Soziale Ungleichheiten: „Ein Armutszeugnis“

Die sozialen Ungleichheiten in Luxemburg steigen an, wie die Salariatskammer am Mittwoch auf ein Neues betonte. Negativ fallen die anhaltenden Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmer*innen auf.

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„Fraen hunn e méi grousse Risiko an eiser Aarbechtswelt“ – so eine Einschätzung die Jean-Claude Reding, Vizepräsident der Chambre des Salariés (CSL) am Mittwoch Vertreter*innen der Presse mitteilte. Sie basiert auf Daten, die die CSL in Form des „Panorama social 2021“ zusammengetragen hat.

Insgesamt vermag es die Broschüre eine gute Übersicht über die hiesige Arbeitswelt zu vermitteln: Vergleiche mit Vorjahren sowie anderen europäischen Ländern erleichtern die Einordnung; die punktuelle Aufschlüsselung der Daten nach Alter, Geschlecht, Berufssparten und anderen Charakteristiken hilft dabei, Risikogruppen auszumachen.

Redings Erkenntnis erschließt sich beim Durchlesen des 129-seitigen Dokuments keineswegs auf den ersten Blick. Die aus vielen unterschiedlichen Quellen zusammengetragenen Daten sind nämlich durchaus nicht alle nach Geschlecht aufgeschlüsselt. Auch die Aktualität der Daten variiert je nach Kategorie stark. So gibt es bei manchen Rubriken Zahlen von 2020, in anderen liegen die letzten Erhebungen jedoch ein paar Jahre zurück. Als „Armutszeugnis“ bezeichnete Sylvain Hoffmann, Direktor der Salariatskammer, den Mangel an aktuellen Statistiken im sozialen Bereich am Mittwoch. In der Wirtschaft sei das anders. Dass das Bruttoinlandsprodukt nur alle paar Jahre berechnet würde: undenkbar.

Ein umfassendes Bild bezüglich Geschlechterdisparitäten liefert das Panorama social demnach nicht. Vorerst muss jedoch mit dem gearbeitet werden, was da ist, und die wenigen, nach Geschlecht aufgeschlüsselten Kategorien mühsam ausfindig gemacht werden. Trotz mangelhafter Datenlage zeichnen sich punktuell klare Tendenzen ab. In der Alterssparte der 15- bis 64-Jährigen sind 69,9 Prozent der Männer und 63,6 Prozent der Frauen in Arbeit. In Luxemburg arbeiteten Frauen 2019 im Schnitt 35 Stunden die Woche, Männer dagegen 40.

Arbeitsverzicht aus 
familiären Gründen

Unterschiede gibt es auch bei der Arbeitslosigkeit: Während die Langzeitarbeitslosigkeit bei Männern seit zwei Jahren sinkt, steigt sie bei den Frauen an, sodass sie die Männer mittlerweile sogar überholt haben. 16,7 Prozent der Arbeitnehmerinnen haben 2020 den Salaire social minimum erhalten, allerdings nur 13,2 Prozent der Arbeitnehmer.

Während solche Unterschiede noch vielfältig interpretierbar sind, kristallisieren sich deutliche Geschlechterrollen heraus, sobald die Beweggründe für bestimmte Lebens- oder Karriereentscheidungen in den Blick gefasst werden. Im Jahr 2019 gingen 118.500 Menschen keiner Arbeit nach, 43 Prozent davon Männer, 57 Prozent Frauen. Die Gründe dafür divergieren stark je nach Geschlecht: Rund 40 Prozent der 25- bis 49-jährigen Frauen nannten „familiäre Verpflichtungen“, bei Männern traf dies nur in rund 10 Prozent der Fälle zu. Bei Letzteren dominierte mit rund 50 Prozent „autres raisons“, an zweiter Stelle standen mit rund 18 Prozent „Krankheit“ und „Ausbildung“. Bei den 50- bis 64-jährigen Frauen gaben immerhin noch 20 Prozent als Grund „familiäre Verpflichtungen“ an.

Redings Aussage trifft natürlich nicht nur auf Luxemburg zu. In manchen Bereichen fällt das Großherzogtum im internationalen Vergleich jedoch besonders negativ auf. In keinem anderen europäischen Land arbeiten derart viele Frauen in Teilzeit. Mit 82,1 Prozent weiblichen Teilzeitarbeitnehmer*innen liegt Luxemburg rund 6 Prozentpunkte über dem europäischen Schnitt. 30 Prozent der Frauen tun dies wegen familiärer Verpflichtungen, 26 Prozent nennen „assistance de proches“ als Beweggrund. Männern entschieden sich dagegen überwiegend eines Studiums oder einer Fortbildung wegen für Teilzeitarbeit.

Besser sieht es bei der befristeten Arbeit aus: Sowohl bei Männern als auch bei Frauen beläuft sich der Prozentsatz der Betroffenen auf rund 9 Prozent. In diesem Bereich stechen dagegen junge Menschen hervor: So sind 15 Prozent derer, die über einen befristeten Vertrag verfügen, zwischen 15 und 24 Jahre alt.

Genderunterschiede sind aber laut Panorama social auch abseits des Arbeitsalltags erkennbar. 2018 erfreuten sich Männer im Schnitt 61,4 Jahre guter Gesundheit, Frauen dagegen nur 59,8 Jahre. EU-weit liegt das entsprechende Durchschnittsalter für beide Geschlechter bei 63 Jahren. Spezifisch bei der psychischen Gesundheit lassen sich ebenfalls Unterschiede feststellen: Während das Depressionsrisiko für Frauen bei 13 Prozent liegt, beläuft sich die entsprechende Zahl bei Männern auf 9 Prozent. Auf den generellen Rückgang an Zufriedenheit bei den Arbeitnehmer*innen hatte die Salariatskammer bereits im diesjährigen Quality of Work Index hingewiesen.

Auch Statistiken, die die Covid-19-Pandemie betreffen, sind ins Panorama social eingeflossen, und auch hier sind Geschlechterunterschiede festzustellen. Während 30 Prozent der Arbeitnehmerinnen große Angst haben, sich mit Covid-19 anzustecken, trifft dies nur auf 21 Prozent der Arbeitnehmer zu. 38 Prozent der Frauen haben gar keine Angst, bei den Männern sind es ganze 51 Prozent.

Unabhängig vom Aspekt Geschlecht, schneidet Luxemburg im EU-Vergleich punktuell nicht gut ab. So etwa bei der Anzahl derjenigen, die sich in Armut befinden, obwohl sie einer Arbeit nachgehen. In keinem anderen europäischen Land ist der entsprechende Prozentsatz so hoch wie im Großherzogtum. Auch in puncto Jugendarbeitslosigkeit schneidet es schlecht ab: Mit einem Prozentsatz von 21,9 Prozent der 15- bis 24-Jährigen innerhalb der Bevölkerungsgruppe ohne Arbeit liegt Luxemburg ein gutes Stück über dem EU-Schnitt.

Working poor und Langzeitarbeitslosigkeit

Angesichts der explodierenden Wohnkosten steigen auch in diesem Bereich wenig überraschend die finanziellen Sorgen und Ungleichheiten. 35,2 Prozent der Haushalte leiden unter hohen Wohnungskosten, der EU-Schnitt liegt bei 28,2 Prozent. Mieter*innen opfern im Durchschnitt ein Drittel ihres Gehalts für ihre Miete, EU-weit sind es jedoch nur 24,9 Prozent. Einzig in Spanien liegt diese Quote höher als in Luxemburg.

Positiv fällt Luxemburg dagegen ebenfalls auf: So gehört es mit Belgien und Malta zu den drei einzigen europäischen Ländern, denen es 2020 gelungen ist, Arbeitsplätze zu schaffen. Auch die Zahl der Arbeitslosen stieg hierzulande weniger an als in vielen andern EU-Ländern.

Die Bilanz, die die Chambre des salariés anhand des „Panorama social“ zieht, ist eindeutig: Die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten haben zugenommen, zum Teil sogar stark. Es handelt sich dabei nicht um neue Erkenntnisse. Auf manche Pro-blematiken weist die Salariatskammer schon seit vielen Jahren hin. So ist das Armutsrisiko für Einelternfamilien (41,3 Prozent) und kinderreiche Familien (35,1 Prozent) nach wie vor am höchsten. Unter den Langzeitarbeitslosen, deren Gesamtzahl 2020 noch mal gestiegen ist, sind Menschen mit Behinderung oder eingeschränkter Arbeitsfähigkeit mit 90 Prozent stark überrepräsentiert. Das Armutsrisiko wächst jährlich und lag 2019 bei 17,5 Prozent – ein Wert, der sich seit Beginn der Covid-19-Pandemie noch zusätzlich verschlechtert haben dürfte.

An den anhaltenden beziehungsweise steigenden Ungleichheiten lasse sich, so die Salariatskammer in ihrem Einführungskapitel, erkennen „que les politiques de redistribution sont largement insuffisantes afin de pallier les défis sociaux auxquels le pays fait face“.


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