Das Buch „Kongo. Eine Geschichte“ des Belgiers David Van Reybrouck hat neue Maßstäbe in der Geschichtsschreibung über Afrika gesetzt. Es ist zudem nicht nur umfangreich informativ, sondern spannend und auf hohem Niveau geschrieben.
„Nkasi saß auf der Bettkante und hatte den Kopf gesenkt. Mit seinen alten Fingern versuchte er sein offen stehendes Hemd zuzuknöpfen. Er war gerade erst aufgewacht.“ David Van Reybrouck beschreibt seine erste Begegnung mit Etienne „Papa“ Nkasi minutiös bis ins kleinste Detail. Bei seinem Anblick habe der 128 Jahre alte Kongolese „Mundele“ gemurmelt, was „Weißer“ bedeute. Van Reybrouck fügt hinzu: „Seine Stimme war wie ein träges rostiges Zahnrad, das sich langsam in Bewegung setzte. Ein Belgier in seinem Haus … nach all den Jahren … Dass er das noch erleben durfte.“
Die Szene ist beispielhaft für „Kongo – Eine Geschichte“, das nun im Suhrkamp Verlag auf Deutsch erschienene Buch des 41-jährigen Schriftstellers, Journalisten, Dramatikers, Archäologen und Historikers aus Brügge. In Belgien und den Niederlanden wurde es schnell zum Bestseller. Einige Kritiker haben es als Meisterwerk bezeichnet. In der Tat ist „Kongo“ das beeindruckende Resultat langer, intensiver Recherchen: Nachdem er Silvester 2003 zum ersten Mal in der Hauptstadt Kinshasa landete, bereiste Van Reybrouck die Demokratische Republik Kongo rund zehn weitere Male. Mit der Beschreibung des Flusses, der dem Land und dem Buch ihren Namen gab, beginnt der Belgier, indem er auf die Farbenlehre zurückgreift: „Das leuchtende Azur ist verschwunden. Die türkisfarbene Kräuselung unter der Mittagssonne ist weg. Das unergründliche Kobalt, aus dem die Sonne aufstieg, das Ultramarin der Dämmerung, das Bleigrau der Nacht: vorbei.“
Van Reybroucks Sprache ist poetisch, und in der deutschen Übersetzung von Waltraud Hüsmert hat sie nichts von ihrer Wirkung verloren. Die Sprache ist die eine Stärke des Autors, die andere ist der gelungene Wechsel zwischen der analytischen Perspektive eines Historikers, der Reportage eines Journalisten und der Erzählweise eines Schriftstellers. Aus der persönlichen Entdeckungsreise ergibt sich ein komplexes Panorama auf den Kongo. Über diesen sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Büchern erschienen, unter anderem Séverine Autesserres „The Trouble with the Congo“ über die Fehleinschätzungen der Uno im Kongo-Krieg um die Jahrtausendwende, Adam Hochschilds „Schatten über dem Kongo“ mit dem Schwerpunkt auf die belgische Kolonialzeit sowie Michaela Wrongs „Auf den Spuren von Mr. Kurtz“, eine Anspielung auf Joseph Conrads berühmtes „Herz der Finsternis“, über den Gewaltherrscher Mobutu.
Van Reybrouck setzt neue Maßstäbe. Denn er beschreibt das Land aus der Sicht der Kongolesen, wie diese die historischen Ereignisse erlebten. Seine eigene Perspektive hinterfragt er: „Wie bizarr eigentlich, die Geschichte des Kongo von einem Europäer abhängig zu machen. Geht es noch eurozentristischer?“ Van Reybrouck hat zahlreiche Quellen und Dokumente verarbeitet und diese gekonnt mit seinen persönlichen Begegnungen mit Einheimischen verknüpft, mit den Schicksalen dieser Menschen, mit ihren Hoffnungen und Träumen. So nah sie ihm auch sind, wahrt er jedoch Distanz.
Die Geschichte, die er erzählt, nimmt ihren Ausgang im Moloch von Kinshasa. „Angenommen, man könnte über die Stadt dahingleiten wie ein Ibis. Ein Schachbrett aus rostigen Wellblechdächern würde man sehen, Grundstücke mit dunkelgrünem Laub.“ Der erzählerisch anschauliche Reportage-Stil des Belgiers entwickelt einen Sog der Bildlichkeit. In der Zehn-Millionen-Stadt Kinshasa, dem früheren Leopoldville, spricht er in einer Wellblechhütte mit Papa Nkasi. Er ist der älteste der Zeitzeugen, die Van Reybrouck für seine Geschichte des Kongo getroffen hat. Nkasi, dem der Autor sein Buch widmete und der vor zwei Jahren starb, kam 1882 zur Welt, zu einer Zeit, als der Abenteurer Henry Morton Stanley als erster Weißer das Kongo-Becken durchquerte. Zwei Jahre später fand in Berlin die Kongo-Konferenz statt. In langem Feilschen um die Kolonien überließen die Großmächte das rohstoffreiche Gebiet dem belgischen König Leopold II. als Privatbesitz. Der Monarch regierte den „Freistaat Kongo“ ab 1885 mit harter Hand, setzte aber nie einen Fuß in das Land.
Um die Geschichte vor der Kolonialzeit zu erklären, stellt sich Van Reybrouck im Vorwort anhand von fünf fiktiven Momentaufnahmen vor, wie das Leben eines zwölfjährigen Jungen in dem zentralafrikanischen Gebiet jeweils vor 90.000, vor 2.500 Jahren, in der Zeit um 500 nach Christus, im 16. Jahrhundert und um 1780 ausgesehen haben mag. Danach setzt er mit dem ersten von 15 chronologisch aufeinander aufbauenden Kapiteln ein – angefangen mit der Kolonialzeit, mit der die Tragödie des Landes ihren Lauf nahm. Die riesigen Kautschukvorkommen wurden für die Menschen zum Fluch. Die Belgier zwangen sie unter Peitschenschlägen zu unmenschlicher Arbeit. Wer sein Soll nicht erfüllte, dem wurden die Hände abgehackt. Der Knechtschaft, den Vergewaltigungen, Morden und drakonischen Strafen der rassistischen Europäer fielen in kaum zehn Jahren mehrere Millionen Menschen zum Opfer.
Aus dem Freistaat wurde 1908 schließlich die dem belgischen Parlament unterstellte Kolonie Belgisch-Kongo. Der brutalen Ausbeutung unter dem Schreckensregime von Leopold II. folgte bis zur Entkolonialisierung 1960 „ein langes, dahinplätscherndes Intermezzo zwischen zwei Episoden“, schreibt Van Reybrouck. Doch im Grunde habe es keinen totalen Bruch gegeben, relativiert er. Der Autor beschreibt die „wissenschaftliche Kolonisierung“ mit den Mitteln der Tropenmedizin. Um die Verbreitung von Krankheiten zu verhindern, durften die Kongolesen eine Zeitlang ihre Dörfer nicht ohne ausdrückliche Reiseerlaubnis verlassen. Andererseits waren kongolesische Truppen ihren Kolonialherren gut genug, um im Ersten Weltkrieg im damaligen Deutsch-Ostafrika zu kämpfen. Eine ebenso wenig bekannte Fußnote der Geschichte ist der Einsatz von Kongolesen während des Zweiten Weltkriegs. Sie mussten die Sahara durchqueren, um in Libyen gegen die Deutschen und Italiener zu kämpfen.
Als das Land 1960 Hals über Kopf seine Unabhängigkeit erlangte, war die Lage desolat. Nur ein paar Handvoll Kongolesen besaßen einen Hochschulabschluss. Einer davon war Patrice Lumumba. Der erste frei gewählte Premierminister hielt während der Feier zur Unabhängigkeit eine Rede, in der er mit der Kolonialzeit abrechnete und die einstigen Kolonialherren anklagte. Doch Lumumba war überfordert. Anstatt das Land zu einen, wie Nelson Mandela drei Jahrzehnte später in Südafrika, spaltete der charismatische Befreiungsheld das Land. Van Reybrouck bezeichnet ihn als „zu verblendet durch die Romantik des Panafrikanismus“. Lumumba wurde im Januar 1961 nach einem Putsch gefoltert und umgebracht. Man zwang ihn, bevor er erschossen wurde, die gedruckte Fassung seiner Rede zur Unabhängigkeitserklärung zu essen. Die Drahtzieher im Hintergrund waren der CIA und der belgische Geheimdienst.
Die Kämpfe um die kongolesischen Rohstoffe dauern bis heute an.
Einer derer, die Lumumba verraten hatten, war Joseph-Désiré Mobutu. Er hatte es zum Sekretär des Premierministers und danach zum Stabschef der Armee gebracht. Durch einen weiteren Militärputsch sicherte er sich 1965 endgültig die Macht. Der größenwahnsinnige Despot mit der Leopardenfellkappe, der das Land 32 Jahre lang regierte und in Zaire umbenannte, gefiel sich im Kalten Krieg als Verbündeter des Westens, pflegte jedoch zugleich gute Beziehungen mit dem Ostblock. Vor allem aber vermehrte er seinen Reichtum, indem er den Staat zum Selbstbedienungsladen für die herrschende Elite machte. Diese plünderte das Land so aus, wie es einst die Kolonialherren getan hatten.
Der Diktator hielt sich noch einige Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts an der Macht – bis er ins Exil fliehen musste. Nachdem in den Neunzigerjahren der Bürgerkrieg im benachbarten Ruanda über die Grenzen getragen worden war, stürzte ihn die „Alliance des Forces Démocratiques pour la Libération“ (AFDL) unter ihrem Anführer Laurent Kabila. Die AFDL-Rebellen eroberten 1997 Schritt für Schritt das Land und marschierten unter dem Jubel der Bevölkerung in Kinshasa ein. Van Reybrouck schildert den Umsturz aus den Augen des ehemaligen Kindersoldaten Ruffin Luliba aus dem ostkongolesischen Bukavu, der zum Leibwächter Kabilas avanciert war.
Aus Zaire wurde wieder Kongo. Doch statt für demokratische Verhältnisse zu sorgen, schuf Kabila erneut ein autoritäres Regime. Es kam noch schlimmer. In dem Land tobte ein Krieg, der als afrikanischer Weltkrieg bezeichnet wird und indem zwischen 1998 und 2003 geschätzte vier bis fünf Millionen Menschen starben, vom Westen weitgehend ignoriert oder missverstanden. Kabila herrschte bis zu seiner Ermordung 2001. Seither regiert sein Sohn Joseph Kabila das Land. Gerade die Übergangszeit der zahlreichen, kaum überschaubaren Konflikte, kommt in dem Buch etwas zu kurz. Die Rolle der Uno und der von ihr gesandten Blauhelme wird nur kurz beleuchtet. Vor allem die Phase, die dem Friedensvertrag 2002 voraus geht, bleibt unverständlich.
Die Kämpfe um die kongolesischen Rohstoffe dauern bis heute an. Was im 19. Jahrhundert Kautschuk war, sind heute Coltan und andere Metalle, aber auch Gold, Diamanten und Edelhölzer, Wolfram und Uran. „Dass die Naturreichtümer und Bodenschätze des Kongo die Weltwirtschaft mit beeinflusst haben, ist sattsam bekannt“, schreibt Van Reybrouck. „Von der Billardkugel und dem Gummireifen über die Patronenhülse und die Atombombe bis zum Handy.“ Van Reybrouck folgt einer Delegation von Kongolesen ins chinesische Guangzhou. Von dort aus importieren sie Waren in ihre Heimat. China ist in die Rolle der Europäer geschlüpft. Längst hat es den Kongo als Land der Ressourcen und als Markt entdeckt.
Selbst bei der Fülle an Material, das in einem ausführlichen Anmerkungsteil mit Quellenangaben aufgeführt ist, sowie den zahlreichen Interviews entgeht Van Reybrouck der Gefahr der Redundanz. Fast durchweg gelingt ihm, die Analyse der kongolesischen Geschichte lebhaft zu erzählen. Seine Dramaturgie ist vielschichtig, ohne dass ihm der rote Faden verloren geht. So ist das Buch rundum empfehlenswert.
David Van Reybrouck – Kongo. Eine Geschichte. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag, 783 Seiten.