Pflichtlektüre in der Schule muss diverser werden, aber wie? Die Germanistin Teresa Reichl zeigt in „Muss ich das gelesen haben?“ humorvoll Alternativen auf.
2019 löste die feministische Jugendgruppe „Voix de jeunes femmes“ (VJF) mit einem offenen Brief an das Bildungsministerium eine Polemik in Luxemburg aus: Darin forderte sie unter anderem die Überarbeitung des festgelegten Leseprogramms für die Abschlussklassen des „enseignement secondaire“ mit dem Ziel, ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis zu erreichen. Einzelpersonen warfen der Gruppe daraufhin öffentlich Zensur und Fanatismus vor. Teresa Reichl, Germanistin, Autorin und Kabarettistin, nimmt Kritiker*innen wie diesen gleich im Vorwort ihres Sachbuchs „Muss ich das gelesen haben? Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht – und wie wir das jetzt ändern“ (Haymon Verlag, März 2023) den Wind aus den Segeln: „Ich hasse nicht, dass weiße Männer Bücher geschrieben haben.“ Und dennoch kämpft sie an derselben Front wie die Mitglieder der VJF.
Reichl konzentriert sich dabei auf Literatur aus dem deutschsprachigen Raum. Neben der Auseinandersetzung mit problematischen Passagen in bisher gängigen Klassikern westlicher Literaturgeschichte, wie den Büchern von Thomas Mann oder Johann Wolfgang Goethe, lenkt sie den Blick auf die Werke von jüdischen, muslimischen, nicht-weißen, weiblichen und queeren Autor*innen. Darüber hinaus erwähnt sie Literatur von ethnischen Minderheiten, etwa den Sinti*zze und Rom*nja, von Menschen mit Behinderung oder Angehörigen niedriger sozialer Klassen. Es ist ein Rundumschlag, der in letzter Zeit in vielen kulturwissenschaftlichen, feministischen Sachbüchern auftaucht: Immer mehr Autor*innen arbeiten in ihren Werken möglichst intersektional. „Was ich hier tun will, ist: zusammenfassen und in Zusammenhang setzen“, erklärt Reichl ihre Entscheidung. „Denn Feminismus darf nicht nur darauf aus sein, weiße Frauen weißen Männern gleichzustellen, sondern er muss gegen alle strukturellen Diskriminierungen kämpfen.“ Die Autorin räumt ein, dass sie jedem Kapitel ein eigenes Buch hätte widmen können – und tatsächlich mangelt es manchen Kapiteln an einer tiefgründigeren Analyse.
Wichtiger ist jedoch, dass Reichl gekonnt das Argument dekonstruiert, es fehle an wichtiger Literatur von marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Zu den meisten Epochen und Gattungen hält sie Alternativen bereit, die entweder von marginalisierten Autor*innen verfasst wurden oder eine andere Perspektive auf dasselbe Thema eröffnen. Bestenfalls beides, wie der Vergleich zwischen Theodor Fontane und Gabriele Reuter offenbart. Für Reichl ist Reuters „Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens“ (1895) der Lektüre von Theodor Fontanes Klassiker „Effi Briest“ (1895) vorzuziehen. In Reuters Werk geht es, ähnlich wie bei Fontane, um das Schicksal einer stereotypen „höheren Tochter“ der Wilhelminischen Ära, die an den gesellschaftlichen Erwartungen an sie zerbricht. Reuter wurde zu Lebzeiten viel gelesen, ihr Buch war ein Verkaufsschlager. Gilt sie heute trotzdem nahezu als vergessen, ist Fontane immer noch bekannt.
„Ich hasse nicht, dass weiße Männer Bücher geschrieben haben.“
Reichl plädiert grundsätzlich dafür, mehr Literatur von Betroffenen statt über sie zu lesen. Das biete nicht nur einen anderen Blick auf die Phänomene der jeweiligen Epoche, sondern steigere noch dazu das Interesse an Klassikern und Literatur im Allgemeinen. Reichl bricht in dem Zusammenhang auch mit dem Mythos, Jugendliche würden „immer weniger lesen, immer weniger davon verstehen, sich immer weniger für literarische Klassiker interessieren“. Selbst wenn dem so wäre, sei das primär auf überholte Leselisten und realitätsferne Literaturvermittlung zurückzuführen. Auf den letzten Buchseiten zählt Reichl deshalb eine Buchauswahl auf, die sich ihrer Meinung nach besser für den Unterricht eignet, als die geltende Pflichtlektüre. Diese Liste ergänzt sie online auf teresareichl.com mit Vorschlägen ihrer Leser*innen.
Die Autorin, übrigens auch preisgekrönte Poetry Slammerin, spricht sonst vor allem auf den sozialen Medien über klassische Literatur und Feminismus. Eigenen Angaben nach folgen ihr derzeit 50.000 Personen. Seit 2016 leitet sie Literaturworkshops an Schulen. Im Vorwort zu ihrem Sachbuch betont sie ihr Interesse an einer jungen Zielgruppe und schreibt über den regen Austausch, den sie mit ihr pflegt: „(…) Ihr habt euch bestätigt gefühlt, weil ich die gleichen Werke wie ihr gelesen und auch verstanden habe, sie aber trotzdem teilweise scheiße finde. Das ist erlaubt, es ist sogar normal.“
Nicht nur Überflieger*innen und Kenner*innen sollen Reichls Argumentation folgen können. „Bücher über Literatur sind fast immer von und für Literaturwissenschaftler*in- nen“, stellt sie fest. „Da mein Buch für alle lesbar sein soll (…) gebe ich mein Bestes, mich so einfach wie möglich auszudrücken – und so, wie ich mit 16 gewollt hätte, dass es mir jemand erklärt.“ Dieser Ansatz kommt nicht nur Jugendlichen zugute, sondern allen, die mehr Wert auf den Inhalt als auf die Zurschaustellung eines elitären Fachjargons legen. Besonders Akademiker*innen mit Humor dürfte in dem Sinne auch die Zweckentfremdung der Fußnoten gefallen: Dienen diese in wissenschaftlichen Texten meist dem Quellennachweis oder Anmerkungen zum Text, nutzt Reichl sie zur humorvollen Kommentierung eigener Aussagen oder zu lapidaren Vermerken wie „haha“, wenn sie etwas besonders lustig oder ironisch findet. Ob einem Reichls lebendige Schreibweise, gespickt mit Witzeleien und Jugendslang, gefällt oder nicht: Ungewöhnlich für die Literaturwissenschaft ist sie allemal. Es ist ein unterhaltsames Sachbuch, das sich schnell liest und dennoch Wissen vermittelt. Genauso wie die „Fun Facts“ am Ende des Buches, in denen Reichl Kuriositäten über bedeutende männliche Figuren der deutschen Literaturgeschichte auspackt. Ein kleiner Vorgeschmack: „Goethe und Schiller haben bei Schiller zuhause Schmähgedichte über andere Dichter geschrieben und dabei so laut gekichert, dass Schillers Frau das Fenster schließen musste, damit die Nachbarn sich nicht gestört fühlten.“
Am Ende zurück nach Luxemburg: Hier haben sich die Literaturprogramme seit dem Aufruf von VJF nicht sonderlich verändert. Das verrät allein der Blick in die Pflichtlektüre des Deutschunterrichts der Sektion „classiques langues vivantes“ am klassischen Gymnasium: Zur „Première“ lasen die Schüler*innen letztes Schuljahr ausschließlich Männer, darunter immer noch Goethes „Faust“ und „Tauben im Gras“ von Wolfang Koeppen. Über letzteres entbrannte im Frühjahr in Deutschland übrigens eine hitzige Debatte. Obwohl Koeppen in dem Buch rassistische Termini reproduziert, sollte das Buch ab 2024 zur Abi-Pflichtlektüre an Berufsgymnasien in Baden-Württemberg gelten. Das Vorhaben wurde inzwischen verworfen; Lehrkräfte dürfen alternativ „Transit“ von Anna Seghers behandeln. Ob es demnächst auch in Luxemburg erneut zu einer vergleichbaren Debatte kommt? Die Lektüre von Reichls Buch dürfte die Kampfgeister auf jeden Fall wieder wecken …