DEMENZ: Der Verlust der Welt

Die dänische Autorin Kirsten Thorup und ihr niederländischer Kollege Bernlef versuchen herauszufinden, was im Kopf von Alzheimerkranken vor sich geht.

Wenn die Erinnerung verloren geht:
Den Alltag aufhellen, ohne ein Lachen zu erzwingen, möchte
dieser Klinikclown.

„Das Alter ist kein Kampf,
das Alter ist ein Massaker.“
(Philip Roth)

Schätzungsweise 5.000 Menschen in Luxemburg leiden an Alzheimer. Diese Krankheit ist die häufigste Form der Demenz. Langsam aber stetig fortschreitend gehen die Nervenzellen des Gehirns unter, was ebenso fortschreitend zum Verlust des Gedächtnisses führt. Das Leiden gleicht einem Verdikt, denn eine Heilung ist bis dato nicht möglich. Neben der schwindenden Intelligenz stellt die Veränderung in der Persönlichkeit eines der drastischsten Symptome dar, nicht zuletzt für die Umwelt der Erkrankten.

In diesem Nexus bewegen sich auch zwei Romane zum Thema, die jüngst in deutscher Sprache erschienen sind. Der niederländische Autor Bernlef, Jahrgang 1937, stellt die Frage in den Mittelpunkt, was wohl in dieser so gefährdeten, sich in Auflösung befindenden Gedankenwelt eines an Alzheimer Erkrankten vorgehen mag. Er nimmt dabei konsequent die Pers-pektive des Betroffenen ein.

Maarten Klein ist Rentner und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Boston. Aus beruflichen Gründen sind die beiden Jahrzehnte zuvor aus den Niederlanden in die USA gezogen. Sie verbringen einen glücklichen Lebensabend, bekommt man den Eindruck, etwas abgeschieden von der Welt scheinen sie sehr aufeinander bezogen, wozu nicht zuletzt die gemeinsame Erfahrung der Besatzung durch die Nazis beigetragen haben mag. Immer waren sie einander Stütze, waren füreinander da. Doch was geschieht, wenn all das, worauf die emotionale Bindung aufruht, sich plötzlich aufzulösen beginnt?

Bei Maarten schreitet die Erkrankung, die häufig kaum merklich beginnt, äußerst drastisch voran. Das mag zum Teil der erzählerischen Dichte geschuldet sein, denn Bernlefs atemlose Sprache reißt die Leser in einen schwindelerregenden Strudel, der die Empathie mit seinem Protagonisten geradezu erzwingt. Ohne innezuhalten, entwickelt sich Maartens Demenz fort, nach anfänglichen Vergesslichkeiten folgen erste Ausfälle seiner fundamentalen Erinnerung. Er beginnt, soziale Normen zu verletzen, erkennt im Fotoalbum seine Kinder nicht wieder. Wie seine Umwelt auf ihn reagiert, was seine Frau Vera empfindet – wir erfahren es nur durch ihn. Die Gesprächsfetzen unter Freunden in der Küche, die irritierte Reaktion alter Bekannter, die er nicht mehr wiedererkennt, sie zeugen ebenso von der Veränderung, die in ihm vorgeht, wie die Symptome, die er an sich selber wahrnimmt. Er büßt das Zeitgefühl ein, verstrickt und verliert sich in Assoziationsketten. Irgendwann geht ihm sein gesamtes Bezugssystem verloren. Das, was gemeinhin als Individualität bezeichnet wird, existiert nicht mehr. Auch seine Frau Vera erkennt er zunächst nur manchmal noch, dann gar nicht mehr wieder.

Für ihn sei das Buch „vor allem eine Liebesgeschichte, die tragisch endet, weil einer der Liebenden den anderen nicht mehr erkennt und die gemeinsame Vergangenheit nicht mehr mit ihm zu teilen vermag“, schreibt denn auch Bernlef in seinem Nachwort. Sein Versuch, die mögliche innere Dimension der Alzheimer-Krankheit auszuloten, gelingt ihm jedoch so gut, dass sein nachdrücklicher Hinweis, es handle sich um eine „fiktive“ Antwort darauf, was im Kopf eines Betroffenen vor sich geht, durchaus angemessen ist. Der Leser erlebt nicht nur den Verlust, sondern auch die Veränderung der Persönlichkeit, die Maarten schmerzhaft an sich selbst (einem Selbst, das in Auflösung begriffen ist) feststellen muss. Dieser Schmerz ist primär und sekundär zugleich, denn er nimmt nicht nur die Veränderung wahr, sondern auch die Verletzungen, die dieser Prozess (ist es der Prozess oder Maarten?) den anderen zufügt, ein Prozess, dessen Fortschreiten Bernlef sprachlich mit dem fortschreitenden Zusammenbruch der Syntax reflektiert.

Auch Kirsten Thorup bedient sich in ihrem Roman „Niemandsland“ dieses Stilmittels, allerdings weniger erfolgreich. Das mag zum Teil daran liegen, dass die dänische Autorin im Gegensatz zu Bernlef auch erzählerisch eine andere Form wählt und nicht ausschließlich aus der Perspektive des Demenzkranken schreibt. So wechselt sie im Verlauf der Geschichte beispielsweise aus der Ich- in die Er-Perspektive über.

Er, das ist der 94jährige Carl, Vater zweier erwachsener Kinder und dreifacher Großvater. Die Tochter wohnt entfernt in der Großstadt, der Sohn Ulf führt das Geschäft des Vaters weiter. Als Ulf mit seiner Familie Urlaub machen möchte, bringt er den hilfebedürftigen Carl in ein Kurzzeitpflegeheim. Doch aus dem Kurzaufenthalt wird eine Reise ohne Wiederkehr: Carl darf nicht nach Hause zurück.

Carl wird zum verzweifelten Zeugen des Vorgangs, während dessen ihm seine Welt in zusammenhangslose Fragmente zerfällt.

Der Heimaufenthalt, so bekommt man das Gefühl, beschleunigt Carls innere Desintegration, frustriert und seiner gewohnten Umgebung entrissen, verliert er sich im Getriebe der Pflegefabrik. Wie bei Bernlef, erlebt der Leser auch den Zerfall von Carls Persönlichkeit auf qualvolle Weise mit, etwa das Ringen um Worte, wenn er seine Gefühle zum Ausdruck bringen will, seine Launen, Stimmungsschwankungen und Ausbrüche, vor denen ihm selber graut, wenn er sie manches Mal noch vage registriert. Carl wird zum verzweifelten Zeugen des Vorgangs, während dessen ihm seine Welt in zusammenhangslose Fragmente zerfällt. Er wird sich selbst charakterlich fremd, zerquält sich an dem Anspruch, trotz seiner Krankheit seiner Umwelt gerecht zu werden.

Doch mit dieser Innenansicht begnügt sich Kirsten Thorup nicht. Sie hat auch die totale Institution im Auge, die sie in der Pflegeanstalt erkennt. Diese Institution stellt die vermeintliche „soft barrier“ dar, die den Insassen doch mit aller nötigen Härte Grenzen setzt. Doch Carls Persönlichkeit stellt sich in Thorups Schilderung mit fortschreitender Demenz gerade in seinen intuitiven Willensäußerungen dar, etwa wenn er das Grab seiner erst vor Kurzem verstorbenen Frau besuchen will. Da er keine konsistente Perspektive von Vergangenheit und Zukunft mehr gewinnen kann, werden diese spontanen Akte zum letzten Halt seiner Individualität. Dadurch gerät Carl in Konflikt mit den Repräsentanten des Heims. Diesen Konflikt stellt Thorup eindringlich dar: „Es geht nicht, daß du hier herumrennst und wir nicht wissen, wo du bist, und du nicht wieder zu uns nach Hause finden kannst, sagte die Dame, ohne den Polizeigriff zu lockern. Ihre Stimme hatte etwas Zuckriges. Etwas viel zu Sanftes im Verhältnis zu der direkten physischen Machtausübung und routinierten Selbstverständlichkeit, mit der [er] ruhiggestellt worden war.“

Zunehmend beginnt Kirsten Thorup am Ende des Buches, den Zustand ihres Protagonisten zu theoretisieren. Zunächst, indem sie die Tochter von Carl während einer Zugfahrt ein Buch des italienischen Philosophen Giorgio Agamben lesen lässt. Dessen theoretische Figur des vollkommen Rechtlosen und auf sein „nacktes Leben“ Reduzierten, der in der Moderne im „Lager“ sein Wahrzeichen findet, hält sodann in die Betrachtungen der Erzählerin Einzug: „Die selbstgewählte Isolation machte ihn zu einer Ausnahme in dem Ausnahmezustand, in dem die Individuen der öffentlichen Gewalt gehören und der Körper durch das Hirntodkriterium nationalisiert worden ist. [?] Er konnte und wollte unter den gegebenen Voraussetzungen nicht leben. Es war die Einweisung, die ihn kränkte. Daß ihm die Souveränität genommen war.“

Die Darstellung solcher Überlegungen geht jedoch nicht wirklich zu Lasten der Eindringlichkeit des Romans. Unbeschadet der insgesamt nicht unproblematischen Thesen Agambens fügt Thorup dem Roman eine Perspektive hinzu, die in der von existenzialistischen Haltungen geprägten Diskussion um das Altern meist vergessen wird: die Bedingungen des Alterns in einer warenförmig organisierten Gesellschaft.

Gibt sich Bernlef also mit aller Empathie seinem Protagonisten hin, hat Kirsten Thorup nicht ohne Zorn auch die Gesellschaft im Visier. Beide Anliegen sind sympathisch, beide Male bleibt der Leser aufgewühlt zurück. Nicht nur für unmittelbar am Thema Demenz Interessierte sind diese beiden dramatischen Versuche über eine mögliche Verlaufsform des Älterwerdens lesenswert.

Kirsten Thorup – Niemandsland. Suhrkamp Verlag, 209 Seiten.
Bernlef – Bis es wieder hell ist. Verlag Nagel & Kimche, 168 Seiten.


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