Statt der geplanten Umgehungsstraße soll in Niederkerschen nun ein Tunnel gebaut werden. Warum diese Entscheidung jetzt erst fiel, ist merkwürdig: Die Fakten lagen schon seit letztem Sommer auf dem Tisch.
Es war eine kleine Sensation, die letzte Woche ohne großes Getöse mittels Pressemitteilung verkündet wurde. Am 2. März gaben Mobilitätsminister François Bausch und Umweltministerin Joëlle Welfring (beide Déi Gréng) bekannt, dass die geplante Umgehungsstraße zwischen Nieder- kerschen und Sanem nun doch nicht gebaut werden soll. Zumindest nicht so, wie es eigentlich schon fix und fertig geplant war, denn die Minister*innen präsentierten nun eine Variante mit Tunnel. Dadurch soll der Einfluss auf die Natura 2000-Schutzzone erheblich verkleinert werden. Vor der Bekanntmachung waren die Gemeinderäte von Niederkerschen und Sanem in eigenen Versammlungen informiert worden.
Die Reaktionen auf diese Neuigkeit waren gemischt. Michel Wolter (CSV), der Bürgermeister von Niederkerschen, explodierte gegenüber dem Quotidien regelrecht vor Wut: „Er ist verrückt geworden, das ist nicht mehr normal, das ist irrational!“, sagte er über den Mobilitätsminister. Auf Facebook legte er nach: „Das Projekt beginnt wieder bei Null. Zehn Jahre Arbeit werden in den Müll geworfen und ein bestehendes Gesetz nicht respektiert.“
Seine grünen Koalitionspartner*in- nen in der Gemeinde sehen die Sache eher anders. Am 5. März schickten sie eine Pressemitteilung, in der sie die neue Variante begrüßten: „Déi Gréng Käerjeng stehen einer Tunnelvariante positiv gegenüber, allerdings ist es wichtig, dass die ganze Prozedur nicht zu lange dauert und es muss klar sein, dass sie neue Variante auf sicheren Füßen steht.“ Dabei hatte ihre Präsidentin und Schöffin Josée-Anne Siebenaler-Thill zwei Tage zuvor noch bei Radio 100,7 angegeben, der Niederkerschener Schöff*innenrat ziehe in der Sache an einem Strang.
Die „Biegerinitativ Gemeng Suessem“ (Bigs), die seit Jahren gegen den Bau der Umgehungsstraße kämpft, gab sich in einer ersten Pressemitteilung am 3. März zufrieden: „Wir begrüßen das Einlenken der Regierung, das Projekt Umgehungsstraße von Niederkerschen noch einmal zu überdenken und freuen uns, dass der Bobësch und die Natura 2000-Zone zwischen Sanem und Niederkerschen jetzt laut Regierungsaussage nicht mehr direkt beeinflusst werden sollen.“ Da man allerdings noch keine Detailpläne kenne, könne man noch nicht beurteilen, inwieweit andere Naturschutzgebiete von dem neuen Projekt betroffen seien. Auch die Notwendigkeit der Umgehungsstraße insgesamt werde man weiterhin kritisch betrachten.
„Lächerlich und kontraproduktiv“
Im Juli 2022 besetzten Aktivist*innen den Bobësch, um gegen den Bau der Umgehungsstraße zu protestieren. Die Besetzung war zwar nur auf kurze Dauer angelegt, als Signal an die Politik war sie dennoch unmissverständlich – sollte der Bobësch für die Straße abgeholzt werden, müsste man mit einer dauerhaften Besetzung rechnen. Die ehemaligen Waldbesetzer*innen sind von der Tunnelvariante nicht begeistert: „Wir sind uns alle einig, dass neue Straßen bauen in diesen Zeiten lächerlich und völlig kontraproduktiv ist, egal ob ober- oder unterirdisch. Wir müssen vom Auto wegkommen, statt Millionen für Straßen auszugeben!“, so die Aussage eine*r Aktivist*in gegenüber der woxx.
In ihrer Pressemitteilung geben die Minister*innen an, die Entscheidung für die neue Variante sei durch die Studien zur Umwelt-Kompensationsmaßnahme, den nationalen Mobilitätsplan 2035 (PNM 2035) und die Entscheidung, die Autobahnen A13 und A4 zu optimieren, zustande gekommen. Doch hätte die Reißleine nicht viel früher gezogen werden müssen? Immerhin waren die genannten Elemente schon zum größten Teil länger bekannt. Der Verdacht, dass die Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt politisch motiviert ist, liegt nahe: so kann man noch rechtzeitig vor dem Wahlkampf Fakten schaffen.
An der Umgehungsstraße wird schon seit den 1990er-Jahren geplant – und genauso lange wird über ihren Sinn und Zweck gestritten. In der Umweltimpaktstudie von 2016, die der woxx vorliegt, wurden fünf verschiedene Korridore untersucht, wobei zwei nördlich von Niederkerschen verliefen und aus verschiedensten Gründen nicht berücksichtigt wurden. Das verwundert ein wenig, schließlich wurde bereits 2015 im „Avant-projet sommaire“ der Straßenbauverwaltung lediglich vier verschiedene Varianten – inklusive einer „Nullvariante“ – festgehalten. Im Regierungsrat entschied man sich dann für die Variante Nummer 2 – die durch eine Natura 2000-Schutzzone verlief und für die Teile des Bobësch abgeholzt hätten werden müssen. „Die unter dem Gesichtspunkt des Naturschutzes zerstörerischste“ nannte die woxx die Variante im November 2016. Ausschlaggebend für die Entscheidung war wohl vor allem der Fakt, dass 88 Prozent der Flächen, über die die vorgeschlagene Trasse verlief, bereits Staat oder Gemeinden gehörten.
Im Herbst 2016 wollte die Gemeinde Sanem gerichtlich gegen den Bau der Straße vorgehen, was jedoch vom Verwaltungsgericht abgelehnt wurde, weil noch kein Gesetz gestimmt worden war. Das passierte 2018, in der zweitletzten Sitzungswoche der damaligen Legislatur. Aus Protest schwänzten zwei Sanemer LSAP-Abgeordnete die Abstimmung – die „elegante“ Möglichkeit, um nicht gegen die eigene Koalition stimmen zu müssen. Schlussendlich lehnte es der Sanemer Gemeinderat mit zehn zu fünf Stimmen ab, gerichtlich gegen den Bau der Umgehungsstraße vorzugehen.
Laut dem Gesetzesprojekt sollte der Bau der Umgehungsstraße rund 139 Millionen Euro kosten. Außerdem wurde mit jährlichen Folgekosten von rund 1,8 Millionen für den Unterhalt gerechnet. Bevor die Bauarbeiten jedoch in Angriff genommen werden konnten, galt es erst noch die Details der Planung auszuarbeiten. Auf Anfrage teilte das Mobilitätsministerium am vergangenen Mittwoch, dem 8. März der woxx mit, dass die Arbeiten an dem „Avant-Projet détaillé“ so gut wie abgeschlossen seien. Das Dokument, in dem die Kompensationsmaßnahmen für die Zerstörung natürlicher Lebensräume vorgeschlagen wurden, wurde am 27. Juli 2020 der Straßenbauverwaltung überreicht. Es liegt der woxx vor.
Komplizierte Kompensationsmaßnahmen
Die Liste der Kompensationsmaßnahmen ist durchaus lang: Die Natura 2000-Zone sollte ausgeweitet werden, die beinahe acht Hektar zerstörter Waldflächen sollten durch annähernd 13 Hektar ersetzt werden. Doch nicht irgendein Wald: Da es sich bei dem Wald um einen „Sternmieren-Eichen-Hainbuchenwald“, eine eher seltene Waldgesellschaft handelt, muss dieser auch durch einen solchen ersetzt werden. Außerdem sollten Wildtierbrücken und Krötentunnel sowie zwei Weiher für den kleinen Wasserfrosch und den Kammmolch angelegt werden. Daneben sollten Habitate für andere geschützte Arten geschaffen werden: Die Bechsteinfledermaus, das Große Mausohr, der Schwarzmilan und der Große Feuerfalter.
Auch sogenannte magere Mähwiesen sollten neu angelegt werden. Die bestehenden würden durch den zusätzlichen Stickstoffeintrag der Autoabgase nämlich zerstört werden. Stickstoff ist ein wichtiger Pflanzennährstoff, der zu zusätzlichem Wachstum führt. Ironischerweise war das Hauptargument für die Umgehungsstraße stets die zu hohen Stickstoffoxid-Werte in Niederkerschen und ihr schädlicher Einfluss auf den Menschen.
Besonders pikant: Die Grenzen der Schutzzone „Dreckwiss“ sollten verändert oder verschoben werden, da die Umgehungsstraße sonst rein rechtlich überhaupt nicht gebaut werden könnte. Das großherzogliche Reglement, das die Schutzzone zur solchen erklärt, verbietet nämlich die angedachten Arbeiten. Es müsste umgeschrieben werden, um die Straße bauen zu können. Eine Studie, wie die Schutzzone angepasst werden könnte, ist in Arbeit, laut dem Umweltministerium jedoch noch nicht abgeschlossen.
Gaben die nötigen Kompensationsmaßnahmen also den Ausschlag, das Projekt Umgehungsstraße zu stoppen? Wohl kaum, denn der Bericht lag bereits 2020 vor – und auch 2016 wusste man schon, dass die Integrität mehrerer Naturschutzgebiete verletzt werden müsste, um die Straße zu bauen. Bleibt also der PNM 2035, der die Umgehungsstraße zu einem „Contournement de proximité“ umdefinierte. Dieses neue Konzept einer „Nah-Umgehungsstraße“ sollte von Verkehrsberuhigungen innerhalb der Ortschaften flankiert werden, hieß es von François Bausch im Sommer 2022 in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage.
Der PNM 2035 habe die Streckenführung der Umgehungsstraße nicht in Frage gestellt, heißt es aus dem Mobilitätsministerium: „Es sollte eine Straße entstehen, die primär Nieder- kerschen und Sanem dient und die Industriezone mit der A13 verbindet. Es sollte verhindert werden, dass durch die neue Straße mehr Verkehr mit Schuller, Dippach und Helfent entsteht.“ Im Mobilitätsplan wurde auch entschieden, den Verkehr auf der Route de Longwy in Luxemburg-Stadt (N5) zu beruhigen. Das hieß laut Mobilitätsministerium allerdings auch, „den Status der N5 als internationale Transitachse“ zu überdenken.
Putin ist Schuld
Die entscheidende Änderung war aber weder umwelt- noch mobilitätspolitisch motiviert, sondern militärisch: „Wegen der aktuellen geopolitischer Lage wurde entschieden, das Werkgleis zwischen Niederkerschen und der WSA doch beizubehalten. Dadurch musste im Sommer 2022 eine zusätzliche Brücke für die Umgehungsstraße über dieses Werkgleis geplant werden, mit einem größeren Impakt auf die Natura 2000-Zone wie angedacht.“, erklärte eine Sprecherin des Mobilitätsministeriums der woxx.
Außerdem habe im Juli 2022 ein juristisches Gutachten, das die Umweltministerin beauftragt habe, der Regierung ans Herz gelegt, die „raisons impératifs d’intérêt public majeur“ der Umgehungsstraße noch einmal neu zu argumentieren, da die Stickstoffoxid-Werte mittlerweile unter dem europäischen Grenzwert seien. Die Regierung sei aufgefordert worden, mit den neuen Daten noch einmal zu analysieren, ob die Vorteile der Straße wirklich die Zerstörung der Natur aufwögen.
„Zuallerletzt haben uns die letzten Jahre auf beeindruckende, ja schon beinahe beängstigende Art und Weise gezeigt, dass die Biodiversitäts- und Klimakrise eine existenzielle Gefahr für die Menschheit sind. Einen Wald auf der Länge von zwei Kilometern abzuholzen, um eine Industriezone besser anschließen zu können, scheint da schon beinahe ein Anachronismus zu sein. 2016 war die Welt eben auch in diesem Sinne eine andere“, heißt es abschließend aus dem Mobilitätsministerium.
Über die Lage der Welt im Jahr 2016 kann man sicherlich streiten, aber all das erklärt allerdings nicht, warum bis März 2023 gewartet wurde. Immerhin scheinen die ausschlaggebenden Fakten bereits im Sommer 2022 auf dem Tisch gelegen zu haben.
Auch die neuen Pläne sollen zuerst den Gemeinderät*innen von Niederkerschen und Sanem gezeigt werden, bevor die Öffentlichkeit sie zu Gesicht bekommt. Kosten und Baudauer der neuen Variante sollen sich laut dem Ministerium nicht groß von der alten Variante unterscheiden. Dies, weil bei der nun geplanten Tunnelvariante weniger juristische Unsicherheiten bestünden und weniger Zeit beim Kauf von Grundstücken verloren ginge.
„Einen Wald auf der Länge von zwei Kilometern abzuholzen, um eine Industriezone besser anschließen zu können, scheint da schon beinahe ein Anachronismus zu sein. 2016 war die Welt eben auch in diesem Sinne eine andere.“
(Stellungnahme des Mobilitätsministeriums)