KINO: Krankes System

In Sicko stellt Michael Moore dem US-amerikanischen Gesundheitssystem eine üble Diagnose.

Das perfekte Gesundheitssystem liegt am Fuße des Eifelturms? Man muss schon Amerikaner sein, um auf solche Ideen zu kommen …

Wer geneigt ist, sich als linker Intellektueller zu bezeichnen, wenn sich aus dem Begriff nicht längst jeder Hauch von Gehalt und Coolness verflüchtigt hätte, der betrachtet Michael Moore mit einer Mischung aus überschäumender Dankbarkeit und gepflegter Distanziertheit. Moore ist der Prophet, nach dem jeder linke Intellektuelle sich gesehnt hat und zu dem er sich doch nicht bekennen will.

Film für Film ist Michael Moore das Kunststück gelungen, mit engagiertem Kino ein Millionenpublikum zu erreichen und es auf äußerst unterhaltsame Weise für progressive Ideen zu begeistern. Niemand auf Seiten der amerikanischen Linken genießt einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad. Niemand kann sich einer vergleichbaren Breitenwirkung rühmen.

So manches an Moores Filmen ist der linken Intelligentsia denn auch nicht geheuer. Vor allem verstört sie Moores hemmungsloses Bekenntnis zu Sentimentalität und Melodramatik, seine gespielte Naivität, seine aufdringlichen Kommentare und sein manipulativer Soundtrack, der seine Manifeste öfters in die Nähe von Videoclips bringt als auf seriöse Weise Probleme zu untermalen – man erinnere sich nur an die US-Soldaten in Moores vorigem Film „Fahrenheit“, die auf „Happiness is a warm Gun“ von den Beatles durch Bagdad streifen. Dabei ist der linke Intellektuelle an sich kein Feind mächtiger Gefühle. Sein Verhältnis zu gezielt eingesetzter Emotionalität ist ambivalent. Ambivalenz ist dialektisch. Dialektik ist links. Das hat er gelernt. Moores Filme sind auch links. Aber nicht ambivalent. Das ist das Problem des linken Intellektuellen. Weshalb seine Haltung ambivalent ist. Also links. Uff.

Auch in seinem neuen Film „Sicko“, in dem er zum Sturm auf das größtenteils privatisierte amerikanische Gesundheitssystem aufruft, konfrontiert uns Michael Moore nicht nur mit Zahlen und Zusammenhängen, sondern vor allem mit bewegenden Einzelschicksalen. Im Mittelpunkt stehen die haarsträubenden Geschichten von Patienten, die trotz privater Krankenversicherung durch die weiten Maschen des Systems fallen: Eine Mutter, deren Baby stirbt, nachdem sie an einem Krankenhaus abgewiesen wird. An Krebs erkrankte Patienten, deren Behandlungskosten nicht übernommen werden. Ältere Menschen, die halbnackt und orientierungslos vor Obdachlosenheimen ausgesetzt werden, wenn sie die Krankenhausrechnungen nicht länger begleichen können.

Nach einem Rundgang durch die Hölle erlaubt Moore dem amerikanischen Publikum einen Blick ins Paradies. In Großbritannien latscht er durch ein Krankenhaus und täuscht ein ums andere Mal vor, darüber zu staunen, dass die gesetzliche Sozialversicherung alle Kosten übernimmt. In Frankreich kommt Moore aus dem Staunen über unbefristeten Krankenurlaub und kostenfreie Hausbesuche gar nicht mehr heraus. Sogar das arme Kuba, wo Moore schließlich mit einigen Helden von 9/11, die sich bei Rettungsarbeiten am Ground Zero die Gesundheit ruiniert haben, strandet, scheint seinen Bürgern eine bessere medizinische Versorgung zu bieten als das reiche Nachbarland.

„Sicko“ richtet sich vor allem an ein amerikanisches Publikum, dessen anscheinend sehr ausgeprägten Vorurteile gegenüber staatlichen Krankenkassen Moore zu entkräften sucht. Die antiamerikanischen Klischees, die die europäische Linke so gerne bemüht, werden so bedient. Beim Gedanken, dass sie wirklich stimmen könnten, wird sogar dem linken Intellektuellen ein wenig unheimlich.

Im Utopia


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