Bis spätestens Montag müssen die Kandidaturen für einen freiwerdenden Staatsratsposten angemeldet werden. Zwar darf jeder mitmachen, doch der Gewinner steht schon fest.
„Wenn die StudentInnen gegen die neue Krankenkassenregelung demonstrieren, werde ich mitlaufen und mir ein ,Mea culpa‘-Schild umhängen!“ Agnès Rausch, vor fast elf Jahren ins Amt berufene Staatsrätin, lacht, als sie im großen Saal des Lisel-Treffpunkts (1) auf die erst kürzlich bekannt gewordene Regelung angesprochen wird, nach der nicht bei den Eltern mitversicherte oder aus Nicht-EU-Ländern stammenden StudentInnen jeden Monat gut 100 Euro für ihre Krankenversicherung aufbringen müssen (siehe woxx 1094). Dass ihr als Verantwortliche einer Dienststelle für StudentInnen die gravierenden Konsequenzen dieser Regelung bei den Diskussionen im Staatsrat nicht gleich aufgegangen waren, ist nicht unbedingt ihre Schuld. Gemäß der im Staatsrat praktizierten Arbeitsteilung war sie nur indirekt mit dem Dossier „Gesundheitsreform“ befasst. Trotzdem macht die Angelegenheit deutlich: Luxemburgs „zweite“ Kammer, die Gesetzesinitiativen auf ihre Kohärenz mit bestehenden Regelungen hin überprüfen soll, ist nicht gegen Fehleinschätzungen gefeit.
Auch Staatsratspräsident Georges Schroeder erkennt an, dass es nicht immer gelingt, Fehler in der Gesetzgebung auszumerzen. Dass jüngst die „Chambre constitutionnelle“ eine im Jahre 2007 verabschiedete Reform des Armeegesetzes als verfassungswidrig einstufte und so die Abberufung des damaligen Armeechefs annullierte, bewertet der Präsident als wenig rühmlich für das Gremium, dessen Mitglied er seit 1994 ist und dem er seit November 2009 vorsteht. Dass es sich in dem Gesetzpassus um einen so genannten „costume sur mesure“, also eine Sonderbestimmung für eine bestimmte Person im Staatsdienst handelte, war den Kontrolleuren des Staatsrates sicher bewusst. Doch hatten sie wohl übersehen, dass es sich hier nicht um eine Übereinkunft zwischen Armeechef und seinem Minister handelte. „Es soll uns eine Lehre sein“, meint Georges Schroeder. In Zukunft wird die hohe Körperschaft derartige Sonderbestimmungen also besonders kritisch unter die Lupe nehmen.
Es sind allerdings weniger die handwerklichen Fehler, die von Zeit zu Zeit Kritik am Staatsrat hervorrufen. Immer wenn es gilt, den einen oder anderen frei gewordenen Posten zu besetzen, stellt sich auch die Frage nach der Legitimation der im Gesetz verankerten Prozedur. Die 21 Mitglieder des Staatsrates werden turnusmäßig von drei Instanzen ernannt: Zum einen vom Großherzog – also der Regierung, zum zweiten von der Abgeordnetenkammer und – jedes dritte Mitglied – vom Staatsrat selber. Die jüngste Vakanz entspricht dieser letzten Kategorie: Der Staatsrat hat per Anzeige im Mémorial mitteilen lassen, dass interessierte BürgerInnen bis spätestens 31. Januar schriftlich ihre Kandidatur für das frei gewordene Mandat einreichen können.
Nach Ablauf der genannten Frist prüft das Büro des Staatsrates, ob die Kandidaturen den im Gesetz festgelegten Kriterien entsprechen, also zum Beispiel neben der Luxemburger Staatsangehörigkeit ein Mindestalter von 30 Jahren aufweisen. Ein weiteres Kriterium, die juristische Ausbildung, spielt bei der aktuellen Ausschreibung keine Rolle, da das Mindestquorum von elf JuristInnen zur Zeit erfüllt ist. Mitte Februar benennt das Plenum des Staatsrates in geheimer Abstimmung drei KandidatInnen, von denen sodann einEr vom Großherzog ausgewählt wird. Das dürfte mit größter Wahrscheinlichkeit der oder die Erstplazierte der Liste sein. Dass die „Wunschkandidatur“ des Staatsrates mit den Vorstellungen der Exekutive übereinstimmt, wird nämlich schon im Vorfeld sichergestellt – zumindest, welcher politischen Familie der oder die KandidatIn entstammen wird.
Ein abgekartetes Spiel also, auch wenn der Aufruf im Mémorial sich eher so anhört, als ginge es hier um ein offenes Rennen. „Wir halten uns an unsere Gepflogenheiten“, betont Schroeder, „es war immer so, dass versucht wurde, austretende Mitglieder durch einen Vertreter der gleichen Partei zu ersetzen.“ Es ist also kein Geheimnis, dass der CSV-Mann Ady Jung, der am 12. Dezember des letzten Jahres wegen Erreichens der gesetztlichen Altersgrenze von 72 Jahren ausschied, durch einen CSV-Kandidaten ersetzt werden wird.
Ungeschriebene Regel
Diese „ungeschriebene Regel“ bedeutet aber auch, dass das politische Ungleichgewicht, das die Zusammensetzung des Staatsrates seit jeher charakterisiert, weiter bestehen wird. Bis Dezember 2009 waren zehn der 21 Staatsratsmitglieder von der CSV berufen worden, fünf hatte die LSAP benannt, genau wie die DP. Den Grünen war bislang einmal ein Vorschlagsrecht eingeräumt worden. Sie nominierten damals mit der parteilosen Agnès Rausch die erste und bislang einzige Sozialarbeiterin für den Staatsrat. Der ADR ebenso wie „déi Lénk“ blieb dieses Recht bislang verwehrt. Diese Nichtbeachtung wird gerne mit dem fehlenden Fraktionsstatus der beiden Formationen begründet – ein Argument, das im Falle der ADR zwischen 2004 und 2009 allerdings keine Gültigkeit hatte.
Georges Schroeder spricht von einem „décalage“ zwischen der Zusammensetzung der Chamber auf der einen und der des Staatsrats auf der anderen Seite. Allerdings handelt es sich nicht um eine leichte Verschiebung. Denn legt man die letzten Wahlen zur Abgeordnetenkammer zugrunde, so stünden der CSV gerundet 9, der LSAP 5, der DP 3, den Grünen 2 und dem ADR 1 Sitz im Staatsrat zu. Mit diesem Schlüssel wären 20 der 21 Sitze des Staatsrates vergeben – der Restsitz käme wohl den Grünen zugute, da sie einem zusätzlichen Sitz am nächsten wären.
Am stärksten überrepräsentiert ist die DP, die zwei Wahlen hintereinander mit einem satten Mandatsschwund in der Abgeordnetenkammer zu kämpfen hatte. Da sie weniger Mandate einheimste und auch noch aus der Regierung flog, gab es in letzter Zeit auch keine Nachrückermandate zu vergeben. Prominentestes Opfer war 2004 Agny Durdu, die nicht mehr in die Chamber gewählt wurde und deshalb 2006 mit einem Staatsratsposten vertröstet werden musste. Freiwillig werden die Liberalen wohl kaum auf ihr Übergewicht im Staatsrat verzichten.
Doch auch die CSV übt sich kaum in Zurückhaltung. Bei der letzten Mandatsvergabe im November 2009 wäre es nach den ungeschriebenen Prinzipien eigentlich an der LSAP gewesen, eine Kandidatur vorzuschlagen. Doch hatten die Sozialisten im Rahmen der Koalitionsverhandlungen auf ihr Vorschlagsrecht verzichtet und so die Ernennung von Erna Hennicot-Schoepges – ehemalige CSV-Ministerin und zuletzt Europaabgeordnete – ermöglicht. Zeitweise waren so gut drei Viertel der Staatsratssitze in der Hand der beiden bürgerlichen Parteien. Auch wenn das CSV-Übergewicht nach dem für sie besonders günstigen Wahlergebnis von 2009 mit zehn statt neun Sitzen nicht mehr besonders ausgeprägt ist, so dürfte ihr Mandatshunger doch einer repräsentativeren Verteilung der Mandate weiter im Wege stehen.
Dass jetzt wieder ein altgedienter CSV-Staatsbeamter das Rennen machen soll, wurmt Agnès Rausch. Gerade weil turnusmäßig diesmal der Staatsrat selber, und nicht die Regierung oder die Chamber, mit dem Nachrücken an der Reihe ist, hätte sie sich eine transparente Diskussion um die Neubesetzung erhofft. Stattdessen sprechen sich auch diesmal die Vertreter der drei großen Parteien untereinander ab, damit klar ist, wem sie am 15. Februar ihre Stimme zu geben haben.
Parteikarte vor Kompetenz
Dabei ist die Diskretion, mit der der Staatsrat vorgeht, auch für Agnès Rausch wichtig: „Da die politischen Diskussionen nicht öffentlich geführt werden, sind die Debatten ehrlicher.“ Und die eidliche Verpflichtung der Mitglieder des Staatsrates, außer dem gemeinsam verabschiedeten Bericht nichts über die Diskussionen im gesetzgeberischen Verfahren nach außen dringen zu lassen, hält sie für durchaus angebracht. Das hindert nicht, dass sich der Staatsrat in strittigen Fragen gelegentlich auch Rat bei anderen holt. „Wenn wir jemanden einladen, dann schicken wir vorab einen Fragebogen, um uns auf die wesentlichen Probleme zu konzentrieren“, erklärt Georges Schroeder. Anders als die Chamber, deren Zusammenkünfte mit den „forces vives de la nation“ in aller Öffentlichkeit diskutiert werden, versucht der Staatsrat, sich so vor all zu starkem Lobbyismus zu schützen.
Eigentlich ist Agnès Rausch mit ihrem Präsidenten auch darin einig, dass es wichtig wäre, den Staatsrat eher nach fachlicher Kompetenz als etwa nach Parteizugehörigkeit zu besetzen. Dabei geht es nicht nur um das Parteibuch, denn einige der von den Parteien nominierten KandidatInnen sind gar nicht Mitglieder der Partei, der sie ihre Kandidatur verdanken. Aber sie wissen, wem sie das Amt verdanken, und sind so eingebunden in ein informelles Regelwerk, das bislang von den drei großen Parteien und ihren VertreterInnen nicht in Frage gestellt wird.
Auch Georges Schroeder missfällt das schlechte Image, das der Staatsrat in der Angelegenheit der Nominierungsprozedur leider hat. Doch scheint er nicht zu glauben, dass der Staatsrat aus eigenem Ansatz eine Lösung für dieses Dilemma finden wird. Die Forderung des „Conseil National des Femmes“ auch die geschlechtliche Gewichtung des Staatsrates zu überdenken – derzeit sind sechs der 21 Mitglieder Frauen – hat er zwar zur Kenntnis genommen, doch genau wie beim Nominierungsprozedere verweist er auf die Politik, die hier gegebenenfalls handeln müsse.
Seine Aufgabe sieht er eher darin, durch bessere Organisation und eine Straffung des Apparats die Arbeit des Gremiums zu verbessern. Fachkompetenz, über die sie selbst nicht verfügt, werde sich die hohe Körperschaft nach und nach durch einen Ausbau der Planstellen für fest angestellte Mitarbeiter ins Haus holen. Der Bedarf ist groß, denn auch in den Ministerien, in denen die Gesetze ausgedacht werden, sind die fachlichen Ressourcen rar und somit Konstruktionsfehler fast unvermeidbar.
(1) Lisel – Lieu d’initiatives et de services des étudiants du Luxembourg, lisel.lu