FOTOGRAFIE: Die Wahrheit von Porträts

August Sander porträtierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts Menschen aller Zünfte. Es sind sprechende Landschaften, die den Zeitgeist der Weimarer Republik einfangen.
Das CNA zeigt derzeit eine Auswahl seines Werks.

Menschen in gekünstelten Posen vor arrangierten Landschaftsgemälden gehörten zum Standartrepertoire eines jeden Fotografen, als der deutsche August Sander zu fotografieren begann. Schon bald kehrte er jedoch der klassischen Porträtfotografie des beginnenden 20. Jahrhunderts den Rücken zu. Sein Anspruch mutete im Kontext der Zeit geradezu revolutionär an, ging es ihm doch um das Erfassen der charakteristischen Züge der Personen. Das Wesen seiner Zeit beschreiben, Zeugnis ablegen und der Nachwelt die Wahrheit überliefern: „Die Dinge so zu sehen, wie sie sind und nicht so, wie sie sein sollten“, lautete fortan sein Credo. So begab er sich auf die Suche nach Urtypen, die das allgemein Menschliche verkörpern. Eine sozialkritische Porträtfotografie war geboren. Mit einer Plattenkamera, meist im Freien, mit natürlichem Licht aufgenommen, porträtiert Sander Menschen aller Berufsgruppen beim Verrichten ihres Tagewerkes. Bauarbeiter wie Gastwirte, Polizisten, ZirkusartistInnen, Köche, Anwälte – nicht nur durch die heterogene Auswahl fing er den Zeitgeist ein, sondern viel mehr durch den gewählten Blickwinkel. So sind es Charaktere, die Sander mit seiner Kamera ablichtet, zerfurchte, vom Leben gezeichnete Gesichter, sprechenden Landschaften gleich. Das bescheiden dreinblickende Wirtsehepaar, der alt-ehrwürdige Notar (1924), der uniformierte Polizeibeamte mit abstehendem Zwirbelbart, die „Revolutionäre“, drei auf einer Treppe sitzende Männer mit Nickelbrille in klassischer Arbeiterpose. Sander reproduziert keine Klischees, er fängt Archetypen ein. Die mondän in die Kamera blickende „femme fatale“ in Seidenrobe mit Zigarette im Mundwinkel, mit dem Titel: „1931, die Frau, 17, im geistigen und praktischen Beruf – Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk“ entspricht so wenig dem klassischen Bild einer Sekretärin der 30er Jahre wie der aufmerksam drein blickende junge Mann mit Nickelbrille, der in NSDAP-Kluft mit dem Titel „Der Nationalsozialist“ (1935) ganz und gar nicht dem Klischee des stumpfen Nazi-Funktionärs entsprechen will.

Wenngleich Sanders Gesamtwerk auch Landschafts-, Industriearchitektur- und Stadtfotografie umfasst, erlangte er maßgeblich durch Porträts, mit der Fotoserie „Menschen des 20. Jahrhunderts“, Berühmtheit. 1925 entwarf er ein ambitioniertes Konzept, das über das Sujet des Künstlerporträts hinaus ein weites Spektrum der damaligen Gesellschafts- und Berufsgruppen umfasste, und legte es auf rund 600 Aufnahmen an. In dieser Serie versuchte er einen gesellschaftlichen Querschnitt, ausgehend von der Weimarer Republik. Beginnend mit der „Stammmappe“ – Bauernportraits aus dem Westerwald – unterteilt er sein Werk in sieben Gruppen: „Der Bauer“, „Der Handwerker“, „Die Frau“, „Die Stände“, „Die Künstler“, „Die Großstadt“ und „Die letzten Menschen“. Mit dieser Unterteilung schuf Sander ein Vergleichsystem, das die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in der Ablichtung der Porträtierten sichtbar machte. Mit seiner umfangreichen Porträtserie „Das Antlitz des deutschen Menschen“ entstand so sukzessive ein fotografisches Bildarchiv mit nahezu universalem Anspruch.

Von einer großen Beachtung zu Lebzeiten zeugen einige Kommentare berühmter Zeitgenossen, etwa Walter Benjamins oder Kurt Tucholskys. Benjamin hatte die politische Symbolik von Sanders Werk früh erfasst. Die scheinbar schleichende Machtübernahme der Nationalsozialisten klingt in seinen Anmerkungen zu seinem fotografischen Werk vorausschauend als leise Vorahnung durch. Im Jahr 1936 wurden die Druckstöcke zu Sanders „Antlitz der Zeit“ von den Nationalsozialisten zerstört und in Deutschland verboten.

Die Ausstellung im CNA zeigt rund 100 charakteristische Schwarz-Weiß-Fotografien seines Hauptwerks „Menschen des 20. Jahrhunderts“ aus dem Archiv der Photografischen Sammlung/SK Stiftung Kultur in Köln. Ein kurzer Dokumentarfilm ergänzt die beeindruckende Schau. Die Ausstellung sei jedem Fotoliebhaber ans Herz gelegt, zeigt sie doch eindrucksvoll menschliche Facetten. Mode, Habitus und individuelle Wesenszüge werden fotografisch meisterhaft eingefangen und zeugen von einer vergangenen Epoche.

August Sander: Menschen des
20. Jahrhunderts – noch bis zum
26. September im CNA.


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