3. Alter: Ethik in der Altenpflege

Es muss eine gemeinsame Ethikberatung her: Darüber sind sich neun Träger der stationären Altenpflege in Luxemburg einig. Mit diesem Ziel schlossen sie ein Rahmenabkommen mit der „Moral Factory“ ab, doch wer steckt hinter dem Unternehmen und was ist der Plan?

Mitte Dezember unterzeichneten neun Träger im Bereich der stationären Altenpflege ein Rahmenabkommen mit Erny Gillens (Mitte) Moral Factory, darunter auch Christian Ensch (sitzend, rechts), Generaldirektor der Homes pour personnes âgées: Gillen soll eine Ethikinfrastruktur aufbauen. (Quelle: Servior)

Die „Moral Factory“ ist keine fiktive Fabrik aus einem Science-Fiction-Roman, in der am laufenden Band Moralvorstellungen produziert werden. Stattdessen handelt es sich um das Unternehmen von Erny Gillen, unter anderem früherer Präsident von Caritas Lëtzebuerg und Caritas Europa, aber auch ehemaliger Generalvikar des Erzbistums Luxemburg. Inzwischen berät Gillen Kund*innen, die ihren Führungsstil, ihre Firma, Institution oder Organisation auf ethischer Ebene weiterentwickeln möchten. Seit Mitte Dezember zählen neun Träger aus der stationären Altenpflege in Luxemburg dazu, darunter Hospize (Les hospices civils de la Ville de Luxembourg, Hospice civil Echternach) sowie Alten- und Pflegeeinrichtungen (Servior, Fondation Jean-Pierre Pescatore, Homes pour personnes âgées, Maredoc, Elisabeth Senior, Résidence des Ardennes, Cipa Résidence Op der Waassertrap). Gemeinsam sind sie für 31 Wohnstrukturen für Senior*innen verantwortlich.

Die Homes pour personnes âgées (HPPA) und die Cipa Résidence Op der Waasertrap verfügten bereits vor der Zusammenarbeit mit Moral Factory über Ethikkomitees, die sie intern verwalteten. Diese wurden inzwischen jedoch abgeschafft und sollen künftig durch Ethikberater*innen und ein gemeinschaftliches, neu gewähltes Ethikkomitee ersetzt werden. Letzteres ist fortan für alle Häuser zuständig, die untereinander und mit Erny Gillens Moral Factory ein Rahmenabkommen unterzeichnet haben. Gillen wurde mit dem Aufbau der gemeinsamen Ethikinfrastruktur beauftragt.

Ethikberatung und Katholizismus

Die Initiative der Träger kommt nicht von ungefähr: Das neue Qualitätsgesetz für die Senior*innen- betreuung, das im Juli 2023 verabschiedet wurde und am 1. März in Kraft tritt, schreibt unter anderem die Einführung von Ethikkomitees vor. Das Gesetz definiert ihre Missionen: den Bewohner*innen oder ihren Rechtsvertreter*innen auf Nachfrage eine Entscheidungshilfe bei ethischen Problemen bieten; das Führungs- und Pflegepersonal bei ethischen Dilemmata beraten; allgemeine Unterstützung bei ethischen Entscheidungen oder dem Einhalten der Grundrechte der Bewohner*innen innerhalb einer Struktur leisten. Zu diesem Zweck ist das Komitee befugt, Informationen über den Gesundheitszustand der Betroffenen zu erhalten, sich über deren Beihilfen und Pflege zu erkundigen sowie ihr persönliches Dossier einzusehen.

Doch was bedeutet überhaupt ethisches Dilemma? Erny Gillen gibt im Gespräch mit der woxx, dem auch Christian Ensch, Generaldirektor der HPPA beiwohnt, Beispiele. „Wenn eine gesunde Person im Altenheim künstlich ernährt werden möchte, weil sie keine Lust hat, mit anderen am Tisch zu essen und sich auch nicht an die Essenszeiten halten will, liegt keine medizinisch fachliche Indikation für eine Ernährungssonde vor“, so Gillen. In dem Fall sei eine ethische Beratung unangebracht. „Leidet eine Person aber beispielsweise unter Depressionen und es gibt mehrere Betreuungsmöglichkeiten, die ihr zugutekommen könnten, kann eine Beratung aus ethischer Perspektive sinnvoll sein.“ In Alten- und Pflegeheimen würden sich oft bis zu fünf unterschiedliche Akteur*innen um den älteren Menschen kümmern und verfolgten – wenn nicht vorher abgeklärt – unterschiedliche Therapieansätze. „In dem Fall ist es wichtig, sich offen auf eine kohärente, ethisch ausgehandelte Strategie zu einigen“, ergänzt Gillen.

Nun haben sich die Träger mit Erny Gillen aber nicht nur für einen Ethikexperten entschieden, sondern auch für einen Mann, der beruflich seit Jahrzehnten eng mit dem Katholizismus verknüpft und promovierter Theologe ist. Für das Management im Gesundheitswesen beruft er sich etwa unter anderem auf die Prinzipien von Papst Franziskus, die er in ein Oktaeder, einen achtseitigen Würfel, übersetzt hat. Dazu erschien 2016 sein Buch „Gesund geführt im Krankenhaus: Die Papst Franziskus Formel“. Die katholische Kirche ist bekanntlich nur bedingt für ihre moralische Offenheit berühmt, beispielsweise auch hinsichtlich der Sterbehilfe. Laut Gillen hat seine Nähe zum Katholizismus keine Auswirkungen auf seine Arbeit als Ethikberater.

Der Katholizismus sei eine von vielen Moralen, die in unserer pluralistischen Gesellschaft gelebt und propagiert würden, sagt er. Der Fachethiker beschäftige sich mit unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen moralischen Überzeugungen, vertrete aber selbst keine bestimmte Moral. Stattdessen helfe er in spezifischen Situationen, ethisch verantwortliche Kompromisse zu finden, um die Handlungsfähigkeit der Betroffenen zu ermöglichen. „Das Anliegen der Unparteilichkeit in moralischen Fragen war sowohl den neun Partnern wie auch mir persönlich wichtig“, betont Gillen. „Ich habe den Namen meiner Firma Moral Factory ja von Anfang an mit Bedacht gewählt: weil die Moral nicht vom Himmel fällt, muss sie handwerklich korrekt, das heißt fachethisch fundiert, von denen erarbeitet werden, die zu entscheiden haben.“

Qualitätsmerkmal oder …

(COPYRIGHT: Matthias Zomer/Pexels)

Entscheidungsmacht haben am Ende die Träger, denn die Gutachten des Ethikkomitees sind unverbindlich. Das Komitee ist derweil aber dazu verpflichtet, dem Familienministerium und der Commission permanente pour le secteur des personnes âgées einen Jahresbericht über seine Aktivitäten vorzulegen. Das Gesetz sieht zudem mindestens alle drei Jahre eine Qualitätskontrolle der Strukturen für Senior*innen durch das Ministerium vor. Diese erfolgt mithilfe eines Punktesystems, anhand dessen die Dienstleister*innen nach bestimmten Kriterien bewertet werden. Für einen Teil der Evaluierung sollen mindestens fünf Bewohner*innen oder ihre Vertreter*innen zum Zustand der Struktur befragt werden. Eine Frage an sie bezieht sich auf ihre Zufriedenheit mit dem Ethikkomitee. Die Ergebnisse der Qualitätskontrollen werden im neu eingeführten, öffentlichen Informationsregister „registre des structures d’hébergement pour personnes âgées“ publiziert.

Die neun Träger, die mit der Moral Factory einen Vertrag abgeschlossen haben, einigten sich wie eingangs erwähnt auf ein gemeinsames Ethikkomitee. Bis Redaktionsschluss war unbekannt, wer diesem beitritt. „Am 1. März steht das Komitee“, versichert Gillen. Bis dahin wollen Gillen und Ensch keine Namen potenzieller Mitglieder preisgeben, doch Ensch teilt mit: „Wir haben Menschen aus den Bereichen Medizin, Palliativpflege, Psychologie, Pflege, Recht, Menschenrechte und Sozialarbeit ausgesucht.“ Das entspricht der gesetzlichen Vorschrift, nach der mindestens ein Mitglied Mediziner*in und eines Fachkraft in der Palliativpflege sein muss.

Die Ethikinfrastruktur, die den Trägern und Erny Gillen vorschwebt, geht aber über das Gesetz hinaus. Sie bilden zudem Ethikberater*innen aus. „Aufgabe der Ethikberater*innen wird es sein, Anfragen entgegenzunehmen, ethische Fallbesprechungen methodisch korrekt zu moderieren, nicht verbindliche und vertrauliche Gutachten zu formulieren und an die Fragestellenden zu übermitteln“, sagt Gillen. Die Ethikberater*innen vor Ort würden somit die Arbeit des Ethikkomitees unterstützen. Jede Anfrage und deren Bearbeitung wird von den Ethikberater*innen an das Ethikkomitee übermittelt, das in einer Anfangsphase zweimal, später voraussichtlich nur einmal im Monat tagt.

Zunächst boten die Träger ausgewählten Mitarbeiter*innen die Ausbildung zur Ethikberater*in explizit an. Erny Gillen informierte die Leiter*innen der Strukturen hierfür über die Grundkompetenzen, die Ethikberater*innen mitbringen sollten: So etwa die Fähigkeit, ein Gespräch über ethische Fragestellungen zu moderieren und ein entsprechendes Votum auszuformulieren. Die Leitung habe ihr Personal daraufhin analysiert und fünf bis zehn Personen ausgesucht. „Bei der Auswahl waren uns gute Kommunikationsfähigkeiten und ein Grundinteresse für das Thema wichtiger als das Diplom unserer Mitarbeitenden“, sagt Christian Ensch.

An den regionalen Informationsveranstaltungen, die allen Interessen- t*innen offenstanden, nahmen insgesamt um die 300 Personen teil. Zurzeit laufen die Einschreibungen für eine Ausbildung im Bereich Ethikberatung noch. „Das Interesse war jedenfalls viel größer als erwartet“, so Ensch. Das Ausbildungsprogramm, das sich nach Leitlinien der Akademie für Ethik in der Medizin für außer-klinische Ethikberatung in Göttingen richtet, beginnt nächste Woche. Für den Erhalt eines Abschlusszertifikats sind 45 Lehrstunden vorgesehen; Basiskenntnisse werden in 16 Lehrstunden vermittelt. „Das Ziel ist es, dass genügend Auszubildende über Grundkompetenzen verfügen“, verrät Gillen. „Wer seine Kenntnisse vertieft und am Ende zertifizierte Ethikberaterin oder zertifizierte Ethikberater sein wird, hängt von der Verfügbarkeit der Auszubildenden und ihrer Träger ab: Letztere stellen das Personal schließlich frei. Das bedeutet für alle Parteien ein großes Engagement.“

… Risiko?

Jetzt ist aber seit Jahren von Personalmangel in Pflegeberufen die Rede. Erschweren zusätzliche Ausbildungsmöglichkeiten die ohnehin angespannte Situation? Christian Ensch geht nicht davon aus. „Es ist realistisch, dass wir das stemmen können“, meint er. „Es handelt sich um ein langfristiges Projekt. Im Bereich Demenz gibt es vergleichbare Ausbildungskonzepte, bei denen das Personal insgesamt für neunzig Stunden ausfällt. In den HPPA führen wir diesbezüglich alle zwei Jahre ein Audit durch. Es ist machbar, es braucht eben nur Durchhaltevermögen.“ Gillen pflichtet Ensch bei und betont, dass sich die Anzahl der Auszubildenden einpendeln wird. Nicht jedes Jahr sei mit 150 Auszubildenden zu rechnen und nicht alle kämen aus dem Pflegebereich.

Die Ausbildungskosten sowie die Ausgaben für den Aufbau der Ethikstruktur durch die Moral Factory übernehmen die Träger. Weder Ensch noch Gillen legen auf Nachfrage der woxx offen, wie viel das Gesamtprojekt kostet. Die Summe variiere nach Größe und Personalstand, offenbart Gillen immerhin. „Wir investieren viel Geld und Energie in das Projekt“, gibt Ensch einen weiteren Hinweis. „Das unterstreicht, wie wichtig es uns ist.“

Die Intransparenz in puncto Kosten wirft die Frage auf, warum eine externe Firma mit dem Aufbau der Ethikinfrastruktur beauftragt wurde und das Familienministerium sich dieses kostspieligen und komplexen Projekts nicht selbst annimmt, schreibt es die Einführung von Ethikkomitees doch gesetzlich vor. „Der Alltag der Bewohner, der Familien und des Personals trägt dazu bei, dass konkrete ethische Fragen schnell und effizient beantwortet werden müssen“, so die Antwort an die woxx. „Aus dem Grund hat der Gesetzgeber entschieden, die Träger zu beauftragen, solche Ethikkomitees nach klaren Vorgaben zusammenzustellen.“

Auch wehrt sich das Familienministerium gegen die Annahme, dass die Träger hiermit Dienstleistungen auslagerten. „Es handelt sich nicht um einen externen Dienstleister, der die Rolle des Ethikkomitees einnimmt, beziehungsweise nicht um eine Anlaufstelle für Menschen, die eine Antwort auf ethische Fragen suchen. Das sieht das Gesetz auch gar nicht vor“, unterstreicht das Ministerium. Die Moral Factory unterstütze die Träger lediglich beim Aufbau einer Ethikinfrastruktur.

Vorerst übernimmt jedenfalls Erny Gillen als Geschäftsführer der Moral Factory die Verantwortung für die gemeinsame Fachstelle Ethik der Träger. Das Rahmenabkommen läuft noch bis Ende 2024, dann ist eine erste Zwischenbilanz vorgesehen. Sollten die Träger weiterhin Unterstützung benötigen, wird die Zusammenarbeit verlängert. Langfristig ist der Plan aber tatsächlich, dass die Träger das Ethikkonzept eigenständig fortführen.

„Leidet eine Person beispielsweise unter Depressionen und es gibt mehrere Betreuungsmöglichkeiten, die ihr zugutekommen könnten, kann eine Beratung aus ethischer Perspektive sinnvoll sein.“ (Erny Gillen, Geschäftsführer der Moral Factory)


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