EU-Strategie gegen Antisemitismus: Gegen Ignoranz und Indifferenz

Am Dienstag hat die EU-Kommission ihre Strategie zur Bekämpfung des grassierenden Antisemitismus in Europa vorgestellt. Nun kommt es auf die nationalen Regierungen an. In Luxemburg sieht man indessen keinen Grund zur Eile.

Ist zu einem Symbolbild des gegenwärtigen Antisemitismus 
in Europa geworden: 
Die Eingangstür zur Synagoge im sachsen-anhaltinischen Halle. 
An Jom Kippur hatte sich hier am 9. Oktober 2019 ein antisemitisch motivierter Attentäter Zutritt zu verschaffen versucht, um einen Massenmord zu begehen. 
Er schoss auf die Tür, die standhielt. Daraufhin erschoss der Täter die Passantin Jana Lange und griff in einigen hundert Metern Entfernung einen Döner-Imbiss an. 
Dabei starb Kevin Schwarze. (Foto: EPA-EFE/Filip Singer)

Derzeit bietet unter anderem die Pandemie den Anlass: Seit Beginn der Coronakrise häufen sich verschiedenen Studien zufolge auf globalem Niveau antisemitische Verschwörungsmythen. Auf vielerlei Weise werden Jüdinnen und Juden für die – vermeintlichen – Ursachen und Folgen der Pandemie verantwortlich gemacht. Zugleich ist die Meldung einer zunehmenden Zahl antisemitischer Akte in Europa seit Jahren zu einer traurigen Routine geworden, sodass ein Teil der Öffentlichkeit die Entwicklung offenbar gar nicht mehr bewusst zur Kenntnis nimmt.

Wie auch beim Rassismus kann sich diese Haltung allerdings nur leisten, wer nicht selbst betroffen ist. So nehmen EU-weit nur 36 Prozent der Gesamtbevölkerung einen zunehmenden Antisemitismus in ihrem Land wahr, unter Jüdinnen und Juden sind es aber 90 Prozent, wie Studien der EU-Behörden von 2019 zeigen. Die Diskrepanz in der Wahrnehmung macht deutlich: Was den Judenhass anbelangt, gibt es mehr als ein Problem, und eines davon ist, den Antisemitismus überhaupt als solchen einzugestehen.

Die EU-Kommission will dem nun mit einer umfassenden „Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens“ begegnen. Am vergangenen Dienstag wurde sie von Margaritis Schinas in Straßburg vorgestellt. „Antisemitismus bleibt nicht nur eine Last der Vergangenheit, die wir tragen müssen, sondern ist auch eine schreckliche Bedrohung in der Gegenwart“, sagte der EU-Kommissionsvizepräsident und Kommissar zur „Förderung unserer europäischen Lebensweise“ auf einer Pressekonferenz.

„Während Hassbotschaften und Gewalt leicht identifizierbar sind, erlaubt es die in unserer Gesellschaft weit verbreitete Ignoranz und Indifferenz, dass Antisemitismus aufblüht und sogar anwächst“, heißt es in der Strategie, mit der man laut Schinas erstmals „eine klare und umfassende Antwort“ auf diese Entwicklung in Europa geben will. Diese soll vor allem auf der Prävention und der Bekämpfung des Antisemitismus, dem Schutz und der Förderung jüdischen Lebens sowie der Bildung, Forschung und der Erinnerung an den Holocaust beruhen. Zugleich möchte man damit die EU-Mitgliedsstaaten bei ihren eigenen nationalen Strategien zur Bekämpfung des Antisemitismus unterstützen. Bis spätestens Ende nächsten Jahres sollen die Regierungen entsprechende Pläne vorlegen und auch deren Finanzierung sicherstellen. Auch Luxemburg hat dies bereits vor längerer Zeit angekündigt.

Es ist ein breit gefächerter Ansatz, den die EU-Kommission verfolgt und den man aus verschiedenen Töpfen finanzieren will. Die Ausschöpfung und Stärkung strafrechtlicher Mittel zählt ebenfalls dazu. Noch in diesem Jahr möchte man daher die Liste der sogenannten „EU-Verbrechen“ erweitern, bei der Rat und Kommission, basierend auf den EU-Verträgen, für die einzelnen Mitgliedsstaaten Mindeststandards in der Strafverfolgung setzen. Neben antisemitischen Hassverbrechen und „hate speech“ sollen auch rassistische, homo- und transphobe sowie weitere Tatmotive einbezogen werden. Damit Antisemitismus als solcher erkannt wird, sollen Justiz und Strafverfolgungsbehörden entsprechend geschult werden.

„In Luxemburg gibt es enormen Nachholbedarf, was den Schutz der jüdischen Einrichtungen vor potenziellen Anschlägen betrifft.“

Antisemitismus systematisch zu erkennen und zu erfassen ist jedoch nicht nur ein Problem bei der strafrechtlichen Würdigung von Tatmotiven. Es fehlt ganz allgemein an verlässlichen Daten, um den Judenhass effektiv bekämpfen zu können. Viele Länder verfügen nicht über offizielle Stellen, die diese Datensammlung und -auswertung übernehmen. „Die Aufzeichnung von antisemitischen Vorfällen ist häufig sehr inkonsistent, weil die Mitgliedstaaten unterschiedlichen Methodologien folgen und die Daten daher nicht verglichen werden können“, heißt es in der Strategie. Nun soll unter anderem die „Agentur der Europäischen Union für Grundrechte“ (Fra) die Länder zur verbesserten und vereinheitlichten Datenerhebung unterstützen.

Keinen Zweifel lässt die EU-Kommission daran, dass sie ihre Arbeit auf der rechtlich nicht bindenden Definition des Antisemitismus basiert, die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) vorgelegt worden ist. Die auch von Luxemburg anerkannte Definition sei der „Maßstab für eine rechtebasierte und opferzentrierte“ Bekämpfung des Antisemitismus und daher auch für eine effiziente, länderübergreifende Umsetzung der Strategie. Ihre Anwendung wird somit allen Mitgliedsstaaten und Institutionen empfohlen. Es sei wichtig, alle Formen des gegenwärtigen Antisemitismus zu bekämpfen, heißt es weiter, egal ob er von rechts oder links komme, islamistisch motiviert, als Antizionismus deklariert sei oder aus der Mitte der Gesellschaft stamme: „Antisemitismus kann sich offen oder verhüllt, bewusst oder unbewusst artikulieren.“ „Israelbezogener Antisemitismus“ sei die Form des Judenhasses, mit der Jüdinnen und Juden heutzutage im Internet am häufigsten konfrontiert sind.

Dem Antisemitismus im Internet will man mit einer ganzen Vielzahl von Maßnahmen begegnen, unter anderem ist ein eigenes Online-Meldesystem (ein sogenanntes „trusted flaggers“-Netzwerk) geplant. Einen weiteren Schwerpunkt legt man auf den Kampf gegen die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden im Alltag und in der Öffentlichkeit. Einen traurigen Beleg dafür, wie dringlich auch dies ist, hatte just am Tag vor Veröffentlichung der Strategie ein Hotel in Leipzig geliefert: Als der deutsche Rockmusiker Gil Ofarim dort ein Zimmer beziehen wollte, wurde ihm dies unter Verweis auf seine Halskette mit Davidstern-Anhänger verwehrt; „Packen Sie ihren Stern weg, dann dürfen Sie einchecken“, soll ihm gesagt worden sein.

Wann der Luxemburger Plan vorliegen wird, steht noch nicht fest. Fragt man im Staatsministerium nach dem Stand der nationalen Strategie zum Kampf gegen Antisemitismus, fällt die schriftlich gegebene Antwort schmallippig aus: „Über Zielsetzungen und konkrete Elemente der Strategie kann noch nicht kommuniziert werden, so lange die Beratungen stattfinden.“

Auch mit diesen scheint es jedoch bislang nicht allzu weit her zu sein. „Bis jetzt wurden wir immer vertröstet“, sagt Laurent Moyse vom Consistoire Israélite, das an der Strategie mitwirken soll. Ursprünglich sollte diese bereits 2020 vorliegen. „In den kommenden Wochen sollen voraussichtlich erste Besprechungen mit der jüdischen Gemeinschaft stattfinden“, so das Staatsministerium Ende September gegenüber der woxx.

Bildquelle: European Union, 2019/EC – Audiovisual Service

Er habe nicht den Eindruck, dass das Thema dort zu den großen Prioritäten zählt, so Laurent Moyse. Er hoffe nun, dass die Vorgaben aus Brüssel dazu beitragen, „die Sache voranzutreiben“: „Ich glaube, solche Texte sind schon wichtig, um den nationalen Regierungen einen Rahmen zu setzen und sie dazu zu bewegen, etwas zu unternehmen.“

Eine der wichtigsten Anregungen der EU-Kommission ist die Ernennung eines Sonderbeauftragten in den jeweiligen Ländern, der für die Umsetzung der verschiedenen Maßnahmen sorgt. Von der jüdischen Gemeinde Luxemburgs wird diese Forderung nachdrücklich unterstützt. Laurent Moyse verweist darauf, dass eine solche „nationale Koordinierungsstelle“ auch von der „Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz“ (ECRI) vorgeschlagen worden ist, die Mitte September ihrerseits einen Maßnahmenkatalog gegen Antisemitismus präsentiert hat.

Bei der Recherche- und Meldestelle „Recherche et information sur l‘antisémitisme au Luxembourg“ (Rial) setzt man darauf, dass mit der Schaffung eines solchen Postens auch eine verbesserte und vollständigere Erfassung und Aufbereitung antisemitischer Akte einhergehen wird. Denn auch hierzulande wird das bislang nur unzureichend gemacht (siehe unseren Online-Beitrag „Wenige Daten zu Antisemitismus in Luxemburg“). „No information available“ ist mit Blick auf das Großherzogtum nicht nur in einer EU-Studie zu antisemitischen Vorfällen in den Jahren 2009 bis 2019 immer wieder zu lesen – und zwar gerade dort, wo der Staat Auskunft geben müsste. Die ehrenamtlich tätige Rial habe ihrerseits weder die personellen noch die technischen Ressourcen, um eine vollständige Auswertung antisemitischer Vorfälle zu gewährleisten, so ihr Vertreter Bernard Gottlieb: „Der Staat hat da prinzipiell andere Möglichkeiten und kann sich auch mit den Behörden anderer Länder austauschen.“ Gottlieb hofft zudem, dass eine offizielle Stelle in der Öffentlichkeit mehr Gehör finden wird. Eine Konflikt mit der eigenen Initiative befürchtet er nicht. „Falls das funktioniert und Rial nicht mehr gebraucht wird, können wir uns völlig neu orientieren.“

Die Zielsetzung der EU-Strategie deckt sich indessen in vielem mit dem, worin man auch beim Consistoire Israélite die drängendsten Probleme erkennt. „In Luxemburg gibt es enormen Nachholbedarf, was den Schutz der jüdischen Einrichtungen vor potenziellen Anschlägen betrifft“, sagt Laurent Moyse. Die EU will hier ab dem kommenden Jahr insgesamt 24 Millionen an Fördergeldern investieren, allerdings ohne dadurch die Staaten aus der Verantwortung zu entlassen. Obwohl dies die Aufgabe der nationalen Behörden sei, hätten jüdische Gemeinden und jüdische zivilgesellschaftliche Organisationen in den vergangenen Jahren erhebliche Mittel in eigene Schutzmaßnahmen investieren müssen, konstatiert die EU-Kommission.

Überdies hält man die Mitgliedsstaaten an, Bildungs- und Forschungsprogramme zu Antisemitismus, dem Holocaust und zu Jüdischem Leben zu intensivieren, wobei die Strategie auch zur Vernetzung in all diesen Bereichen beitragen soll. Es gelte, jüdische Traditionen und das jüdische kulturelle Erbe als integralen Teil europäischer Kultur zu bewahren.

Beim Consistoire Israélite mahnt man an, dies könne nicht allein die Aufarbeitung der Vergangenheit bedeuten: „Die Geschichte, auf die in Luxemburg jetzt sehr viel Wert gelegt wird, ist sehr wichtig, und das soll auch so bleiben“, so Laurent Moyse. Allerdings werde „dem gegenwärtigen jüdischen Leben in Luxemburg nicht mehr viel Bedeutung beigemessen“. Damit das jüdische kulturelle Erbe weiterleben könne, müssten auch Maßnahmen ergriffen werden, die eine lebendige jüdische Gemeinde ermöglichen. Auch in dieser Hinsicht ist man daher auf die nationale Strategie gespannt.


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