Simone Mousset: „Trauer um meinen Glauben an das menschliche Potenzial”

Am zweiten Dezemberwochenende bringt das Escher Theater das interdisziplinäre Stück „Empire of a Faun Imaginary“ auf die Bühne. Simone Mousset, Choreografin, spricht im Vorfeld der Premiere mit der woxx über die Grausamkeit und Schönheit der menschlichen Existenz.

Simone Mousset, luxemburgische Tanzkünstlerin, schafft in ihren interdisziplinären Arbeiten neue Realitäten und surreale Welten. 2017 erhielt sie den Lëtzebuerger Danzpräis. (Copyright: Sven Becker)

woxx: Simone Mousset, in „Empire of a Faun Imaginary“ thematisieren Sie die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz und fragen, wie Menschen das Träumen neu erlernen können. Haben Sie sich für ein interdisziplinäres Stück entschieden, weil es keine klare Antwort auf diese Frage gibt?


Simone Mousset: Spontan würde ich die Frage bejahen, doch im Schaffens-
prozess ist dieser Gedanke nicht präsent. Umso spannender finde ich es, dass Sie diese Perspektive aufbringen – das ist das Schöne an Kunst, dass andere Menschen Aspekte in meiner Arbeit erkennen, die unbewusst hineinfließen.

Warum verbinden Sie in „Empire of a Faun Imaginary“ Tanz und Gesang?


Tanz reicht als Ausdrucksmittel manchmal nicht aus, um die Themen darzustellen, die mich beschäftigen. Der Rückgriff auf weitere Disziplinen geschieht intuitiv, ich kann mir nicht vorstellen, mich nur einer Kunstform zu bedienen. Für mich stellt sich immer die Frage: Was drückt am besten aus, was ich sagen will? In diesem Stück ist es besonders die Stimmarbeit, denn es geht um die Sehnsucht, über sein Dasein als Mensch hinauswachsen zu können, und sich mit einer größeren Kraft außerhalb des eigenen Körpers zu verbinden. Es geht um das Bedürfnis zu schreien und um die Sinnlosigkeit des Schreiens.

Woher kommt dieses Bedürfnis?


In der Menschheitsgeschichte gab es immer schon diesen Drang, dieses Ritual der Vorführung: Menschen malten an Wände, schüttelten ihre Arme und Beine, versammelten sich, um sich Geschichten zu erzählen. Menschen wollten also immer schon weitergeben, was ihnen wichtig ist. Sie greifen dabei auf die unterschiedlichsten Ausdrucksformen zurück, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. Könnte ich klar formulieren, was ich meine, könnte ich es einfach aussprechen, aber da dem nicht immer so ist, lege ich Elemente einzelner Kunstbereiche in mein Werk. Bei diesem Stück ist es wie gesagt der Gesang, mit dem ich bisher wenig Erfahrung hatte.

Ein Wagnis, oder?


Ich befördere mich gerne an Orte der Unsicherheit und trete in einen Dialog mit der Ungewissheit. Das ist kein gemütlicher Ort, aber sobald ich mich einer Sache zu sicher fühle, kann ich mich selbst nicht mehr überraschen, kann ich nichts Neues entdecken oder Welten erkunden, die mir sonst aus Angst verschlossen geblieben wären. Ich destabilisiere mich selbst, was auch ein Element des Stücks ist. Ich bin ein unentschlossener Mensch, hänge oft ein „oder auch nicht“ ans Ende meiner Sätze, weil ich Dinge in Erwägung ziehe, sie kurze Zeit später jedoch wieder hinterfrage. Gleichzeitig muss ich in meiner künstlerischen Arbeit auf meine Intuition vertrauen und einfach etwas wagen. Ich arbeite oft mit Menschen zusammen, die Macher*innen sind und die Dinge anpacken. Unsere Herangehensweisen ergänzen sich, wir lernen voneinander.

Diese Szene aus „Empire of a Faun Imaginary“ zeigt einen von vier verzweifelten Waldgeistern, deren Weltordnung unerwartet ins Wanken gerät. (Copyright: Camilla Greenwell)

Was heißt das konkret?


Für dieses Stück habe ich viel mit Text gearbeitet, das ist in der Form neu für mich. Eine Dramaturgin hat mich über meine eigenen Grenzen hinausgeschoben und mich ermutigt, meine vielen Ideen zum Stück in einer Kurzgeschichte zu behandeln. Diese Kurzgeschichte diente uns dann als Anhaltspunkt: Es geht um vier Faunen, die auf einem anderen Planeten leben, täglich in Reih und Glied nebeneinandersitzen, bis sich diese Linie eines Tages aus unbekannten Gründen verschiebt. Die anderen Künstler*innen, mit denen ich zusammenarbeite, fanden unterschiedliche Momente der Geschichte inspirierend. Sie war Futter für uns alle. Aus diesem Prozess entstand ein fantastisches Ganzes. Als Choreografin entscheide ich, welches Material wir am Ende benutzen, und bringe es in Form.

„Weder die Künstler*innen noch die Zuschauer*innen mögen wissen, was sie im Theater suchen, doch da ist irgendwo diese Hoffnung, dass es uns weiterhilft.“

Zentrale Themen des Stücks sind die anhaltende Unordnung und Unsicherheit, mit der die Menschheit konfrontiert ist. Stiften Kunst und Kultur Ordnung oder Chaos?


Mir fällt dazu „god-building“ ein, auch wenn das Ihre Frage nur indirekt beantwortet. Der russische Schriftsteller Maxim Gorki war einer der wichtigsten Vertreter dieser philosophischen Strömung in der Sowjetunion. Darin wurde Gott als übernatürliches Wesen abgeschafft. Letztere Form der Religion wurde durch die Kraft der Gemeinschaft bei großen Aufmärschen, nationalen Ritualen und Feierlichkeiten ersetzt. Dieser Gedanke fasziniert mich. Kann Theater eine vergleichbare Rolle übernehmen? Kann ein Stück die DNA der Gesellschaft verändern? „Empire of a Faun Imaginary“ konfrontiert das Publikum mit der Ambiguität der menschlichen Existenz und versucht in dem Kontext für mehr Ordnung, für mehr Klarheit zu sorgen. Es stellt die Komplexität der menschlichen Emotionen dar und unseren Umgang damit; es zeigt auf, wie schön und furchtbar zugleich Sinnlosigkeit sein kann. Ungewissheit, Sinnlosigkeit – daraus besteht die Kondition des Menschen. Müssen wir darunter leiden? Ordnung und Gewissheit sind nicht immer das Fruchtbarste. Wir sollten in unserer existenziellen Verzweiflung Trost finden. Ich selbst befinde mich ständig in diesem Zustand der Ambiguität, deswegen fällt es mir auch schwer, Ihre Frage zu beantworten. Am Ende scheint mir die Wahrheit, dass niemand weiß, was wir von Kunst erwarten – deswegen probieren wir alles Mögliche aus. Weder die Künstler*innen noch die Zuschauer*innen mögen wissen, was sie im Theater suchen, doch da ist irgendwo diese Hoffnung, dass es uns weiterhilft.

In Ihrem Projekt „Bal“ (2017) haben Sie die Geschichte von zwei Folk-Tänzerinnen aus Luxemburg erfunden und eine Ausstellung dazu konzipiert, die das Publikum glauben ließ, es handele sich um eine wahre Begebenheit. Was fasziniert Sie an alternativen Realitäten, die auch in „Empire of a Faun Imaginary“ eine Rolle spielen?


Manchmal befinde ich mich mental an düsteren Orten, bin mir unsicher, was mir noch wichtig ist. Es sind Momente, in denen mir bewusst wird: In dieser Welt bin ich ein sterblicher Mensch, genauso wie meine Familie. Ich stoße mich daran, weil diese Realität für mich sinnlos ist. Ich wünsche mir dann, dass es irgendwo einen Spiegel gibt, durch den ich hindurchklettern kann, um an einem noch unbekannten Ort voll neuer Möglichkeiten aufzutauchen. Was wäre das für eine Welt? Die simpelste Variante: Die Fantasie, an der ich mich festhalte. In meiner Arbeit geht es oft um die Trauer über die Armut unserer Realität. Die Tatsache, dass damals so viele Menschen an die Geschichte hinter „Bal“ geglaubt haben, zeigt vielleicht, dass auch sie diese Sehnsucht nach mehr haben. Wir sind alle auf der Suche nach dem, was außerhalb unserer Wahrnehmung liegt. Ich glaube, das beschäftigt die Menschheit generell, was sich auch in der rituellen Magie oder in Glaubensrichtungen bemerkbar macht. Das hat wohl damit zu tun, dass der Mensch an etwas glauben will. Für mich sind Geschichten ein Mittel, weiter zu träumen und meine Sehnsucht nach Spiritualität auszuleben. Theater ist für mich eine Form der Spiritualität.

Wie passt dazu die Gewalt, die Sie laut Pressedossier in „Empire of a Faun Imaginary“ thematisieren wollen?


Der Titel ist das erste Element des Stücks, für das ich mich entschieden habe. Es war mir wichtig, dass er „Empire“ enthält, später kamen „Faun“ und „Imaginary“ dazu. Es war eine Art poetisches Puzzle. Das Wort „Empire“ vermittelt für mich eine gewaltige, skrupellose, unterdrückende Kraft, „Faun“ und „Imaginary” die Welt der Fantasie, der Irrealität, der Vorstellungskraft. Was wäre also, wenn ein verträumter Waldgeist zur einflussreichen Machtfigur würde, der die Menschheit unterjocht? In dem Sinne, dass er uns alle zu Träumer*innen macht und die Vorstellungskraft zu unserem Antrieb wird? Vielleicht braucht es eine radikale Verwandlung der Menschheit, damit sich die Dinge ändern; vielleicht ist es an der Zeit, dass die Kraft der Imagination nicht mehr nur Nebensache ist, sondern eine Macht, die sich aufzwingt.

Copyright: Sven Becker

Warum gerade jetzt?


Der Krieg in der Ukraine hat mich stark beeinflusst. Er begann in unserer ersten Probewoche; mein Ehemann ist ein russischer Regimegegner. Es ist desillusionierend zu beobachten, dass sich Geschichte wiederholt, statt sich zum Guten zu wenden. Ich war mit 16 Jahren zum ersten Mal in Russland und bin danach regelmäßig zurückgekehrt. Mein Ehemann und ich haben während meiner Studienzeit zwischen London und Moskau gelebt, kurz vor Ausbruch der Pandemie habe ich eine mehrmonatige Reise durch Russland unternommen und mit Tanzkompanien vor Ort zusammengearbeitet. Das Zeitfenster, in dem so etwas möglich war, ist jetzt zu …

„Was wäre also, wenn ein verträumter Waldgeist zur einflussreichen Machtfigur würde, der die Menschheit unterjocht?“

Bedeutet Kunst für Sie Flucht oder Konfrontation mit diesem desolaten Zustand der Menschheit?


Definitiv beides. „Empire of a Faun Imaginary“ ist das erste Stück, in dem es persönlich wird. Ich habe mich noch nie so verletzlich gezeigt, noch nie die Dunkelheit in mir so zum Ausdruck gebracht. Es geht um den Horror in mir, um die Schwierigkeiten, mit dem Leben umzugehen. Ich denke, dass vieles, was ich in dem Stück zeige, depressive Zustände darstellt. Es gibt viele Menschen, die mit diesen Gefühlen zu kämpfen haben. Das in dem Stück zur Sprache zu bringen, ist für mich eine Konfrontation. Bei „Bal“ würde ich eher von Flucht sprechen: Flucht aus der Langeweile und Lust, etwas Neues zu erschaffen. Kunst ist für mich ein Mittel, sich selbst besser zu verstehen und herauszufinden, was in schweren Zeiten hilft: Gespräche mit Psycholog*innen, die Nähe von Freund*innen, Kunst, Magie …

Am Ende zurück zu einer Ihrer Ausgangsfragen: Warum glauben Sie, dass wir Menschen das Träumen verlernt haben?


Gute Frage, vielleicht sollte ich nicht immer von mir auf andere schließen! Ich habe es verlernt zu träumen, oder anders gesagt: Für mich drückt dieses Stück eine Art Trauer um meinen Glauben an das menschliche Potenzial aus. Das ist nicht zwangsläufig ein endgültiger Zustand. Nur kann ich mir manchmal nicht vorstellen, wie ich meinen Alltag meistern soll, und weine in der Küche. Auf ähnliche Weise kann mir auch nicht vorstellen, wie die Menschheit weiterhin bestehen kann und fantasiere dann von einer unvorstellbaren Kraft, die weit über die menschlichen Kapazitäten hinausgeht; die so mächtig ist, dass sie den Himmel aufreißen könnte! Krieg und Klimakrise sind offensichtlich nicht mächtig genug, um wahre Veränderungen herbeizuführen … Ich finde das unglaublich tragisch: Der Mensch versucht, versucht und versucht besser zu werden, doch er kommt nicht weiter, bis der Planet explodiert.

Empire of a Faun Imaginary, 
am 9. und 10. Dezember um 20 Uhr 
sowie am 11. Dezember um 17 Uhr 
im Escher Theater. 2023 auf Tour durch 
Frankreich und Großbritannien.

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