Pflichtlektüre: Heldinnen aus Druckerschwärze

In einem offenen Brief an das Bildungsministerium verlangt die „Voix de jeunes femmes“ (VJF) nach mehr Frau auf dem literarischen Lehrplan. Der Philosoph Norbert Campagna schlägt Alarm.

Die Pflichtlektüre für luxemburgische Abschlussklassen braucht Heldinnen und Frauenfiguren, die weder Sexobjekte noch Sündenböcke sind. (Foto: Pixabay)

Norbert Campagna zeigte sich im Dezember 2018 im „Tageblatt“ empört über den Brief der VJF, die er gleich im ersten Absatz mit dem „Conseil national des femmes du Luxembourg“ (CNFL) gleichsetzt. Missverständnis Nummer eins. Weitere folgen. Während die Jugendgruppe des CNFL eine egalitäre Überarbeitung des festgelegten Leseprogramms für die Abschlussklassen des „enseignement secondaire“ fordert, schreit Campagna Zensur und Fanatismus. Dabei stellt sich im Gespräch mit der Vorsitzenden der VJF, Lou Reckinger, heraus: Eigentlich sind sie sich einig.

Problematisch

Das aktuelle literarische Programm strotze vor sexualisierter Gewalt und Sexismus, schreibt die VJF in ihrem Brief. Sie führt dabei Goethes „Faust“ und Voltaires „Zadig“ sowie „A Streetcar Named Desire“ von Tennessee Williams an. Die Frauenfiguren würden in den Büchern ausschließlich zu Lustobjekten degradiert, zwangsverheiratet, missbraucht oder unterdrückt. Die VJF vermisst Heldinnen und Männerbilder, die ohne Gewalt und Misogynie auskommen. Charaktere mit Vorbildcharakter und Identifikations-Potenzial. Gleichzeitig wünscht sich die feministische Jugendgruppe mehr Autorinnen auf dem Lehrplan.

Dort steht Margaret Atwood mit ihrer Dystopie „The Handmaid’s Tale“ alleine unter Männern – und das auch nur im Englischunterricht der „section A“ des „enseignement secondaire classique“. Auch auf der empfohlenen Leseliste für die unteren Klassen findet man, bis auf wenige Ausnahmen, keine Frauennamen. Das sorgt zu Recht für Sorgenfalten bei der VJF.

Werke von Jane Austen, Sylvia Plath, Juli Zeh, Christa Wolf, Simone De Beauvoir oder Ingeborg Bachmann hätten ebenfalls Potenzial zur Pflichtlektüre. Die genannten Namen sind nur eine kleine Auswahl herausragender Autorinnen, die interessanterweise meist nicht auf Kanons, beispielsweise von literarischen Fakultäten, figurieren. Dabei könnte die Besprechung von Büchern, die von Autorinnen verfasst wurden, in Abschlussklassen ein literaturgeschichtliches Diskussionsfenster zum Schicksal schreibender Frauen öffnen. Gefangen in stereotypen Rollenbildern, war es ihnen lange Zeit nicht möglich zu schreiben oder unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Dieser wichtige Aspekt der Literaturgeschichte bleibt derzeit auf der Strecke, insofern sich die Lehrkräfte dessen nicht freiwillig annehmen.

Die VJF überlässt eine entsprechende Bücherwahl dem Bildungsministerium und Literaturkenner*innen. Die würden über die nötigen Fachkenntnisse verfügen. Doch Fachkenntnisse und eine Affinität für Gender-Fragen sind zweierlei. Ein Hoffnungsschimmer über Luxemburgs Bildungshimmel: Dem Koalitionsvertrag ist zu entnehmen, dass die Regierung vorsieht, die Gender-Vielfalt im Schulunterricht zu thematisieren sowie sexistischem Verhalten und sexualisierter Gewalt gezielt vorzubeugen. Es wäre begrüßenswert, wenn sich dieses Vorhaben auch in der Pflichtlektüre widerspiegelte.

Damit ginge die Regierung weiter als die VJF: Gender-Vielfalt ist nicht per se das Anliegen ihres Schreibens. Wer weit ausholt, kann der Gruppe unterstellen, mit ihrer Forderung eine binäre Geschlechtsidentität und Heteronormativität zu unterstützen. In den zu lesenden Büchern wird erfahrungsgemäß generell wenig differenziert über Minoritäten gesprochen, auch nicht über die LGBTIQ-Gemeinschaft.

Lou Reckinger relativiert den Vorwurf, sich mit dem offenen Brief nur für eine Minorität stark zu machen, indem sie klarstellt: „Wir sprechen uns für die Repräsentation aller Minoritäten aus. Frauen bilden darunter aber eine Mehrheit. Aus dem Grund haben wir uns zunächst auf sie konzentriert. Ich wünsche mir dennoch eine Welt, in der jede Minorität repräsentiert wird. Nur müssen wir irgendwo anfangen.“

Aneinander vorbei

Norbert Campagna versteht diesen Anfang, die Frauen- und Männerdarstellungen zu diversifizieren und mehr Bücher von Autorinnen in den Lehrplan zu integrieren, als Angriff. Er vergleicht die CNFL/VJF mit der katholischen Kirche, ihre Forderungen mit religiösem Fanatismus. Auch die Kirche hatte Probleme mit Voltaire. Nicht wegen der Misogynie, sondern wegen seiner Kirchenkritik. Sie verlangte Zensur. Die jubelt Campagna auch der VJF unter. Missverständnis Nummer zwei.

Man sucht in dem Schreiben der VJF vergeblich nach den Verben „remplacer“ oder „éliminer“. Man findet hingegen die Forderung, andere Sichtweisen in den Lehrplan einzubringen. Ganz unschuldig ist die VJF an dem Missverständnis aber nicht. Sie übt wiederholt Kritik an der Pflichtlektüre und fragt: „Est-ce l’image que nous voulons transmettre aux jeunes ?“ Nein, will man antworten und die Bücher hinter Schranktüren verschwinden lassen. So war das laut Reckinger nicht gemeint. Sie spricht von unglücklichen Formulierungen. „Wir erkennen Goethes „Faust“ oder Frischs „Homo Faber“ ihren kulturellen und literarischen Wert nicht ab“, stellt sie im Gespräch mit der woxx richtig. „Es sind Werke, die den kritischen Geist fördern und zur Auseinandersetzung mit humanitären Fragestellungen beitragen. Wir wollen sie nicht aus dem Schulprogramm streichen. Wir wollen keine Zensur.“

Anders als Campagna es der VJF in seinem Artikel unterstellt, geht sie auch nicht davon aus, dass jeder Junge, der Voltaire liest, ein „macho brutal“ wird. Es geht der Feminist*innen-Gruppe darum, Jungen wie Mädchen alternative Rollenbilder und Gesellschaftsmuster durch Literatur aufzuzeigen.

Foto: Pexels

Vielleicht so rum?

Eine Quotenreglung, um mehr Autorinnen in den Lehrplan einzubeziehen, hält die VJF für unsinnig. Feste Prozentsätze seien nicht nötig, nur eben ein thematisches und egalitäres Gleichgewicht. Aus dem Kreis der Lehrkräfte der unteren Klassen, wo die Bücherauswahl den Lehrer*innen unterliegt, heißt es, dass sich allgemein um die Diversifizierung, die Aktualität der Themenbereiche und um eine vielseitige Auswahl von Autor*innen bemüht werde. Es hapert an dem festgefahrenen Leseprogramm für die Abschlussklassen. Inhaltlich, wie es die VJF bedauert, aber auch strukturell.

Auf die Frage, was den Jugendlichen durch den Literaturunterricht vermittelt werde, antwortet Lou Reckinger sinngemäß: Katharsis und Persönlichkeitsentwicklung. Sie fügt dem hinzu, das fiele vielen Mitgliedern der VJF, die noch zur Schule gingen, anhand der derzeitigen Pflichtlektüre schwer.

Wie wäre es, wenn neben den Klassikern, die gemeinhin zum westlichen Kanon gehören und für die Allgemeinbildung wichtig sind, per Rotationsprinzip jeweils ein Buch ausgewählt würde, das zeitgenössische Entwicklungen und Tendenzen aufgreift – und zwar nach überarbeiteten Auswahlkriterien, die die Gender-Vielfalt und andere gesellschaftsrelevante Aspekte berücksichtigen? Zwar besticht große Literatur durch Zeitlosigkeit, doch ist es nachvollziehbar, dass sich manche Schüler*innen in ihrer derzeitigen Lebenslage nicht mit Emma Bovary oder Faust identifizieren können und das Interesse an den epochalen Werken verlieren. Wobei letzteres nicht zuletzt eine Frage der Literaturvermittlung ist.

Die Aussagen der VJF offenbaren, wofür sich ein Teil der Schüler*innenschaft interessiert, was ihr wichtig ist: Gender-Fragen. Die ließen sich durchaus fakultativ in die Werkbesprechungen einbringen. Inwiefern das im Unterricht schon passiert, ist unklar. Reckinger selbst machte 2016 Abitur. Sie kann sich nicht an entsprechende Diskussionen erinnern. Warum nicht das Abschlussexamen in Literatur durch eine längere Hausarbeit ersetzen oder ergänzen? Die Schüler*innen könnten sich über das Schuljahr hinweg einen Themenschwerpunkt erarbeiten, beispielsweise die Frauendarstellung in Goethes „Faust“, und diesen in einer umfassenderen Arbeit kontextualisieren und besprechen. Das würde die kritische Auseinandersetzung mit kanonischen Werken fördern, sie in ein gegenwartsbezogenes Licht setzen und die Jugendlichen auf ein etwaiges Studium vorbereiten. Anders als das Wiederkäuen fremder, vorgefertigter Interpretationsschlüssel, die man mit dem Examensblatt abgibt und vergisst.

Mit dem Modell ginge einher, dass misogyne oder homophobe Neigungen der Autor*innen oder der literarischen Charaktere in einem schulischen Rahmen diskutiert würden. Der Brief der VJF ist nämlich im Grunde genau das: Der gegenwartsbezogene, kritische Blick auf Klassiker und ihre Autoren. Ironischerweise plädiert auch Campagna dafür. Ironisch, weil er die Aussagen der VJF trotzdem aus einer defensiven Haltung heraus kommentiert. „Il ne s‘agit pas de taire le fait que Voltaire était sexiste, que Kant jugeait que l‘homosexualité était une abomination, ou encore qu‘il y a des passages anti-sémites chez Shakespeare“, schreibt er im Tageblatt. „En parlant du génie de ces grands hommes, il faut aussi parler de leurs préjugés, voire des imbécilités qu‘ils ont pu écrire.“

Er schließt seinen Artikel mit der Aussage ab, der menschliche Intellekt sei „ni masculin, ni féminin, ni hétéro, ni LGTB, ni noir, ni blanc, ni caucasien, ni juif, etc.“ Worte, die Lou Reckinger mit Nachdruck bestätigt. Nur will die VJF das, ähnlich wie der Philosoph, in der Schule repräsentiert und thematisiert wissen. Es geht nicht um mehr Frau für weniger Mann, sondern darum durch eine egalitäre Zusammenstellung des Programms zu visualisieren, dass gute Literatur losgelöst von gesellschaftlichen Kategorisierungen entsteht. Die Zensur-Alarmglocken haben zu früh geläutet. Doch hoffentlich laut genug, um das Bildungsministerium aufzuwecken.


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