„The Bear“ handelt von Essen, Familie, Depression und Männlichkeit. Ihre Besonderheit verdankt die Serie den tollen Schauspielleistungen, dem unberechenbaren Drehbuch und einer aufwändigen Kameraarbeit.
Wer hätte gedacht, dass eine der besten Serien der letzten Jahre von einem familienbetriebenen Sandwichrestaurant handelt? Und dass man nicht einmal besonders kochbegeistert sein muss, um diese Ansicht zu teilen? Wie schon in „Six Feet Under“ und „Succession“ ist auch in „The Bear“ der Familienbetrieb lediglich der Schauplatz, an welchem psychisch angeschlagene Menschen mit wenig emotionaler Intelligenz zusammenarbeiten müssen – und daran die meiste Zeit über scheitern.
In der ersten Folge werden wir mit dem Protagonisten, Carmen (Jeremy Allen White), in den chaotischen Arbeitsalltag im „The Original Beef of Chicagoland“ geworfen. Stress kennt Carmen zwar auch aus seinem früheren Job – er arbeitete viele Jahre als Sternekoch –, auf die Arbeit im Sandwichrestaurant hat ihn das aber nur bedingt vorbereitet. Nur mühsam gelingt es ihm, das nötige Geld für die zu bestellenden Zutaten zusammenzukratzen; um Hygienestandards schert sich das „Original Beef“-Personal nur peripher und an gegenseitigem Respekt mangelt es ebenso. Trotz langjähriger Erfahrung und obwohl er Mitglied der Berzatto-Familie ist, ist Carmen hier ein Neuling: Sein durch Suizid gestorbener Bruder Michael (Jon Bernthal) vererbte ihm den Chicagoer Betrieb – zur Überraschung aller, inklusive Carmen.
Wettschreien und unbezahlte Rechnungen
In seinem neuen Job hat Carmen kaum Zeit, sich mit diesem Verlust auseinanderzusetzen. In der ersten Folge ist er vor allem damit beschäftigt, sein Team zu koordinieren und dem Angestellten „Cousin Richie“ (Ebon Moss-Bachrach), Kontra zu geben. Dass Carmen plötzlich der neue Boss des Ladens ist und er noch dazu versucht, frischen Wind auf die Speisekarte und in die Arbeitsaufteilung zu bringen, gefällt längst nicht allen. Wie Richie besteht auch Köchin Tina (Liza Colón-Zayas) darauf, dass das von Michael etablierte „System“ unangetastet bleibt. Und Bäcker Marcus (Lionel Boyce) lässt sich nur ungern Tipps geben, geschweige denn Befehle. Wenn Carmen nicht gerade in ein Wettschreien verwickelt ist, sucht er in der arg vernachlässigten Küche nach brauchbaren Utensilien. Dabei findet er oft nicht, was er sucht, stößt jedoch immer wieder auf Dinge, die er lieber meiden würde, wie etwa die vielen unbezahlten Rechnungen, die sein Bruder hinterlassen hat.
Zwar bringen die Figuren eine aufrichtige Liebe zum Kochen auf, den Fokus legt die Serie jedoch nicht auf die Gerichte. Vielmehr geht es darum, was in einer Küche wie der des „Original Beef“ passiert, noch bevor die ersten hungrigen Kund*innen den Laden betreten. Kochen ist tatsächlich nur ein kleiner Teil davon. Inmitten des Arbeitschaos wird deshalb immer wieder auf die Uhr geschnitten, die erbarmungslos der Restauranteröffnung entgegentickt. Die Intensität und das Gefühl der Klaustrophobie, das dabei aufkommt, ist mit der zweiten Hälfte von Günter Rohrbachs „Das Boot“ vergleichbar. Die Dialoge sind schnell und laut, gleichzeitig bewegen sich die Figuren hektisch durch die engen Gänge, zwischendurch geht schon mal eine Pfanne in Flammen auf. Ständig ruft jemand „corner“, bevor er oder sie vollbepackt von einem Teil der Küche in den nächsten eilt. Um der Dynamik und dem Jargon in Restaurantküchen gerecht zu werden, ließ sich der Erfinder der Serie, Christopher Storer, von seiner Schwester, einer ehemaligen Köchin, beraten. Kamera, Schnitt, Kostüme und ein Team von Schauspieler*innen in Höchstform tun ein Übriges, um ein möglichst immersives Seherlebnis zu gewährleisten.
So authentisch der dargestellte Stress auch ist, er wäre schwer auszuhalten, wären da nicht auch immer wieder ruhige Momente. Etwa wenn Carmen im Hinterhof raucht oder ein Al-Anon-Treffen besucht. Über seinen Bruder erfahren wir zunächst nur sehr wenig, weitere Details werden erst im Laufe der insgesamt acht Folgen offenbart. Auf Flashbacks verzichtet die Serie mit einer Ausnahme gänzlich.
Keine Romantisierung
Mit jeder Folge lernen wir die Figuren etwas besser kennen. Nicht ganz einfach, denn Informationsvermittlung ist nicht das Ziel der Dialoge: Die Figuren reden so, wie Menschen auch im echten Leben miteinander reden und die Zuschauer*innen müssen mithalten. Wenig überraschend verstecken sich hinter den vielen herumschreienden Männern äußerst verletzliche Seelen. Die in der Küche arbeitenden Frauen werden keineswegs glorifiziert, doch an Ego sind Carmen und Richie kaum zu überbieten. Was sie eint, ist der Wille, den Laden am Laufen zu halten, und der Umstand, dass sie früher mal beste Freunde waren.
Ein starker Kontrast dazu ist die neue Hilfskraft Sydney (Ayo Edebiri). Von Carmen schaut sie sich gerne das Können und die Ambitionen ab, nicht aber die Ellenbogenmentalität. Ihren Arbeitskolleg*innen ist das egal: Sie machen sich einen Spaß daraus, Sydney die Arbeit zu erschweren. Erst nach und nach erntet sie deren Respekt und die anderen merken, dass sie sich von Sydneys empathischer Art und durchgeplanter Arbeitsweise eine Scheibe abschneiden könnten.
Von einer kitschigen Erfolgsgeschichte ist diese von FX und Hulu koproduzierte Serie allerdings weit entfernt. Nach jedem gelösten Problem taucht auch schon wieder das nächste auf. „The Bear“ hat tatsächlich mehr Ähnlichkeiten mit einer Sport- oder Kriegsserie als mit den zurzeit boomenden Kochshows. Im Laufe der Folgen werden die Figuren nicht unbedingt sympathischer, zur Identifikation regen sie dennoch an. Neben den Besonderheiten eines gas tronomischen Betriebs geht es in „The Bear“ auch um universelle Themen: zwischenmenschliche Beziehungen, psychische Krankheiten, toxische Männlichkeit, Trauer. Nach der letzten Folge hat man das Gefühl, selbst für ein paar Wochen in der Küche des „Original Beef“ gearbeitet zu haben, und man kann es kaum erwarten, für die bereits angekündigte zweite Staffel in diese Welt zurückzukehren.