Wahlen in Frankreich: Wir sind das Volk!

Bei den Regionalwahlen in Frankreich sind zwei Drittel der Berechtigten nicht wählen gegangen. Eine Übersicht über Erklärungsversuche, Auswirkungen und Lösungsvorschläge.

„Wahlen, Falle für Dummköpfe“, beliebter Slogan von Mai ’68.

Die „größte Partei Frankreichs“ verfügt über eine Zweidrittelmehrheit. Die als „premier parti de France“ bezeichneten „abstentionnistes“, also Wahlberechtigte, die nicht wählen, haben bei den Regionalwahlen am 20. und 27. Juni ein Rekordergebnis erzielt (mit unseren direkten Nachbar*innen als Trendsetter: Der Grand-Est). Das mag für die Mandatsverteilung irrelevant erscheinen, für die Bewertung der Wahlergebnisse ist es jedoch entscheidend (demnächst auf online-woxx: Gewonnen, zerronnen).

Verweigerung oder Verzicht bei der Stimmabgabe ist ein Verhalten, das nicht gleichmäßig über das Elektorat verteilt auftritt. Klassischerweise spielt das Bildungsniveau eine große Rolle und auch diesmal ist die Stimmenthaltung bei den Arbeiter*innen am stärksten. Doch der Einfluss des Bildungsniveaus geht zurück, wie die Forscherin Anne Jadot im Interview mit Mediapart (Paywall!) festhält: „Die Alterszugehörigkeit bleibt der einzige wirklich abgrenzende Faktor.“

Die Jugend wählt am wenigsten

Mit anderen Worten: Die Stimmenthaltung ist bei den Jugendlichen am höchsten, bei den Rentner*innen am niedrigsten. Über 85 Prozent der unter 24-Jährigen, kaum weniger der zwischen 25- und 34-Jährigen gingen nicht zur Wahl. Das Elektorat, das noch wählen geht, ist damit eher in einer stabilen, etablierten Lebenssituation, was erklärt, dass am Ende die Mandatsträger*innen fast alle wiedergewählt und die Mehrheiten bestätigt wurden.

Wie immer gibt es Erklärungen für die besonders vielen Enthaltungen bei diesem speziellen Urnengang: Unwissen über die erheblichen Zuständigkeiten von Regionen und Departementen, Covid-bedingte Einschränkungen des öffentlichen Lebens, lahme Wahlkampagne. Doch der Trend lässt sich nicht verleugnen: Das Vertrauen in die Politik schwindet, der Eindruck, durch Wahlen lasse sich nichts ändern, verstärkt sich.

Abmarsch von LREM?

Manche deuten das als Vernachlässigung der bürgerliche Pflichten, andere als Aufbegehren gegen das politische System … Jadot warnt vor Überinterpretationen. Vielleicht gebe es eine bewusste Enthaltung in der Gruppe mit höherer Bildung, die politisierter ist, aber: „Für einen Großteil der ‚abstentionnistes‘, für die sozial und ökonomisch Benachteiligten, hat das, was sie dringlich beschäftigt, nichts mit Politik zu tun; diese wird nicht mehr als eine Antwort auf ihre Probleme angesehen.“

Andere Forscher*innen diagnostizieren eine Entzauberung („désenchantement“) der Politik, sogar bei den Wahlberechtigten, die oft aus Gewohnheit oder Pflichtgefühl wählen gehen. Für „La République en marche“ (LREM), die Bewegung des Präsidenten Emmanuel Macron ist das, mehr noch als die Wahlniederlage, ein Zeichen des Scheiterns. Schließlich war der Kandidat Macron mit dem Anspruch angetreten, die Politik wieder zu bezaubern („réenchanter la politique“). Darauf, was das für die Präsidentschaftswahl von 2022 bedeutet, gehen wir im Beitrag „La droite dans un fauteuil ?“ ein.

Zauber statt Zwang

Vorschläge, was man gegen die massiven Enthaltungen tun könnte, gibt es genug. Die Appelle an das bürgerliche Pflichtbewusstsein, die Politiker*innen zwischen den beiden Wahlterminen lanciert hatten, haben jedenfalls nichts gefruchtet, die Beteiligung blieb auch in der zweiten Wahlrunde extrem niedrig. Von Versuchen, mit technischen Mitteln, wie Wählen per SMS, den jüngeren Generationen die Stimmabgabe schmackhaft zu machen, hält Jadot wenig. „Man muss den Menschen einen Respekt für die Wahlen oder die Lust auf politische Initiativen zurückgeben“, so die Expertin für „abstentionnisme“. Auch wenn Macron damit gescheitert ist, am „Réenchantement“ geht wohl kein Weg vorbei.

Und Luxemburgs Patentrezept, die Wahlpflicht? Bisher hilft sie dabei, die Enthaltungen auf niedrigem Niveau zu halten. Ob das auf die Ordnungsliebe der Luxemburger*innen, oder auf ihren relativen Wohlstand zurückzuführen ist, sei dahingestellt. In Frankreich aber aus einer moralischen Pflicht eine gesetzliche Vorschrift zu machen, wäre riskiert. Die Vorschrift würde wohl weitgehend ignoriert, denn ziviler Ungehorsam hat bei unseren südlichen Nachbarn eine lange Tradition. Würde man aber die Bürger*innen mit Strafandrohungen in die Wahlkabinen drängen, so dürfte sich der Überdruss durch ein auf die Stimmzettel geschmiertes „Merde!“ Luft verschaffen.

 


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