Deutschland und der Holocaust: Zerstörte Sprache, verdrängte Schuld

Wie gehen die Deutschen mit der Schuld am Judenmord und am Zweiten Weltkrieg um? Das fragte eine Studie vor knapp siebzig Jahren, die nun erst veröffentlicht wurde. Sie ist weit mehr als nur ein Zeitdokument.

Auch im Sprechen über das Holocaust-Mahnmal in Berlin äußern sich unbewusste Schichten des Denkens: Deutschland werde um die Erinnerungsstätte „beneidet“, so ein Historiker anlässlich eines Festakts; der Radiosender „Deutsche Welle“ wiederum bezeichnete den Ort jüngst als „Besuchermagnet“ und fragte sich, was diesen „so einzigartig“ macht. (Foto: EPA-EFE/Clemens Bilan)

Mit einer von ihm selbst als „zugespitzt“ bezeichneten These hat sich der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn Anfang dieses Jahres in Deutschland an die Öffentlichkeit gewagt: Die angebliche „Erfolgsgeschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Geschichte“, habe es in Wahrheit nicht gegeben. Vielmehr sei über die Jahrzehnte hinweg aus der „Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus“ die „Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik“ geworden, die „durch antisemitische Projektionen und ethnische Selbstviktimisierungsphantasien zusammen gehalten wird“.

Empörte Reaktionen auf diesen Essay mit dem Titel „Kollektive Unschuld – Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“ blieben aus. Die meisten Rezensionen des Buches hielten Salzborns Ausführungen für zutreffend oder zumindest für bedenkenswert. Ist seine These also nicht schon widerlegt, wenn derlei „Zuspitzung“ so sachlich und zustimmend aufgenommen wird, anstatt starke Affekte auszulösen? Salzborn, mittlerweile Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin, würde vermutlich sagen: nein. Denn er argumentiert ja gerade, es sei der Irrtum einer kleinen Elite, die glaube, ihr „intellektueller Erinnerungsdiskurs durchdringe die Gesellschaft im Ganzen“, wie auch der Berliner „Tagesspiegel“ seine Überlegungen rekapituliert. Und zu dieser Elite zählen dann wohl auch die das Buch bewertenden Medien. Die eigentlichen „Adressaten dieser düsteren Diagnose“ jedoch, so die „Süddeutsche Zeitung“, „die Mehrheit der Bürger jenseits der Erinnerungselite – dürfte er damit kaum zum Nachdenken bringen.“ Nicht nur Salzborn also erscheint die von ihm skizzierte deutsche „Erinnerungsabwehrgemeinschaft“ weitgehend fugendicht.

Ein im August erschienenes Buch liefert nun einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie es zu dieser vorherrschenden Haltung in der deutschen Bevölkerung kommen konnte. Herausgebildet nämlich hat sie sich unmittelbar nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus, was beim in Frankfurt am Main angesiedelten Institut für Sozialforschung (IfS) sofort nach der Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil erkannt wurde.

Bereits im Frühjahr 1950 begann daher eine Forschergruppe um Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Friedrich Pollock mit der Vorbereitung eines auch unter diesem Namen bekannt gewordenen „Gruppenexperiments“. Dazu wurden Gesprächsrunden von acht bis 16 Personen organisiert und zu Diskussionen angeregt, mit dem Ziel, die dort geäußerten Einstellungen und „die gegenwärtige deutsche Mentalität“ zu untersuchen. Zur Sprache kommen sollte dabei die Haltung zum Mord an den europäischen Juden, zur Schuld am Krieg, aber auch zur Demokratie und zur Sicht der Teilnehmenden auf die Juden in der Gegenwart. 121 Diskussionen mit insgesamt 1.635 beteiligten Personen wurden im Winter 1950/51 geführt. Nur ein Bruchteil der Ergebnisse wurde je publiziert, und auch dieser kleine Teil erst 1955. Die nun unter dem Titel „Schuldgefühle – Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik“ erschienene Studie Peter von Haselbergs zählte nicht dazu.

„Es geht ihm um Sprechakte, die etwas verraten, was sie nicht sagen.“

Der 1908 in Wilhelmshaven geborene von Haselberg und seine Frau, die als „Nichtarierin“ verfolgt wurde, verbrachten die Zeit der Naziherrschaft im argentinischen Exil. Ab 1949 wieder in Deutschland, arbeitete der spätere Rundfunkjournalist von 1952 bis 1953 an der Auswertung des „Gruppenexperiments“ mit. Dieses war als Beitrag zur Reeducation und Demokratisierung der westdeutschen Bevölkerung gedacht und sollte auch als Basis für entsprechende Strategien dienen. Die als „beunruhigend“ eingestuften Resultate der Untersuchung wurden aber zunächst nur der auftraggebenden amerikanischen Besatzungsbehörde sowie einem Fachpublikum zur Verfügung gestellt. Über diese Personengruppen hinaus jedoch seien sie vorerst „zur Publikation nicht geeignet“, so der Leiter des Instituts, Max Horkheimer, über das Gros der im Zuge der Untersuchung entstandenen Monographien, darunter offenbar auch das nicht zur Druckreife gelangte Typoskript Peter von Haselbergs: „ihr Inhalt hätte bei den Lesern einen zu großen Schock ausgelöst“.

Das allerdings ist, wenn man sich in den von den Herausgebern des Buches umsichtig editierten Text vertieft, durchaus auch heute noch der Fall. Teils ausführlich zitiert der Autor aus dem Wortlaut der Gruppendiskussionen und analysiert die von den teilnehmenden Personen verwendeten rhetorischen Strategien. Immer wieder wird auf antijüdische Ressentiments und Stereotype zurückgegriffen, um „den Juden“ mit ihrem angeblichen Verhalten vor dem Krieg die Schuld am Holocaust unterzuschieben. Oder es wird darauf verwiesen, wie begrenzt sich andere Staaten zur Aufnahme jüdischer Flüchtlinge bereit erklärt hatten; die betreffenden Länder trügen daher mindestens ebenso viel Schuld: „Ich kenne einen Fall von Schweden, wo man über vierhundert Leute wieder zurückgeschickt hat. Und da liegt der Hase im Pfeffer.“

Ein anderes Mal wird die Lage in den alliierten Kriegsgefangenenlagern mit jener in den Konzentrations- und Vernichtungslagern gleichgesetzt. Wieder andere verrechnen die deutschen Verbrechen mit alliierten Tiefflugangriffen auf Zivilisten, mit den Bombardements deutscher Städte oder auch der US-amerikanischen Kriegsführung im Koreakrieg: „einer verurteilt den anderen, ohne eigentlich das Recht zu haben, denn er bessert sich ja nicht, gell?“, folgert exemplarisch eine mitdiskutierende Person.

Vielfach wird auch der nationalsozialistische Staat für alle begangenen Verbrechen haftbar gemacht, um den ‚gemeinen Bürger‘ von jeglicher Verantwortung freizusprechen. Über staatliches Handeln wiederum lasse sich nur politisch, nicht moralisch diskutieren, weshalb auch der Staat selbst letztlich nicht zu verurteilen sei. Diese Logik macht es den Diskutierenden möglich, den staatlich organisierten und industriell betriebenen Mord an den europäischen Juden mit den Lynchmorden an Schwarzen in den USA ins Verhältnis zu setzen. Nur letztere seien Verbrechen: „Wenn bei uns im Dritten Reich ein Mensch gelyncht worden wäre, der wäre genauso verurteilt worden wie drüben in Amerika, denn das wäre purer Mord gewesen.“ Der „einzelne Amerikaner“, so ein Diskussionsteilnehmer, sei daher individuell rassistisch, während der Holocaust Staatspolitik und „eben die Sache der Regierung gegen die Juden“ gewesen sei.

Die verschiedenen Formen der Abwehr, die in der Gruppenstudie sichtbar werden, konvergieren laut Peter von Haselberg alle in einem Punkt: „Der Negation einer konkreten Schuld.“ Was unterdrückt werden soll, ist die bewusste Beziehung einer Person zu ihrer bestimmten Tat, denn das hieße individuelle Verantwortung auch konkret fest- und auszuhalten. Und werde ein Schuldeingeständnis doch zumindest einmal angedeutet, könne auch dies sofort umschlagen: „Ein Bedürfnis, die Juden zu bestrafen dafür, daß man ihnen gegenüber sich bedrückt fühlt und Schuld hat zugeben müssen, äußert sich nun in dem Protest über die nicht zustande kommende Normalisierung.“

Von Haselberg liefert mit seiner Studie nicht lediglich eine kommentierte Zitatsammlung aus den transkribierten Diskussionsmitschnitten. Er ist sich der Problematik, „gesprochene Sprache als Text“ zu behandeln, methodologisch bewusst, wie er zu Beginn seiner Untersuchung deutlich macht. Lange vor dem in den Sozialwissenschaften verkündeten Paradigmenwechsel hin zur Sprachanalyse, dem sogenannten „linguistic turn“, arbeitet der Autor heraus, worin die Stärke seines Vorgehens besteht: sichtbar zu machen, dass es oftmals gar nicht um die in einer Aussage enthaltene Information, sondern um deren affektive Dimension und Wirkung geht. Die Untersuchung hätte „wesentliche, vielleicht die wesentlichsten Momente ihrer Aufgabe verfehlt, wenn sie sich auf die Interpretation des subjektiv Gemeinten beschränken wollte und nicht das einbezöge, was den Sprechern anstelle eines Gemeinten entgleitet“, so von Haselberg.

Die Lektüre der Studie macht die Sprachzerstörung deutlich, die nicht zuletzt Resultat der nationalsozialistischen Propaganda und Gesellschaftsordnung ist und bis in die Psyche und das Denken der Einzelnen reicht. Oftmals formulieren die Diskutierenden widersprüchliche Sätze oder welche, die überhaupt keinen Sinn ergeben, werden sich dessen aber nicht bewusst. Bisweilen deuten sie ein Schuldeingeständnis an, um sogleich wieder auf das Leid der Deutschen im und nach dem Krieg zu kommen; jene „Selbstviktimisierung“, die der Politikwissenschaftler Salzborn noch siebzig Jahre später konstatieren wird. Unrecht und anderen zugefügtes Leid hingegen werden nicht als moralischer Zusammenhang erfahren, sondern bloß als eine Sache, die es aufzurechnen gilt. Der Autor der hier besprochenen Studie demonstriere, wie der beobachtete „Sprachgebrauch im Dienst der Schuldabwehr steht“, schreibt Ferdinand Sutterlüty, kommissarischer Direktor des heutigen Instituts für Sozialforschung in einem kurzen Vorwort zu dem Band: „Es geht ihm um Sprechakte, die etwas verraten, was sie nicht sagen.“

Wie von Haselberg dabei methodisch vorgeht, arbeiten die Herausgeber des Bandes, Michael Becker, Dirk Braunstein und Fabian Link, in ihrer auch über die Hintergründe des „Gruppenexperiments“ informierenden Einführung detailliert heraus. Und sie ordnen die Ergebnisse der Analyse gesellschaftstheoretisch ein. Die dort konstatierte Schuldabwehr sei keine bloß individuelle, sondern eine gesellschaftliche Praxis gewesen, und zwar eine, die „die politische Gestalt der jungen Bundesrepublik zutiefst prägte“: „Entgegen der Vorstellung von der ‚Stunde Null‘ legte das Gruppenexperiment offen, wo der Nationalsozialismus seinen Zusammenbruch überdauert hatte: auf der Ebene des Unbewussten und der Affekte, das heißt in einer latenten Affinität zu autoritären gesellschaftlichen Entwicklungen.“

Wer in der Bundesrepublik groß geworden ist, dem können zumindest einige der in der Studie analysierten rhetorischen Strategien nicht unbekannt sein. Zwar werden sie über jeweilige Gegenwartsbezüge aktualisiert, doch Schema und Funktion – die im Kern antisemitisch motivierte Schuldabwehr – bleiben gleich. Zurecht sprechen die Herausgeber daher davon, dass sich die bundesrepublikanische Gesellschaft nicht in Abgrenzung vom Nationalsozialismus begreifen lasse, „sondern vielmehr durch die präzise Beschreibung und Interpretation von Kontinuitäten und Diskontinuitäten“. Mit der Publikation von Peter von Haselbergs Studie wird nun ein wichtiger Beitrag hierzu nachgereicht, der darüber hinaus mit zahlreichen bedenkenswerten gesellschaftstheoretischen und sozialpsychologischen Reflexionen angereichert ist. Das macht „Schuldgefühle“ zu einem Buch, das die Erwartungen an einen historischen Quellentext bei Weitem übertrifft.

Peter von Haselberg: Schuldgefühle – Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik. Campus Verlag 2020, 252 Seiten.

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