e Balanceakt.“ Aus diesen Gründen lasse sich seine Meinung zur Ethik-Charta mit „Ja, aber…“ zusammenfassen.

(GilPe, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Ainhoa Achuteguis Meinung ist da schon weniger zwiespältig. Tatsächlich geht das Verfassen der Ethik-Charta unter anderem auf ihre Initiative zurück. In der Diskussionsrunde sprach sie sich einerseits für ethische Richtlinien für die Kulturbranche aus, wies jedoch auch auf deren Zeitgebundenheit hin. In dem Sinne müssten diese Richtlinien immer wieder überarbeitet und an gesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden. Dieser Ansicht ist auch Nadine Erpelding. Die Richtlinien seien bewusst allgemein gehalten, sie enthielten weder Zahlen noch Quoten. Die Charta solle sowohl das Kulturministerium selbst als auch die Kultureinrichtungen, die mit öffentlichen Geldern finanziert werden, daran erinnern, dass sie eine öffentliche Mission verfolgen, im Dienst der Bürger*innen stehen und entsprechend Verantwortung tragen. Sie beinhalte keine Vorgaben, rufe lediglich dazu auf, kulturelle Vielfalt zu befürworten. „An deem Kader programméiert dir, wéi dir wëllt, mee et ass net komplett ouni all Responsabilitéit.“ Direkten Bezug auf Benders Aussagen nahm sie, als sie den Punkt „L’intégrité“ in Erinnerung rief. Darin steht nämlich, dass niemand sich in die Programmation einer Kultureinrichtung einmischen darf, weder das Kulturministerium noch Sponsoren.

Zwischen Bender und Erpelding kam es im Laufe des Abends immer wieder zu einem solchen Schlagabtausch. Benders Hauptsorge betrifft Sanktionen, die einer Einrichtung im Falle des Nichtbefolgens der Richtlinien drohen könnten. Außerdem sei ihm nicht klar, wer denn schlussendlich darüber urteile, ob eine Richtlinie befolgt wurde oder nicht. Er habe sich beim Kulturministerium über Weiterbildungsangebote zur Umsetzung der Charta erkundigt, solche gebe es zurzeit jedoch nicht. An dieser Stelle wies Erpelding auf das Comité de Déontologie hin, eine Meldestelle für Missstände in der Kulturbranche. Diesem Gremium komme in erster Linie eine Vermittlerrolle zu. Dass dem Trifolion Gelder gekürzt werden könnten, weil sich Geldgeber fundamental an etwas störten, sei ein Risiko, das ganz unabhängig von der Charta bestehe.

Widersprüchliche Rolle

Erpelding nahm in der Diskussionsrunde eine widersprüchliche Rolle ein. Sie verteidigte die Wichtigkeit der Charta, spielte gleichzeitig aber deren Einfluss herunter. „Et stinn an der Charta keng wierklech konkret Mesuren dran, se ass vage gehalen an et gëtt keng richteg Méchanismen fir d’Kontroll.“ Sie verstehe, dass die Charta als Bedrohung wahrgenommen werden könne, damit es aber zu Sanktionen komme, müsse schon der Verdacht auf einen Gesetzesbruch bestehen.

Genau an dieser Ungenauigkeit stößt sich Kevin Sousa. Stellvertretend für Richtung22 erklärte der Künstler, dass eine Erweiterung der Richtlinien unbedingt nötig sei. „Mir liewe scho laang net méi an enger Gesellschaft, an där just fir Paritéit tëscht Männer a Frae gesuergt soll ginn.“ In seiner aktuellen Form komme der Kodex noch nicht denjenigen zugute, die ihn am dringendsten bräuchten. Das seien nicht die Wohlhabenden und Einflussreichen, sondern die intersektionale Minoritäten, „déi Leit, déi net automatesch Accès op Kultur a Konscht hunn an deenen et net onbedéngt an d’Wéi geluecht gëtt, dass se irgendwann Kënschtler ginn“. Immerhin solle Kunst dazu beitragen, den Menschen besser zu verstehen, statt nur der Förderung einer Hochkultur zu dienen. Bei den Gatekeepern der Kulturbranche handele es sich meist um sehr privilegierte Personen, wenn diese nicht wüssten, wie sie mit queeren Künstler*innen, Künstler*innen mit Behinderung, jenen mit Migrationshintergrund oder anderen Minoritäten umgehen sollten, würden sich Fehler ständig reproduzieren. Es fehle an Institutionen, so Sousa, die die Umsetzung der Richtlinien förderten. Eine konkrete Frage sei: Wie eine Kultureinrichtung unterstützen, die sich mit der Einhaltung der Charta schwertue? Sousa machte in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass die meisten Diskriminierungen auf interpersoneller Ebene stattfänden. „Am grousse Bild kann eng Kulturinstitutioun ganz ethesch riwwerkommen, och wa bei den alldeeglechen Interaktiounen e Problem besteet.“ Statt einer Liste mit allgemeinen Regeln, wäre es sinnvoller gewesen, wenn jede Kultureinrichtung bei der Ausarbeitung einer spezifisch auf sie zugeschnittenen Charta unterstützt worden wäre.

Dass die Charta so ungenau ist, stört auch Achutegui. Der erste Entwurf sei vom Kulturministerium ausgearbeitet worden, anschließend sei das Dokument während eines zweijährigen Prozesses immer wieder abwechselnd von Kulturszene und Ministerium überarbeitet worden. Der Text, der dabei herausgekommen sei, sei alles andere als radikal. Gerade die von Sousa angesprochene Geschlechterparität habe sich als Knackpunkt herausgestellt. Sie selbst empfinde Parität in der Programmation als das grundlegendste Prinzip. Das sähen jedoch längst nicht alle so: „D’Leit hu sech zerfetzt wéinst der Paritéit.“ Es sei darüber diskutiert worden, auch andere Minoritäten in der Charta zu thematisieren, davon sei am Ende nur die Frau-Mann-Parität übrig geblieben. Sie sei nun aber froh, dass trotz aller Meinungsunterschiede eine Charta herausgekommen sei, mit der sich alle identifizieren könnten. Die Ängste, die Bender beim Rundtischgespräch äußerte, teilt sie nicht: „Et muss eis op d’Fangere gekuckt ginn, mir musse kritiséiert ginn.“ Diese Rolle komme nicht nur dem Publikum, sondern auch der Presse zu. Idealerweise hätte die Kunstszene auch ohne Anregung durch das Kulturministerium eine solche Charta erstellt. Das sei allerdings nicht passiert.

Erpelding griff diesen Gedankengang auf, indem sie darauf hinwies, dass die Charta auf eine explizite Nachfrage des Kultursektors zurückzuführen sei. Vor allem während der Pandemie habe sich gezeigt: Die Frage, wer die Kosten übernimmt, wenn eine Veranstaltung wegen äußerer Umstände abgesagt werden muss, beantworteten die einzelnen Einrichtungen sehr unterschiedlich. Es habe sich zudem herausgestellt, dass Verträge zwischen Künstler*innen und Einrichtungen nicht überall Standard seien. „Et gi Strukturen, déi systematesch keng Kontrakter mat Kënschtler ofgeschloss hunn. Wann en Event huet misse wéinst Corona ofgesot ginn, haten déi Kënschtler guer näischt.“ Durch die Pandemie sei demnach die Dringlichkeit einer Charta deutlich geworden. Auch wenn man noch weit davon entfernt sei, eine Mindestbezahlung vorzuschreiben.

Auf die Ungenauigkeit der Charta kam Erpelding auch noch einmal zu sprechen. So habe man dadurch versucht, den unterschiedlichen Bedürfnissen und Budgets der jeweiligen Kultureinrichtungen Rechnung zu tragen. Was ihr allerdings bewusst sei: „Technesch gesinn hätt de Gros vun de Kulturstrukturen déi Charta net gebraucht. Awer net alleguerten.“ Was etwaige Selbstverständlichkeiten betrifft, gibt sie Achutegui Recht: „Et gi ganz vill Saachen, wou mir mengen, dat wier en Acquis, dat ass fir jiddereen normal, déi dat awer net sinn.“

Dass die Nachfrage nach einer Charta zu Beginn der Pandemie besonders laut wurde, kann Bender nachvollziehen. Er habe das Timing, inmitten von ständig wechselnden Hygienemaßnahmen für Kulturhäuser, einen ersten Entwurf des Kodex zu erhalten, als „komisch“ empfunden. Hilfreicher wären ihm in jener Zeit andere Maßnahmen erschienen, um der Branche unter die Arme zu greifen. „Een Incentive, deen de Ministère gemaach huet déi Zäit, war deen Neistart-Lëtzebuerg-Programm fir den Artisten ze hëllefen. Deen ass eemol komm an dunn ni méi. Ech hunn dat net verstan.“ Auch die Konventionen der Kulturhäuser hätten stärker erhöht werden können. „Se sinn erhéicht ginn zu ganz genau engem Prozent. Fir den Trifolion sinn dat ongeféier 40.000 Euro, domat kann ech net mol en Theaterstéck produzéieren.“ Er frage sich deshalb, ob das Ministerium der Kulturbranche in jener Zeit wirklich helfen wollte, oder ob die Charta vielmehr ein politisches Instrument gewesen sei. „Ech hat d’Gefill, wéi wann et eng Urgence politique wier, fir endlech déi Charte duerchzekréien. Et hätt ee sech och nach een, zwee Joer méi kënnen Zäit ginn.“ Er berichtete, dass ihm kürzlich von einer staatlich konventionierten Kultureinrichtung für ein Konzert eine Bezahlung von 400 Euro angeboten worden sei – für die gesamte Band, nicht pro Kopf, wie er betonte. Es handele sich wohlgemerkt um eine Einrichtung, die besagte Charta unterschrieben habe, präzisierte der Musiker. Er könne noch weitere solcher Beispiele nennen. „Wat mécht een da lo als Artist? Gräift déi Charte wierklech?“ Er selbst fände es wichtig, statt auf Richtlinien auf Sensibilisierung zu setzen. Er unterstrich an dieser Stelle erneut, wie nützlich er die Charta finde. Er begrüße durchaus, dass es nun Richtlinien gebe: „Virdru war d’Kulturzeen e Wilder Westen an duerch d’Charte ass de Wilder Westen mol e bëssen opgeraumt ginn.“


Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged , .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.