Die gesellschaftlichen Anforderungen an Kinder und Jugendliche sind heute enorm, der Druck ist hoch. Das hinterlässt Spuren: Laut einer Studie haben mehr als ein Drittel der befragten jungen Menschen mit Depressionen zu kämpfen. Die „Semaines de la santé mentale“ widmen sich noch bis zum 20. Oktober insbesondere diesem Problem. Doch die Versorgung älterer Menschen droht einmal mehr zu kurz zu kommen.

Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen steht dieses Jahr im Fokus der „semaines de la santé mentale“. (Foto: Gabriel Brito/Unsplash)
Schulischer Leistungsdruck, ständige Vergleiche in sozialen Netzwerken, Cybermobbing, soziale Ungleichheiten und Diskriminierung: „Noch nie war der Druck auf junge Menschen so intensiv wie heute“, so Fränz D’Onghia, Psychotherapeut und Leiter der „Ligue luxembourgeoise d’hygiène mentale“ (D’Ligue), bei der Eröffnungsveranstaltung der „Semaines de la santé mentale“ am vergangenen Montag. Die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen steht in diesem Jahr im Mittelpunkt der Aktionswochen, die auf das Thema mentale Gesundheit aufmerksam machen sollen.
Neben D’Onghia sitzt Gesundheitsministerin Martine Deprez (CSV), an ihrem Jackett heften zwei Schleifen, eine grüne, die für psychische Gesundheit steht, und eine rosafarbene, das internationale Symbol für den Kampf gegen Brustkrebs. Während die körperliche Gesundheit junger Menschen in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit zunimmt, ist es um deren psychische Gesundheit weniger gut bestellt. „Es ist das schwierigste Problem, mit dem wir in Bezug auf die öffentliche Gesundheit zu kämpfen haben“ sagt D’Onghia. „Wenn die rapide Verschlechterung, die sich hier zeigt, in einem anderen Gesundheitsbereich, wie Diabetes oder Krebs, aufgetreten wäre, hätten die Regierungen bereits zu drastischen Maßnahmen gegriffen“, zitiert der Experte aus dem Fazit einer Studie, die im August von der „Youth Mental Health Commission“, einem internationalen Expert*innengremium aus Forscher*innen der Fachzeitschrift Lancet Psychiatry, veröffentlicht wurde.
Die Zahlen, die in diesem Bereich für Luxemburg vorliegen, bestätigen diesen alarmierenden Trend. Der „HBSC-Report“ („Health Behaviour in School-aged Children“) des Ministeriums für Bildung, Kinder und Jugend, des Gesundheitsministeriums und der Uni Luxemburg untersucht seit 2006 alle vier Jahre das Verhalten und die Gesundheit von Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren. Der jüngste Bericht aus dem Jahr 2022 befasst sich mit verschiedenen gesundheitlichen Aspekten. In puncto psychischer Gesundheit ist die Tendenz in der Tat alarmierend: Noch 2010 antworteten „nur“ 21,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf die Frage, ob sie sich innerhalb der letzten 12 Monate zwei Wochen oder länger traurig gefühlt haben (eines der Diagnosekriterien für Depression) mit „Ja“. Das war immerhin ein Fünftel der Befragten. Im Jahr 2022 stieg diese Zahl jedoch auf 37,7 Prozent und damit auf mehr als ein Drittel der Befragten an. Noch deutlicher sind die Zahlen, die über Suizidgedanken und geplante suizidale Handlungen Auskunft geben: Bei beiden zeigte sich eine 85-prozentige Zunahme auf 23,9 bzw. 20,9 Prozent.
Wohlstand und Geschlecht
Nicht nur sind die gesellschaftlichen Erwartungen und Rahmenbedingungen belastend. Hinzu kommt, dass all diese Hürden in der ersten wichtigen Umbruchphase des Lebens, beim Übertritt von der Kindheit ins Erwachsensein, gemeistert werden müssen. Solche Transitionsphasen bergen Chancen für Wandel und Wachstum, gehen gleichzeitig aber auch mit einer erhöhten Anfälligkeit für psychische Erkrankungen einher. Kommen weltweite Krisensituationen, Umweltzerstörung und Zukunftsängste hinzu, ergibt sich ein erhöhtes Risikopotenzial für die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Im HBSC-Report wie auch im Bericht über Wohlbefinden und Gesundheit von Jugendlichen in Luxemburg ragen zwei maßgeblich beeinflussende Faktoren hervor. Das ist zum einen die Geschlechtszugehörigkeit. Besonders mit dem Eintritt in die Pubertät im Alter zwischen 11 und 13 Jahren zeigt sich bei Mädchen ein signifikanter Anstieg von Angstsymptomen, Depressionsgefährdung und Einsamkeit. Zugleich geht das Gefühl von Selbstwirksamkeit, also das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen, zurück. Ähnliche Auswirkungen hat nur der sozioökonomische Status. Während Jugendliche aus wohlhabenderen Familien durchweg von einer höheren Lebenszufriedenheit und einem besseren allgemeinen Wohlbefinden im Vergleich zu Jugendlichen aus weniger gut betuchten Familien berichteten, gaben letztere häufiger an, multiple gesundheitliche Beschwerden zu haben und sich öfter einsam oder traurig zu fühlen.
Die eingangs zitierte Studie der Youth Mental Health Commission gipfelt angesichts der dramatischen Situation in einem eindeutigen Appell: mehr präventive Maßnahmen, eine verbesserte Früherkennung und Intervention, zum Beispiel durch Schulpsycholog*innen und integrierte Versorgungssysteme, in der verschiedene medizinische und soziale Dienste miteinander verknüpft sind, um eine ganzheitliche Betreuung für junge Menschen zu gewährleisten. Auch Investitionen in Forschung und gezielte politische Maßnahmen sehen die Autor*innen der Studie als unerlässlich, um langfristig soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen, die die psychische Gesundheit beeinträchtigen.
„Wir brauchen andere Prioritäten in unserer Versorgungspolitik“, sagt auch Fränz D’Onghia und verweist zum Vergleich auf die positive Entwicklung, die sich im nationalen Gesundheitsplan Frankreichs abzeichnet, wo die psychische Gesundheit zunehmend als Priorität anerkannt wird, gerade auch mit Blick auf Kinder und Jugendliche.
Gesundheitsministerin Martine Deprez hat als Lehrerin während der Pandemiezeit das immer akuter werdende Problem der psychischen Gesundheit selbst erlebt. Sie spricht von einer geplanten Verstärkung der integrierten Versorgung. Eine Gesundheitsversorgung also, die auf die Zusammenarbeit verschiedener Akteure baut und Übergänge fließend gestaltet. Ein wunder Punkt, wie Fränz D’Onghia gegenüber der woxx bestätigt. Kommt es zu einem Übergang zwischen Kinder- und Jugendklinik oder dem Wechsel von einer stationären zu einer ambulanten psychotherapeutischen Betreuung, funktioniere dieser nur dann gut, wenn sich zufällig zwei Therapeut*innen aus den verschiedenen Strukturen kennen. Obwohl diese „Bruchstellen“ Gefahren für den Behandlungsverlauf darstellen, gibt es keine strukturierten Übergänge.
In Luxemburgs Krankenhäusern gibt es zwei große spezialisierte Abteilungen für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen: zum einen die Kannerklinik des Centre Hospitalier de Luxembourg für Kinder bis 12 Jahre, zum anderen die Jugendpsychiatrie Kirchberg, eine Einrichtung der Hôpitaux Robert Schuman, für Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren. Danach ist die Erwachsenenpsychiatrie zuständig. Die Splittung der Gesundheitsversorgung, auch zwischen stationärer Versorgung, wie etwa in einer Klinik, und ambulanten Angeboten, wie etwa eine Psychotherapie, führen auch an diesen Umbruchstellen zu einem erhöhten Gesundheitsrisiko für Betroffene.
Die andere Seite
Wenn schon die psychische Gesundheit in der öffentlichen Wahrnehmung im Vergleich zur körperlichen hintansteht und der Akzeptanz psychischer Erkrankungen trotz deren zunehmender Verbreitung diverse Vorurteile entgegenstehen, kann die andere Seite des Altersspektrums, Menschen ab 65, von einer derartigen Aufmerksamkeit nur träumen (siehe „Der blinde Fleck“ in woxx 1786). Eine Verpflichtung zur regelmäßigen Überprüfung der Lebenssituation, wie bei Kindern und Jugendlichen, existiert überhaupt nicht; im nationalen Aktionsplan für mentale Gesundheit ist die wachsende Bevölkerungsgruppe unterrepräsentiert. Obwohl psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen und Suchterkrankungen auch bei älteren Menschen immer häufiger vorkommen, wird der Fokus in der mentalen Gesundheitsversorgung bei dieser Altersgruppe strikt auf Demenzerkrankungen gelegt. Psychotherapeutisch ist diese Gruppe unterversorgt.

(Foto: Fa Barboza/Unsplash)
Seit Februar 2023 übernimmt die „Caisse nationale de santé“ (CNS) die Kosten einer Psychotherapie für Minderjährige vollständig, für Erwachsene zum Teil (70 Prozent). Im letzten Jahr war jede*r vierte in Therapie befindliche Versicherte unter 25 Jahre alt. Besonders deutlich zeigt sich der Altersunterschied bei der Behandlung von Depressionen, die psychotherapeutisch auch noch im höheren Lebensalter gut behandelbar sind. Gleichwohl machen beispielsweise in Deutschland laut der dortigen Kassenärztlichen Bundesvereinigung, die für die Abrechnung der Behandlungen zuständig ist, nur fünf Prozent der Erwachsenen im Alter zwischen 65 und 80 im Falle einer depressiven Erkrankung eine ambulante Psychotherapie, im Gegensatz zu 20 bis 25 Prozent aller jüngeren Erwachsenen. Mit über 80 Jahren begibt sich weniger als ein Prozent in eine psychotherapeutische Behandlung.
Dabei gibt es gerade in dieser Altersgruppe einen Bedarf, wie sich an den Suizidzahlen in Luxemburg zeigt. „Von den insgesamt 60 bis 70 Personen, die sich laut statistischen Erfassungen jedes Jahr in Luxemburg das Leben nehmen, ist das Risiko bei den über 75-Jährigen vergleichsweise am höchsten. Die Suizide bei älteren Menschen übersteigen die der unter 25-Jährigen sogar um das Drei- bis Vierfache“, heißt es in der Broschüre „Ja zum Leben, aber nicht mehr so!“, die im Rahmen des ersten Nationalen Suizidpräventionsplans 2015-2019 erstellt wurde.
Angststörungen, Depressionen und auch Suchterkrankungen sind Thematiken, die sowohl in der ersten Umbruchs- oder Übergangsphase des Lebens wie auch in der letzten, die mit dem Renteneintritt beginnt, verstärkt auftauchen. Der Blick der Gesellschaft und auch der Blick der behandelnden Ärzt*innen und Psycho- therapeut*innen ist jedoch, was die Bedürfnisse älterer Menschen anbelangt, getrübt. „Der diagnostische Blick ist hinsichtlich älterer Patient*innen leider viel weniger genau, wenn es um Suchterkrankungen, aber auch generell um psychische Störungen geht. Bei jüngeren Patient*innen wird aufgrund einer konkreten Diagnose ein angepasster Behandlungsplan aufgestellt, bei älteren Menschen werden Auffälligkeiten eher als normale Alterserscheinungen abgetan“, schreibt Sacha Bachim, Psychotherapeut und Fachberater für Suchtprävention und Gesundheitsförderung beim „Centre national de prévention des addictions“ (Cnapa) auf Anfrage der woxx. In einer Gesellschaft, in der die Menschen nicht nur individuell immer älter werden, sondern die durch den demografischen Wandel auch als Ganzes altert, ein blinder Fleck mit nicht absehbaren Folgen.
Gemeinsame Zukunft
Die Gründe für den Psychotherapiemangel für ältere Menschen liegen sowohl an inneren Barrieren der Betroffenen („in meinem Alter ändern Menschen sich nicht mehr“) als auch an der Altersdiskriminierung vonseiten der Behandelnden. So zeigen Experimente mit Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen, dass sie unbewusste Altersstereotype in ihre Behandlungsentscheidungen einfließen lassen. Wenn sie dachten, eine Person sei älter (78 Jahre im Gegensatz zu 50 Jahren), hielten sie die Person für weniger therapiefähig und schätzten ihre Prognose schlechter ein. Als Folge waren sie weniger motiviert, die Betreffenden psychotherapeutisch zu behandeln. Der Glaube, ältere Menschen seien weniger veränderungsfähig und sollten primär mit Medikamenten statt Psychotherapie behandelt werden, hält sich auch unter Fachpersonen hartnäckig. Dabei sind Studien zur Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie, Problemlösetherapie oder Lebensrückblicktherapie zur Behandlung von Depressionen mittlerweile zahlreich. Zudem kann eine unspezifische „Gießkannenbehandlung“ mit Medikamenten wie Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu einer weiteren Verschlechterung der mentalen und körperlichen Gesundheit beitragen.
Sacha Bachim ist mit der Cnapa Teil der Arbeitsgruppe „Psychische Gesundheit im Alter“, in der auch „D’Ligue – Centre d’information et de prévention“, der Seniorenwohnheimbetreiber „Servior“, die Gemeinde Hesperingen und das „Gero-Kompetenzzenter fir den Alter“ mitwirken. Anfang Oktober präsentierte die Arbeitsgruppe die Broschüre „Medikamente verantwortungsvoll gebrauchen“, um für einen bewussten Umgang mit Medikamenten im Alter zu sensibilisieren. „Es ist wichtig, im Alter genauso diagnostisch vorzugehen wie bei jüngeren Patienten“, sagt Bachim. Es gebe klare Empfehlungen für wirksame Behandlungsmethoden (medikamentöse, aber ganz oft auch nur psychotherapeutische) bei verschiedenen Diagnosen. „Auch im hohen Alter sind diese Behandlungen wirksam“, versichert der Psychotherapeut. „Sie werden aber erst möglich, wenn wir von der Gießkannenmethode wegkommen und Patient*innen ernst nehmen, egal wie alt er*sie ist.“
Die vierte Ausgabe der „Semaines de la santé mentale“ steht in diesem Jahr unter dem Motto „Déi Jonk stäerken, d’Zukunft gestalten“. Im ganzen Land finden noch bis zum 20. Oktober über 130 Veranstaltungen, wie Vorträge, Diskussionsrunden, Workshops, Kunst- und Informationsveranstaltungen für Betroffene, Angehörige, Fachpersonen und die breite Öffentlichkeit statt. Als besondere Aktion werden kostenlos 500 Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit angeboten. Rund um den Welttag für psychische Gesundheit am 10. Oktober finden in vielen Ländern ähnliche Initiativen statt. Neben Luxemburg beteiligen sich auch Länder wie Frankreich, Deutschland, die Schweiz und Belgien an den Aktionswochen mit verschiedenen Veranstaltungen, um das Bewusstsein für psychische Gesundheit zu fördern und Stigmatisierung abzubauen. www.semainesantementale.lu