US-Linke vor den Wahlen: Trump abwählen reicht nicht!

Geht am 3. November die Welt unter? Oder kommt ein Erlöser in Gestalt von Joe Biden? Ein nüchterner Blick auf das politische Chaos in den USA.

Griff nach den Sternen eines besseren Amerika, oder doch wieder nur Streifen? Joe Biden auf Kurssuche. (US Navy; MC1 Chad J. McNeeley; PD)

„Nichts wird sich grundsätzlich ändern“ – mit diesem Biden-Zitat aus dem vergangenen Jahr überschrieb der Monde diplomatique eine Analyse der politischen Situation in den USA. Der Beitrag erschien im Juni, nachdem sich der linke Kandidat Bernie Sanders aus den demokratischen Vorwahlen zurückgezogen und den Weg für Joe Biden freigemacht hatte. „Aus den ganzen Wirren ging als Sieger ausgerechnet der Kandidat hervor, der am wenigsten versprach. Damit schickt sich die Partei an, uns in eine Präsidentschaftswahl zu schicken, die kaum mehr sein wird als ein Votum über den verhassten Donald Trump.“ Der Autor, Thomas Frank, ist überzeugt, dass die US-Wählerschaft bereit wäre, für große, fortschrittliche Veränderungen zu stimmen. Doch man müsse sich zwischen zwei Kandidaten entscheiden, „von denen keiner für die Hoffnung auf entschiedene demokratische Reformen steht“, schreibt Frank und hält fest: „Die alte Ordnung wurde wieder einmal wie durch Zauberhand gerettet.“

Ein paar Tage vor den Präsidentschaftswahlen sind linke Beobachter*innen mehr denn je hin- und hergerissen zwischen der Begeisterung über die voraussichtliche Abwahl Donald Trumps und der Skepsis gegenüber dem, was von einem Präsidenten Joe Biden zu erwarten ist. Dass die demokratische Partei eine versteckte „marxistische Agenda“ verfolge, glauben eigentlich nur die Trump-Anhänger*innen (mehr über deren Gefühlslage und die der demokratischen Wähler*innen in der woxx-Vornummer).

Trump oder Leben?

Wie es 2016 zum Wahlsieg eines solchen Kandidaten kommen konnte, ist immer noch schwer nachzuvollziehen – die Möglichkeit einer Wiederwahl, wie sie dem Rechtsaußen George W. Bush 2004 gelang, kann in diesem Sinne nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Trotzdem hat sich Biden mittlerweile klar links von der Mitte positioniert, derweil Trump keine Zeit mehr bleibt, die verschreckte gemäßigte Wählerschaft wiederzugewinnen, wenn er es denn wollte.

Wird es zu einem knappen Ergebnis kommen? Vielleicht sogar zu einem juristischen Grabenkampf über Nachzählungen und Anerkennung von Stimmzetteln, wie 2000? Damals war George W. Bush erst fünf Wochen nach den Wahlen unter umstrittenen Bedingungen endgültig zum Sieger erklärt worden. Ein schlechtes Omen: Die unter Covid-Bedingungen viel genutzte Möglichkeit der Briefwahl wurde im Vorfeld von Trump als Einladung zum Fälschen attackiert. Weil es bei der Postzustellung Verzögerungen geben kann, haben mehrere Staaten die Einsendefrist um Tage bis Wochen nach dem Wahldatum verlängert. Dadurch könnte das Ergebnis nach der Auszählung am 3. November unklar sein und die Zählverfahren für die Briefwahl für Diskussionen sorgen.

Über solche unschönen, aber von der Verfassung gedeckten politischen Manöver hinaus wird befürchtet, es werde bei einem knappen Ergebnis zu Gewaltausbrüchen kommen. Trumps Erklärung, die Machtübergabe werde friedlich verlaufen, weil er gewinnen werde, wirkt da wenig beruhigend. Seine Anhänger*innen werden im Falle einer Niederlage auf mutmaßliche Fälschungen verweisen. Im fortschrittlichen Lager dagegen kann eine angenommene russische Einmischung oder der De-facto-Ausschluss von defavorisierten Wähler*innen als Rechtfertigung dienen, um ein ungünstiges Wahlergebnis als ungültig darzustellen. Ein Bürgerkrieg ist dennoch unwahrscheinlich: Die Vereinigten Staaten von 2020 sind nicht das Spanien von 1936. Bei aller Polarisierung und einer Tradition politischer Gewalt gibt es doch eine starke politische Mitte, die bei einem massiven Gewaltausbruch viel zu verlieren hätte.

Bidens große Worte

Genau diese Mitte ist es aber auch, die bei linken Beobachter*innen wie Thomas Frank Pessimismus hervorruft. Joe Biden ist Zentrist, wie Bill Clinton es war, und dessen Präsidentschaft kann im Rückblick nur kritisch betrachtet werden. Zwar hat Biden angekündigt, „der fortschrittlichste Präsident seit Roosevelt“ werden zu wollen, doch wie ein großer Veränderer wirkt er nicht. Anders als der charismatische Barack Obama – dessen Präsidentschaft nichtsdestoweniger eine große Enttäuschung war.

Andererseits haben die Krisen – wirtschaftliche, ökologische, sanitäre – die Unzulänglichkeiten des bestehenden Systems sichtbar gemacht. Wie in den 1930ern erscheint vielen ein großer Wandel notwendig, ja, erstrebenswert. Konkret hat zum Beispiel das stark privatisierte US-Gesundheitssystem in der Pandemie versagt. Biden lehnt zwar die von Bernie Sanders geforderte allgemeine staatliche Krankenversicherung immer noch ab, strebt aber eine Erweiterung des „Obamacare“-Modells an, das am Ende 97 Prozent der Bevölkerung absichern soll.

Auch sein Programm für eine „Green Recovery“ der Wirtschaft steht in bester keynesianischer Tradition – Biden verspricht sogar, dafür die Steuern für Unternehmen und Reiche zu erhöhen. Und im Umweltbereich will er schnellstmöglich Trumps Entscheidungen rückgängig machen, angefangen mit dem Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen. Alle diese Absichten werden zu Konflikten mit den Reichen und Mächtigen führen – dass Biden schon jetzt Kompromisse mit den privaten Krankenversicherungen und der Frackingindustrie in Aussicht stellt, ist wenig verwunderlich.

In gesellschaftspolitischen Fragen sind Bidens Positionen da schon klarer: gegen Rassismus, für Frauenrechte, Schluss mit der Anti-Einwanderungspolitik. Kritiker*innen reiben sich häufig mehr an den vergangenen „Missetaten“ des langjährigen Politikers in diesen Bereichen als an seinem jetzigen Programm. Auch in der Außenpolitik fällt es Biden nicht schwer, sich von Trump abzusetzen: Wird er gewählt, so wird die aggressive, destabilisierende Rhetorik gegenüber „Feindstaaten“ wie China aufhören, ebenso wie die nicht minder destabilisierenden Bekenntnisse zum Isolationismus. Wer allerdings mehr erwartet, könnte enttäuscht werden: Amerika wird auch unter Biden eine imperialistische Großmacht bleiben.

Foto: Wikimedia; Phil Roeder; CC BY 2.0

Kamala Harris for President?

Eine konkrete Aktion gibt es, mit der Joe Biden politisches Eis bricht: die Nominierung von Kamala Harris als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft. Sie ist die erste nicht weiße Frau, die auf dieser Ebene für eine große Partei kandidiert – eine Art Summe der Präsidentschaft Barack Obamas und der Kandidatur Hillary Clintons. Und könnte darüber hinaus Präsidentin werden, falls der 77-jährige Biden gewinnt und in den Folgejahren aus dem Amt scheidet. Würde sie die Nachfolge 2022 oder später antreten, so könnte sie sogar zweimal wiedergewählt werden und bis 2032 regieren – Grund genug, sich näher mit ihrer politischen Ausrichtung zu beschäftigen.

Bei gesellschaftspolitischen Themen wie Frauenrechte und Immigration steht Harris eher links vom demokratischen Mainstream – der allerdings schon recht fortschrittlich ist. Kritisiert wird sie für ihre vergangene Rolle als Staatsanwältin in San Francisco, wo sie einen zurückhaltenden Kurs gegenüber Polizeigewalt fuhr. Ihre jüngste Stellungnahme, Amerika müsse seine öffentliche Sicherheit neu erfinden, klingt gut, kann aber alles bedeuten. Beim Gesundheitssystem zeigt sie sich nicht mutiger als Biden, dafür hat sie bereits Anfang 2019 die demokratische „Green New Deal“-Initiative unterstützt. Ihr rezenter Vorstoß für sozialverträgliche Umweltgesetze, zusammen mit Alexandria Ocasio-Cortez, war ein geschickter Versuch, sich in den ökosozialen Aktivismus einzuklinken, für den sie bisher kaum stand.

Eigentlich war Harris Nominierung für viele Linke eine Enttäuschung – sie hätten gewiss lieber Bernie Sanders oder Ocasio-Cortez als Kandidat*in gesehen. Doch sie trösten sich damit, dass Harris – und Biden – opportunistische Politiker*innen sind, schreibt The Atlantic. Und zitiert den linken Aktivisten Julian Brave NoiseCat: „Eine kluge Politikerin wie Harris wird erkennen, wohin der Wind bläst und sich in diese Richtung bewegen.“

Doch die Linke will es nicht bei taktischem politischen Kalkül belassen. 2012 hätten die fortschrittlichen Kräfte nur zugeschaut, als Barack Obama die Chancen für Reformen verpasste und eine Austeritätspolitik einleitete, schreibt der linke Intellektuelle Robert L. Borosage in The Nation. Statt abzuwarten, ist man diesmal dabei, sich zu organisieren.

Bernie wirkt!

Das Misstrauen gegenüber Biden gründet in seiner politischen Vergangenheit, aber auch in seiner zentristischen Rhetorik. Wird sein Programm, das Borosage als „das kühnste fortschrittlichste aller demokratischen Kandidat*innen der jüngsten Vergangenheit“ beschreibt, auch umgesetzt werden? Dafür soll ab dem ersten Tag von Bidens Präsidentschaft Druck für einen linken Kurs gemacht werden. Die Kampagne von Bernie Sanders hat das Terrain vorbereitet: Sie zielte nicht nur auf die Nominierung ab, sondern war auch als Sensibilisierungskampagne für linke Positionen angelegt.

Derzeit mobilisieren die gleichen fortschrittlichen Netzwerke für die Zeit nach dem 3. November. Borosage verweist auf die „Thrive Agenda“- und die „People’s Charter“-Kampagnen. Erstere geht aus der „Green New Deal“-Initiative hervor, die „People’s Charter“ eher aus den radikalen sozialistischen Kreisen. Die Unterstützer*innen wie auch die Themen überschneiden sich allerdings größtenteils: öffentliche Investitionen für Klima und Jobs, staatliche Krankenversicherung inklusive bezahltem Krankheits- und Familienurlaub, Gewerkschaftsrechte und last but not least die Rechte aller benachteiligten Gruppen. Die Umsetzung der linken Forderungen würde Amerika verändern und Joe Biden und Kamala Harris in die Geschichte eingehen lassen. Eine Hoffnung? Eine Möglichkeit! Wenn, ja wenn am nächsten Dienstag alles gut geht.


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