Benno Gammerl: Queer: eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

Queer sein in Deutschland: Was hieß das früher? Und was bedeutet es heute? Benno Gammerl beantwortet diese Fragen in seinem Sachbuch „Queer: eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute“.

Benno Gammerl schreibt mit seinem Sachbuch „Queer: eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute“ ein Stück queere Geschichte. (Copyright: Hanser Verlag)

Auf dem Youtube-Kanal des Hanser Verlags fasst der Historiker und Autor Benno Gammerl sein Sachbuch „Queer: eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute“ (2023) in wenigen Worten zusammen: „Von der Diskussion bis zur Disko sozusagen.“ Das kommt auch bei den Leser*innen an, denn Gammerl beschränkt sich bei seiner Recherche nicht auf historische Epochen, sondern streut an mehreren Stellen popkulturelle Entwicklungen ein. Disko im Sinne von Spaß macht das Buch allerdings nicht, dafür sind die Themen zu hart.

Bereits in der Einleitung präzisiert Gammerl, was sein Buch nicht ist: eine Erfolgsgeschichte. Leser*innen, die sich wenig mit queerer Geschichte auskennen, dürfte es wundern, wie weit LGBTIQA+-Aktivismus zurückreicht, wie progressiv es teilweise schon im Kaiserreich zuging und wie schnell sich Errungenschaften in Luft auflösten. „Zwar formierte sich bereits im Kaiserreich die erste Homosexuellenbewegung und erlebten Subkulturen in den Zwanzigerjahren tatsächlich eine Blüte, aber seitdem wurde keineswegs alles immer besser“, schreibt Gammerl. „Stattdessen verfolgten die Nationalsozialisten gleichgeschlechtlich liebende und gender-nonkonforme Menschen mit unnachgiebiger Grausamkeit.“ In den Nachkriegsjahren sei queeres Leben gefährlich geblieben, denn vor allem in der Bundesrepublik drohten weiterhin harte Strafen und gesellschaftliche Ächtung. „Erst in den 1970er-Jahren konnten Emanzipationsbewegungen wieder Erfolge erringen“, merkt der Historiker an.

Sein Buch deckt die Zustände im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, den Nachkriegsdekaden in Ost und West, den Siebzigern, Achtzigern und Neunzigern ab. Das, obwohl die Forschungslage zu queerer Geschichte seiner Aussage nach dürftig ist: „Es mangelt an öffentlicher und anderweitiger Förderung, sodass Materialien zur queeren Geschichte kaum angemessen gesammelt, aufbewahrt und dem Publikum zur Verfügung gestellt werden können.“ In seinem Buch verzichtet er auf Fußnoten, geht dafür am Ende jedoch Kapitel für Kapitel durch, um seine Quellen zu erläutern. Darauf folgt eine ausgiebige Literaturliste. Also gibt es doch genügend Stoff?

Forschungslage und Lücken

In einem Interview zur Buchpräsentation, nachzulesen auf der Website des Hanser Verlags, führt Gammerl seine Gedanken zur Forschungslage weiter aus: „Aus den queeren Bewegungen heraus entstanden (…) die ersten Arbeiten zur LSBTI* Geschichte. Inzwischen gibt es eine wachsende Zahl von hervorragenden Studien.“ Trotzdem gehöre queere Geschichte „immer noch zu den Randbereichen dessen, was gemeinhin als historisch relevant erachtet“ werde. Er selbst forscht seit Jahren zum Thema und publizierte, ebenfalls im Hanser Verlag, das historische Sachbuch „Anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte“ (2021). Seit 2021 lehrt er als Professor für Gender- und Sexualitätsgeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.

Gammerl verknüpft Gender- und Sexualitätsgeschichte auch in seinem Buch. So geht er neben der langen Geschichte des trans Aktivismus ebenfalls auf Konflikte innerhalb der Frauenbewegungen ein. An einer Stelle heißt es: „Gerade Frauenrechtlerinnen achteten sorgsam darauf, dem sexistischen und beleidigend gemeinten Vorwurf des Lesbisch-seins keine Nahrung zu geben.“ 1904 rief Theo Anna Sprüngli die damalige Frauenbewegung als eine der ersten öffentlich dazu auf, das Anliegen lesbischer Frauen zu unterstützen. Ihre Forderung wurde, so Gammerl, abgelehnt. Zu dieser Zeit waren Frauen nicht vom Paragrafen 175 betroffen, der ausgelebte Homosexualität verurteilte. 1909 wurde über die Ausdehnung auf Lesben diskutiert. „Dieses Vorhaben scheiterte, obwohl große Teile der Frauenbewegung es unterstützten“, hebt Gammerl die Grabenkämpfe unter den Frauenrechtlerinnen hervor.

Die Mehrfachdiskriminierung queerer Migrant*innen oder queerer Menschen mit Behinderung kommt in dem Buch hingegen zu kurz: Ihre Belange speist Gammerl in dem Kapitel „Antirassistische, queere und andere Kämpfe“ mit einem groben Überblick ab. Dort schreibt er unter anderem über queere Afrodeutsche, Migrant*innen und Menschen mit Behinderung, die sich für die Belange von LGBTIQA+-Menschen in Deutschland eingesetzt haben oder es immer noch tun.

In dem Kapitel fällt dann auch der Begriff des Homonationalismus: Kurz zusammengefasst beschreibt dieser die Instrumentalisierung queerer Rechte zur Verteidigung nationalistischer Positionen. Gammerl nennt unter anderem das Beispiel muslimischer Kulturen, die vom Westen oft pauschal als LGBTIQA+-feindlich verurteilt werden. Diese Bewertung basiere auf westlichen Standards zu sexueller und geschlechtlicher Identität. „Diese Konzepte (…) werden (…) auf kulturelle Kontexte übertragen, die Vielfalt oft auf ganz andere, mindestens ebenso interessante Weise organisieren. Aber diese Alternativen entgehen dem westlichen Blick“, so Gammerl. Oft würden in Deutschland und anderswo ganze Kulturen verteufelt und sich kaum dafür interessiert, „was lokale Aktivist*innen im Iran, in Uganda oder in Belarus fordern“.

An dieser Stelle hätte Gammerl weiter ausholen können, im Gegensatz zu anderen Passagen. So stößt einem sauer auf, dass er das Leid queerer Menschen am Ende mehrerer Kapitel relativiert, etwa in Bezug auf den Nationalsozialismus: „Man sollte sich nicht (…) ausschließlich auf die Verfolgung männerbegehrender Männer konzentrieren und deren Leiden nicht allzu sehr ins Schreckliche übersteigern.“ Nicht alle Menschen seien in die Fänge der SS und Gestapo geraten und im KZ ermordet worden. Manche gleichgeschlechtlich liebende und gender-nonkonforme Menschen seien auch Täter*innen gewesen, andere hätten Widerstand gegen die Nazis geleistet. „Es waren dunkle Zeiten für gleichgeschlechtlich begehrende und gender-nonkonforme Menschen. Aber diese Dunkelheit hatte verschiedene Facetten“, schlussfolgert Gammerl. Ähnlich schreibt der Historiker über die Fünfziger- und Sechzigerjahre, in denen queere Menschen auch „nicht nur gelitten“ haben. Das mag stimmen, aber ist es wirklich das, worauf es in einem Buch über queere Geschichte ankommt? Zu belegen, dass nicht alle ausgerottet wurden?

Dass dies nur ein schwacher Trost ist, zeigt ein Blick in die Gegenwart. Zwar genießen queere Menschen in Deutschland heute deutlich mehr Rechte als noch vor Jahren. Gleichzeitig breitet sich der Hass auf queere Identitäten und homosexuelle Menschen aber immer weiter aus, in Deutschland mit der AfD auch auf politischer Ebene. Die AfD erinnert, ähnlich wie die trans- und homofeindliche ADR in Luxemburg, an die Sittlichkeitsbewegungen von Mitte des 20. Jahrhunderts: Ihr Anliegen war es, Kinder und Jugendliche vor „schädlichen, moralisch verderbenden Einflüssen zu schützen.“

Trotz dieser Abstriche ist Benno Gammerls Buch eine Bereicherung in jedem Buchregal und bietet wichtige Einblicke in die Materie: Von historischen Eckdaten über soziale Bewegungen bis hin zu queerer Mediengeschichte wird einiges geboten. Und das, ohne dass Langeweile aufkommt. Dafür schreibt Gammerl zu lebendig, verständlich, gut. Wer nach der Lektüre noch nicht genug vom Thema hat: Die Netflix-Doku „Eldorado – Everything the Nazis hate“ geht auf das queere Berlin der 1920er-Jahre ein und ist eine ideale Ergänzung zu Gammerls Buch.

Queer: eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. Hanser Verlag: 2023. 271 Seiten. 
ISBN 978-3-446-27607-9.

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