Wahlen in Belgien: Die Kluft wird größer

Die Wahlergebnisse in Belgien machen eine Regierungsbildung im belgischen und flämischen Parlament kompliziert: Linken Erfolgen in Wallonien und Brüssel steht der Durchmarsch der extremen Rechten in Flandern gegenüber. Die Traditionsparteien sind wie andernorts auch im freien Fall.

Gegen den Vlaams Belang und die erstarkende Rechte in Europa: An einer Demonstration am vergangenen Dienstagabend in Brüssel nahmen rund 7.000 Personen teil. (Foto: Arnaud Brian)

Drastische Ereignisse lassen sich oft recht knapp resümieren. „Deux Belgique“ titelte „Le Soir“ am Tag nach den Wahlen; „La Libre“ kam sogar mit noch weniger Buchstaben aus: „La fracture“.

In Belgien sind am Sonntag neben den Europawahlen auch die Sitze fürs Föderal- sowie die drei Regionalparlamente neu vergeben worden. Dabei wurde die bestehende Parteienlandschaft auf eine Weise aufgemischt, die alle Befürchtungen übertroffen hat. Ein Rechtsruck in Flandern könnte das Land nun vor eine „Zerreißprobe“ stellen, die – so die Sorge – aus einer abgedroschenen Metapher am Ende womöglich Realität werden lässt.

„Der Wähler hat gesprochen“, kommentierte Bart De Wever, Chef der rechtsnationalistischen N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie) die Resultate am Wahlabend, und zwar „für Mitte-Rechts, für die Rechte und für den flämischen Nationalismus, mehr als je zuvor“. Belgien in seiner Gesamtheit erwähnte De Wever mit keinem Wort. Stattdessen gratulierte er dem Gewinner des Abends, dem rechtsextremen Vlaams Belang (VB), und kratzte damit bereits am „cordon sanitaire“.

Kommentator*innen hatten vorweg gewarnt: Der Stimmenzuwachs für den „Belang“ könnte noch deutlicher ausfallen, als aus dem Aufwärtstrend in den Umfragen abzusehen war. Am Ende wurden es in Flandern 18,5 Prozent statt der zuletzt prognostizierten 14,8 Prozent. Im Föderalparlament ist der VB künftig nicht mehr nur mit drei, sondern mit 18 von insgesamt 150 Sitzen vertreten.

Hinzukommt, dass De Wevers Partei zwar ordentlich Federn lassen musste, in der belgischen Abgeordnetenkammer aber trotzdem noch auf 25 Sitze kommt. Damit bleibt die N-VA dort vor dem Parti Socialiste (PS; 20 Sitze) weiterhin die stärkste Partei. Im flämischen Parlament lassen N-VA und VB mit 35 respektive 23 von insgesamt 124 Sitzen alle anderen Parteien hinter sich.

All dies, obwohl derselbe Wahlabend, im selben Land, zugleich eine Jubelstunde der parlamentarischen Linken war. Denn in Wallonien und Brüssel räumten die Grünen und der marxistisch orientierte „Parti du Travail de Belgique“ (PTB) gründlich ab, wobei der PTB alle Erwartungen überflügelte. Dreifacher Stimmenzuwachs in Brüssel, doppelt so viele Stimmen in Wallonien, und ein Top-Ergebnis auch auf föderaler Ebene, wo man künftig mit zwölf statt nur zwei Sitzen vertreten sein wird. Sogar in Flandern konnte der PTB vier Sitze ergattern.

„Ecolo“ sind im frankophonen Teil des Landes etwas hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Grünen wachsen aber auch dort deutlich und konnten in Brüssel sowie auf föderaler Ebene die Ergebnisse aus den vorangegangenen Wahlperioden nahezu verdoppeln. Auch der PS ist, obwohl neben dem liberalen Mouvement Réformateur des scheidenden Premierministers Charles Michel einer der großen Verlierer des Abends, weiterhin eine bedeutende politische Kraft. Sowohl im wallonischen als auch im Brüsseler Parlament nehmen die Sozialdemokraten vermutlich die Regierungsbildung in die Hand.

Belgien, ein „Trauerspiel“

Umso heftiger daher der Kontrast: in Flandern hat nahezu jede und jeder zweite Wahlberechtigte eine nationalistisch-separatistische Partei gewählt. Bart De Wever verlor keine Zeit, dies in einen politischen Auftrag umzumünzen: „Wenn wir vernünftig wären, was uns in diesem Land ja nicht oft gelingt, dann müssten wir jetzt die Karte des Konföderalimus ziehen, um diesem Trauerspiel ein Ende zu machen“, sagte er am Tag nach den Wahlen dem flämischen Sender „Radio 1“. Einmal mehr fordert er eine weitgehende politische und ökonomische Spaltung des Landes, das er ohnehin in ein extrem linkes Wallonien und ein extrem rechtes Flandern zerfallen sieht.

Zwar pocht die N-VA damit einmal mehr auf ihr Kernprojekt. Ein wenig gleicht De Wevers Vorstoß allerdings auch einer Flucht nach vorn. Eine Regierungsbildung dürfte nämlich in beiden Parlamenten sehr schwierig werden. Auf föderaler Ebene will sich die N-VA der Mitarbeit in jeder Regierung verweigern, die nicht zugleich eine flämische Mehrheit repräsentiert, anders als es bislang umgekehrt der frankophon-liberale „Mouvement Réformateur“ von Premierminister Michel in einer flämisch-konservativ dominierten Regierungskoalition als Vertreter einer „frankophonen Minderheit“ akzeptierte. Auch mit „Ecolo“ will De Wever nichts zu tun haben, denn: „Wie soll man mit Leuten zusammenarbeiten, die uns als Halb-Nazis betrachten?“

Nicht ausgeschlossen hat der N-VA-Chef bislang hingegen eine Koalition mit dem „Vlaams Belang“. Damit jedoch würde er den 1991 von allen Parteien verabredeten „cordon sanitaire“ durchbrechen: Keine Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen, so wurde damals vereinbart, und daran haben sich bislang alle Parteien gehalten; widerwillig auch die N-VA. Falls das – vielleicht – so bleibt, dürfte es nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, dass N-VA und „Belang“ zusammen trotzdem nirgends auf eine eigene Mehrheit kommen.

Der Spielraum ist also für alle Beteiligten ziemlich eingeengt. Und während die einen derzeit über eine dysfunktional anmutende föderale Allparteienregierung unter Ausschluss der Rechten fantasieren, grübeln andere, wie es zu dieser Spaltung des Landes kommen konnte. Die Kluft manifestiert sich nicht nur in einer Links-Rechts-Aufteilung, sondern in einer weiteren Fragmentierung der belgischen Parteienlandschaft und im Niedergang der christdemokratischen, sozialistischen und liberalen Traditionsparteien, wie auch die Ergebnisse von Sonntag zeigen.

Foto: Pexels

Rechte Verjüngungskur

Hingegen ist es dem „Belang“ offenbar gelungen, eine beträchtliche Anzahl von Jungwähler*innen zu binden. Rund 700.000 Personen wurden allein in Flandern erstmals zu den Urnen gerufen, und nicht wenige davon haben sich anscheinend für den VB entschieden. Das mag auch daran liegen, dass die Partei sich selbst einer Verjüngungskur unterzogen hat und sich alles andere als „jugendfeindlich“ zeigt. Den Parteivorsitz hat 2014 der damals 27-jährige Tom Van Grieken übernommen, der sich anders als sein Vorgänger Filip Dewinter nicht nur auf Provokation, sondern auch auf die für die heutige Rechte so wichtige Doppel-Sprache versteht. So kritisierte er seinen Parteifreund Dewinter, als dieser in Griechenland die Nazipartei „Goldene Morgenröte“ besuchte, und gab sich damit als „moderat“. Zugleich versichert er seiner Klientel: „Ich bin nicht weniger radikal als Filip.“

Ohne die alte Wähler*innenschaft zu vergraulen, hat Van Grieken den einst altrechten Radauverein VB eher behutsam an die neue Rechte herangeführt. So ist ihm beispielsweise der Coup gelungen, den 26-jährigen Dries Van Langenhove, Chef der neurechten Vereinigung „Schild & Vrienden“, an die Partei zu binden, der als „Unabhängiger“ auf der Liste des VB kandidierte und nun ins belgische Parlament einzieht.

Natürlich ist der Wahlerfolg des VB nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Partei sich insbesondere gegenüber der N-VA als „Anti-Establishment“ und in Sachen rigider Migrationspolitik als das Original präsentieren konnte. Dennoch versuchte man beispielsweise auch mit sozialen Themen zu punkten: das Rentenalter solle wieder gesenkt, die Mindestrente angehoben werden, lauten zwei der Forderungen aus dem Wahlprogramm. Und so sind es allem Anschein nach eben nicht nur die Stimmen ehemaliger N-VA-Wähler*innen, die dem „Belang“ zugeflossen sind. Auch von den 20 bis 30 Prozent jener, die nicht mehr für die Traditionsparteien stimmen wollten, haben insbesondere PTB und Vlaams Belang, weniger die Grünen, profitiert, so der Politologe Jérémy Dodeigne von der Universität Namur.

Angesichts all dessen hat das politische Führungspersonal Belgiens also einiges zu grübeln. Vieles wird wohl davon abhängen, ob in dieser Zuspitzung jemand erfolgreich daran erinnert, dass die Spaltung des Landes in erster Linie in der Existenz sozialer Widersprüche, nicht im Antagonismus wie auch immer definierter Identitäten besteht.


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