Die Visionen der woxx-Redaktion: Wenn wir endlich geimpft sind

Angst vor der Covid-19-Impfung? Nicht in der woxx-Redaktion. Wir blicken in die Kristallkugel und zeigen, wie die durchgeimpfte (und gechippte) Zukunft aussieht.

Receive the Gift

Hoffentlich bald wieder auf der Bühne: die Band „Lady Beast“ aus Pittsburgh. (Foto: Jake Reinhart)

(tofu) – Der Schweiß rinnt in Strömen! Das Magasin 4 am Brüsseler Hafen ist proppenvoll – es muss mindestens 30 Grad heiß sein hier drin. Seit einer Stunde steht die Band „Lady Beast“ auf der Bühne und spielt um ihr Leben; ganz so, als wolle sie die Zeit wieder einholen, die sie – seit mitten in der Pandemie die neue Platte veröffentlicht wurde bis zu ihrer ersten Tour in Europa – verloren hat. Wie eine Irre tobt Sängerin Deborah Levine umher, in einer Mischung aus Euphorie und Aggression lässt sie stellvertretend für alle den Frust über die so lange entbehrten Livekonzerte raus. Links und rechts von ihr purzeln Stagediver von der Bühne, werden, von Wellen aus Hunderten von Händen getragen, übers Publikum hinweggespült, in einem perfekten Zusammenspiel von Nähe und Anonymität. Vor mir stürzt einer der Crowdsurfer ab, weil sich kurz eine Lücke gebildet hat. Ich kriege ihn, obwohl er glitschig nass ist, gerade noch an den Schultern zu fassen, ehe er mit dem Kopf auf den Boden knallt. „Ist das genial!“, brüllt er mir durch den Konzertlärm hindurch, begleitet von einem Speichelsprühnebel, seine Begeisterung ins Gesicht. Und dann ist er auch schon wieder in Richtung Bühne verschwunden. Dort feuern „Lady Beast“ gerade ihre Hymne „The Gift” ab und die versammelte Meute rastet endgültig aus. Der ganze Saal singt, gehüllt in eine universale Aerosolwolke, mit: „With this new life, a new dream’s begun, with many stories soon to come! My arms open wide! Receive the Gift!!”

Flohzirkus statt Theater

(is) – Raus aus der Praxis, rein ins Vergnügen: Frisch geimpft trage ich meine Atemmaske jetzt nur noch als trendigen Haarreifen für Abende im Theater. Auf dem Hinweg schmiege ich mich im überfüllten Bus an fremde Fahrgäste. Zwischendurch lecke ich gedankenlos die beschlagenen Fensterscheiben ab, damit ich sehen kann, wann ich aussteigen muss. Aus dem Theater ist ein drittklassiger Flohzirkus geworden. Das ist genug Amüsement für die Menschen, die außer Supermärkten mit Stacheln, goldenen Glocken und Sternen in Einkaufszentren nichts mehr kennen. Wir liegen alle kreuz und quer auf den vielen freien Plätzen, lachen laut über die bemühten Flöhe, die wir nur sehen können, weil wir an sie glauben. Geklatsche gibt es am Ende nicht. Kollektives Husten ist der neue Applaus. Wir husten, husten und husten bis Spucke an unseren Brillengläsern klebt. Auf dem Heimweg male ich an jede geschlossene Bar- und Restauranttür mit Kreide ein Herz. An der nächsten Straßenecke kommt mir ein alter Schulfreund entgegen. Er trägt seine Maske inzwischen als Handtasche und zaubert daraus seinen Impfpass. Er zeigt mir seinen, ich zeig ihm meinen. Wir heben unsere Ellenbogen, tänzeln mit den Füßen und als sich unsere Hände plötzlich berühren, fliegen mir vor Schreck die Bänder meiner Atemmaske um den Kopf.

Mit dem Fahrrad auf Distanz – vor und nach der Impfung

Foto: woxx

(rg) – Während der Corona-Pandemie haben viele Menschen das Fahrrad als individuelles Sportgerät, aber auch als Fortbewegungsmittel mit eingebautem Social distancing wiederentdeckt. Am Anfang kam das gestandenen Radfahrer*innen als eine Art Genugtuung gleich, denn auch die Aufmerksamkeit der Medien und der politischen Verantwortungsträger*innen für sichere und gut angebundene Radwege stieg. Doch anders als in Berlin, Paris oder anderen Städten in Europa und sonst in der Welt, wartete die Rad fahrende Community hierzulande vergebens auf Pop-up-Radpisten oder Ähnliches. Und viele, die wieder strampelnd am Verkehr teilgenommen hatten, sind inzwischen wegen der etwas ungemütlichen Jahreszeit, aber auch ob der erneut zunehmenden Gefahrenmomente, wieder abgestiegen. Sollte, wie zu befürchten, nach der Impfkampagne wieder business as usual auf unseren Straßen herrschen, dann wird es höchste Zeit den nie richtig in Anspruch genommenen Urlaub des Corona-Jahres zusammenzulegen und mit einem der Nachtzüge (die nebenbei bemerkt auch ein Comeback zu erleben scheinen) in eine andere Region zu entschwinden. Irgendwo, wo es dann keine Quarantäne-Auflagen für Geimpfte aber auch keine gestressten SUV-Fahrer*innen mit eingebauter Vorfahrt gibt. Kurz vorher holen wir uns dann auch noch die großzügig verlängerte Prämie für den Kauf eines neuen Fahrrads im Klima- und Umwelttempel auf Kirchberg ab. Dies als kleinen Trost dafür, dass ausgerechnet im Corona-Jahr die Nachfrage nach Rädern dermaßen in die Höhe schnellte, dass einem die Dinger quasi unter dem Hintern weggestohlen wurden.

Endlich gechippt!

Foto: Pixabay_Flasherie

(lc) – Eigentlich kann ich es kaum erwarten, endlich einen Microsoft-Chip implantiert zu bekommen. Mein Plan ist es schon seit Langem, kurz nach der Inokulation ein Zelt gleich unter der nächsten 5-G-Antenne zu beziehen, damit ich zu den Ersten gehören werde, die aktiviert werden. Nach so einem Scheißjahr wie 2020 müsste das eigentlich verständlich sein: Endlich nicht mehr zwischen Wissenschaft und Verschwörungstheorie herumschwanken, sich keine Sorgen mehr machen um den Untergang der Demokratie und vor allem kein Corona mehr! Sicherlich habe ich mir auch um die Risiken Gedanken gemacht, denn Windows läuft ja nicht immer optimal – eine Linux-Software-Option wäre mir lieber gewesen. Aber es gibt sicher auch hier Tricks, um das System zu überlisten. Vielleicht ist am Hintern kratzen, am rechten Ohrläppchen ziehen und gleichzeitig den großen Zeh verkrampfen ja das Ctrl-Alt- Delete der Zukunft? Ach! Ich hoffe nur, dass die Verschwörungstheoretiker*innen sich nicht doch noch geirrt haben…

Happy End?

(tj) – Nachdem ich fast schon nicht mehr damit gerechnet habe, ist vor wenigen Wochen meine Impfeinladung per Mail angekommen. Es hat länger gedauert als erwartet, bis Pflege- und Erziehungspersonal sowie Risikogruppen weitestgehend geimpft waren: Zu Beginn des Jahres 2021 liefen die Impfungen nur zögerlich an, viele Menschen wollten längerfristige Beobachtungsdaten abwarten. Es ließen sich vor allem Ü-70-Jährige impfen, wodurch die Todeszahlen stark sanken – die Zahl der Neuinfektionen blieb jedoch relativ stabil. Nur über die Sommermonate kam es zum erwarteten, vorübergehenden Rückgang. Wenig überraschend war das Erwartungsmanagement der Regierung wieder einmal dürftig: Innerhalb der Bevölkerung war die Ansicht verbreitet, dass alles wieder zur Normalität zurückkehren würde, sobald der Großteil der Risikogruppe durchgeimpft wäre. Dem war natürlich nicht so. Dass sich nach und nach dann doch immer mehr jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen impfen ließen, ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass sie der Hygienemaßnahmen mehr als überdrüssig waren. Die Aussicht auf ein weiteres Silvester per Zoom war vielen dann wohl doch zu deprimierend. Am heutigen 28. Dezember 2021 scheint endlich ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar zu sein, auch wenn an volle Konzerthallen und Clubbesuche immer noch nicht zu denken ist. Meine erste Impfung verlief gut, die zweite ist soeben erfolgt. Ich gehe nach Hause und lasse mich erschöpft und erleichtert aufs Bett fallen.

Disco Elysium

Foto: Pixabay

(ja) – Geimpft, einen knappen Monat gewartet, zweite Dosis abgeholt und jetzt? Nach ewigen Monaten mit Lockdown und Distanzhaltung fehlt der Körperkontakt dann doch ein wenig, das Phänomen, das unter dem Namen „Skin Hunger“ bekannt ist, macht sich bemerkbar. Gibt es irgendwo eine Orgie, oder vielleicht zumindest eine Kuschelgruppe? Beinahe schon verzweifelt halte ich nach Menschen Ausschau, die mit einem „Free Hugs!“-Schild herumstehen – die Pandemie scheint sie ausgerottet zu haben. Aber es gibt ja andere Möglichkeiten, Menschen näherzukommen, ohne gleich an einer Orgie teilzunehmen: Sogar mir altem Stubenhocker fehlt es irgendwie, mich in einem zu engen Raum mit zu vielen Menschen zu lauter Musik zu bewegen. Warum also nicht mal wieder tanzen gehen? Nach einigem Suchen findet sich sogar noch ein Club, der die Pandemie überlebt hat. Die Türsteher*innen sind ohnehin nicht mehr so streng wie früher, immerhin muss ja Geld in die Kassen kommen. Ich hüpfe halb in Ekstase über die Tanzfläche. Die Freude währt eine halbe Stunde. Dann hat jemand sein Bier über mich geschüttet, ich erinnere mich daran, dass das Rauchverbot heißt, dass alles nach Schweiß riecht – und die Musik ist auch scheiße. Immerhin war es eng und stickig. Das nächste Mal gönne ich mir dann vielleicht doch ein Metallkonzert in Brüssel.

Vaccin raffiné

(US Navy ; Roger S. Duncan ; PD)

(lm) – Enfin vacciné ! Et voici que j’arrête de croire en des théories toutes faites, religieuses, idéologiques… et scientifiques – car « croire en la science » est une contradiction en soi. Je suis désormais vacciné contre les raisonnements simplistes, les pensées uniques… mais aussi contre les visions du monde en noir et blanc, qui divisent l’humanité entre ami-e-s et ennemi-e-s. Au contraire, je prends en compte les rationalités des idées que je combats, et les poussées de déraison de ceux et celles qui combattent avec moi m’affligent. Je ne suis plus sensible aux discours qui ramènent tout à des conspirations, la nouvelle pandémie comme le vieux fléau du capitalisme… mais je ne suis plus obsédé non plus par la conspiration suprême, celle qui unirait les conspirationnistes, fascistes et imbéciles de tous les pays dans une grande toile d’araignée noire. Pour échapper à tout cela, pas besoin de se faire vacciner, me direz-vous ? Un peu de bon sens et de méfiance, un effort de réflexion conséquent, un bilan critique de l’histoire humaine, un renoncement aux explications simples ne suffiraient-ils pas ? Oui, mais la vaccination, c’est tellement plus facile !

 


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