Das Theaterkollektiv Independent Little Lies stellt sich und den Teilnehmer*innen seiner „Biergerbühn“ keine leichten Fragen: „Doheem – fragments d’intimités“ geht Wahrnehmungen von Zuhause und Intimität auf den Grund. Ein Austausch mit den Regisseurinnen Claire Wagener und Elsa Rauchs.
woxx: Euer Stück heißt „Doheem – fragments d‘intimités”. Warum spielt es ausgerechnet im FerroForum – einer Industriehalle, die nichts Heimisches an sich hat?
Claire Wagener: Wir hatten zuerst den Titel.
Elsa Rauchs: Genau, ohne den Untertitel.
Claire Wagener: Und ohne zu wissen, wo die Aufführung stattfinden würde. Die Wahl ist dann auf das FerroForum gefallen, weil wir einen Aufführungsort in Esch gesucht haben. Zu dieser Zeit sind in Esch einige „tiers lieux culturels“ entstanden, unter anderem der Bâtiment 4, in den das ILL eingezogen ist. Der Raum dient allerdings nur zu Proben und kann kein Publikum beherbergen. Im FerroForum, das nur wenige Meter weiter eröffnet wurde, war es umgekehrt: Dort wurde nach Angeboten gesucht, um die Räumlichkeiten zu bespielen.
Elsa Rauchs: Wenn ich Projekte lange im Voraus konzipiere, entsteht bei mir oft eine Art Hassliebe: Ich fand den Titel irgendwann reduktiv. Wir wollten den Begriff „Doheem“ komplexer beschreiben und so kam es zum Untertitel. Wir haben schnell gemerkt, dass das, was uns an dem Gefühl des Zuhauseseins fasziniert, die Einsamkeit ist, die sich hinter geschlossenen Türen findet. Uns hat interessiert, wie man über Themen spricht, die zu intim sind, um sie anzuschneiden. Diese Ambiguität, die der Aufführungsort in diesem Kontext mit sich bringt, ist spannend.
Der Aufführungsort bereichert das Konzept demnach.
Elsa Rauchs: Claire und mich verbindet, dass wir sensibel für Räumlichkeiten sind. Egal in welchem Raum wir das Stück aufgeführt hätten, er hätte es beeinflusst.
Claire Wagener: Es besteht auch ein Bezug zum Untertitel: Es ist eine fragmentierte Halle, wenn man so will, weil viele verschiedene Aktivitäten dort stattfinden. Das entspricht der Form der Fragmente, die wir zusammengestellt haben, und die miteinander korrespondieren.
Der Untertitel deutet darauf hin, dass die dargestellte Intimität nicht mehr als Ganzes, sondern nur noch als Bruchstück erfahrbar ist. Warum?
Elsa Rauchs: Wir haben von Anfang an die Idee verteidigt, dass Intimität etwas ist, was man eigentlich nie wirklich greifen kann. Was heißt Intimität: ein Set von Gewohnheiten, von Gefühlen, aus Kindheitserinnerungen, aus Temporalitäten? Bedeutet Intimität also, sich jeden Tag die Zähne zu putzen, das Bett zu machen – oder ist Intimität eine Erinnerung, die man mit Menschen teilt? Für uns ließ sich Intimität nur in Fragmenten einfangen.
Claire Wagener: Das wurde schnell zu einem formalen Element: Wir haben den Abend in drei Abschnitte unterteilt, die für drei verschiedene Herangehensweisen an die Thematik stehen. Selbst innerhalb dieser Teile kommen unterschiedliche Menschen zusammen, die jeweils andere Interpretationen von Intimität auf die Bühne bringen. Die fragmentarische Form wird dieser Vielseitigkeit gerecht.
Elsa Rauchs: Wir wollen keiner Wahrheit auf den Grund gehen, sondern durch Fragmente, die einander unkommentiert gegenüberstehen, die Definition von „Doheem“ offenlassen.
Viele Arbeiten des ILL haben einen Blick für genderspezifische Aspekte. Wenn wir von der häuslichen Sphäre sprechen, ruft das Assoziationen hervor: Oft sind es Frauen, die diesen Bereich verwalten und für die unbezahlte Care-Arbeit zuständig sind. Spielt das im Stück eine Rolle?
Elsa Rauchs: Es ist kein ideologisches Stück. Wir sind uns der politischen Fragen bewusst, die das Wort „Doheem“ mit sich bringt. Unsere Recherche hat politisch begonnen: Es ging uns vor allem um die Wohnungspolitik. Wem gehört der Boden? Was verhindert hier in Luxemburg Bauprojekte? Was läuft in Esch in puncto Sozialwohnungen? Diese Fragen haben das Projekt genährt, aber keine Bühnenübersetzung gefunden. Wenn du dich als Künstler*in mit politischen Fragen herumschlägst, merkst du oft, dass du an sich nicht viel darüber weißt. Du musst dich informieren. Deine Kenntnisse später auf die Bühne zu bringen, ohne zu viele Klischees zu bedienen, ist jedoch schwierig. Wir haben keine Form dafür gefunden. Claire und ich arbeiten viel mit dem, was da ist. In unserem Atelier sind ausschließlich Frauen – wenn man mit Frauen zu dem Thema „Doheem“ arbeitet, schwingen genderspezifische Aspekte mit. Trotzdem ging es uns nicht darum, diese unmittelbar anzusprechen.
Claire Wagener: Der Ausgangspunkt des Stücks war auf jeden Fall die Krise des Zuhauses: die Wohnungspolitik, aber auch das Gefühl, keine Verbindung mehr zu Orten herstellen zu können – entweder weil Anonymität und kein Gemeinschaftsgefühl mehr herrschen oder weil man die Möglichkeit nicht mehr bekommt, sein Zuhause als einen Ort zu erleben. Es wird zu einem Raum, den man nur benutzt. Es ist kein Wunder, dass sich Frauen davon angesprochen gefühlt haben, weil ihnen die Rolle oft zuteil wird: Das Zuhause für ihre Familie zu verwalten. Die Krise des persönlichen Bezugs zum Zuhause spielt da mit rein.
Elsa Rauchs: Eine Problematik, die in dem Stück immer wieder auftaucht, ist die Dichotomie zwischen der Einsamkeit und der Kollektivität, die in der Wohnungskrise immer größer wird. Der Raum für Kollektivität schrumpft, der für die Einsamkeit wird größer.
Claire Wagener: Ich finde, dass da auch die Unsichtbarkeit von Care-Arbeit hineinpasst: Alles wird individualisiert und somit die Fürsorge innerhalb von Beziehungen unsichtbar.
Das Stück ist Teil des Projekts „Biergerbühn“ des ILL, an dem sich Bürger*innen in Ateliers an Theaterproduktionen beteiligen können. Was für einen Einfluss hatte das auf die Arbeit?
Claire Wagener: Wir waren am Anfang frei, was den Inhalt betrifft. Wir konnten uns gut aufeinander einstellen. Elsa und ich, die die Ateliers der „Biergerbühn“ seit Januar leiten, konnten Woche für Woche erörtern, welche Arbeiten mit den beteiligten Personen am sinnvollsten waren. Wir haben Aufgaben vorbereitet und geschaut, wie die Bürgerinnen darauf reagieren, wer auf der Bühne stehen will, welche Textform für wen funktioniert. Auf diese Weise ergab sich nach und nach ein Konzept, das wir weiterverfolgen wollten.
Elsa Rauchs: Wir haben keine privaten Aussagen der Bürger*innen eingebracht.
Claire Wagener: Ich habe vor Kurzem mit einer unserer Schauspielerinnen gesprochen, die zwischen dem Persönlichen und dem Privaten unterschieden hat: Wir wollten für die Bürger*innen eine Aufführungsform finden, die für sie persönlich Sinn macht, aber wir wollten nie, dass sie Privates preisgeben müssen.
Elsa Rauchs: Aus diesem Grund haben wir auch nie verlangt, dass das, was aufgeführt wird, private Erfahrungen der Bürger*innen sind. Wir sind auch der Ansicht, dass das, was wir an Material mitgebracht haben, genug Raum lässt, damit das, was sie in ihrem Zuhause erfahren, darin mitschwingen kann.
Claire Wagener: Das gehört auch zur Intimität: Raum, Dinge zu schützen, nicht offenzulegen, im Dunklen zu lassen.