Disco Elysium: Disco, Drogen und Würfel

Das Rollenspiel Disco Elysium gilt als eines der besten Games der letzten Jahre. Im kommenden März wird es auch für Konsolen erhältlich sein. Grund genug für die woxx, den vielschichtigen Erfolgstitel genauer unter die Lupe zu nehmen.

Der Mordfall führt die Spieler*innen auch in eine verlassene Kirche, die mehr als ein Geheimnis verbirgt. (Bild: ZA/UM)

Ein Mann mittleren Alters wacht in einem völlig verwüsteten Hotelzimmer auf. Ein Fenster ist gesplittert, Kleidung liegt verstreut zwischen Bierflaschen und einer zerstörten Hi-Fi-Bandmaschine. Er kann sich an nichts erinnern. Nicht an die vergangene Nacht, nicht an seinen Namen, nicht an seinen Beruf – und schon gar nicht daran, warum er eigentlich dort ist. Dieser Mann ist der Hauptcharakter des Spiels Disco Elysium. Recht schnell stellt sich heraus, dass er Polizist ist – sein Polizeiausweis und seine Dienstwaffe bleiben jedoch verschollen. Den Mordfall, den er lösen sollte, hat er die letzten Tage gekonnt ignoriert und sich Alkohol und anderen Drogen hingegeben. Nun liegt es an den Spieler*innen, herauszufinden, welche Art Polizist sie sind.

Disco Elysium ist ein Einzelspieler*innen-Rollenspiel, das im Oktober 2019 erschien. Es ist das erste Spiel des estnischen Studios ZA/UM und wurde sowohl von Spieler*innen als auch von Kritiker*innen mit Lob überschüttet. Eine Überraschung, denn das Spiel bricht mit vielen Konventionen des Genres und hat keinen großen Distributor hinter sich, der gewaltige PR-Kampagnen finanzieren könnte. Im Gegensatz zu den meisten Rollenspielen ist die Handlung nicht in einer Fantasy- oder Science-Fiction-Welt angesiedelt, sondern in einer der unseren sehr ähnlichen. Eine treffende Beschreibung für das Genre wäre wohl: eine Mischung aus Film Noir und magischem Realismus. Der Verzicht auf ein dezidiertes Kampfsystem ist ebenfalls ein gewichtiger Faktor, der Disco Elysium von konventionellen Rollenspielen abgrenzt.

Selbstporträt mit Kater

Im Hinterhof eines Hostels mit dem klingenden Namen „Whirling-in-Rags“ hängt eine Leiche an einem Baum, aufgeknüpft an einem Transportriemen. Diesen Mord soll die Hauptfigur gemeinsam mit Kim Kitsuragi, einem Polizist aus einem anderen Revier, lösen. Der Fall scheint zuerst klar: In dem armen und heruntergekommenen Viertel Martinaise der Stadt Revachol streiken die Hafenarbeiter*innen; der Tote war als privater Milizionär von der Transportfirma und Frachthafeninhaberin Wild Pines, angeheuert worden, um die Streikenden einzuschüchtern. Die Vermutung, dass die Hardie Boys, der paramilitärische Arm der Gewerkschaft, den Mord begangen haben, liegt nahe.

Je mehr man sich mit den unterschiedlichen Charakteren aus Martinaise unterhält, Indizien sammelt und Geheimnisse aufdeckt, umso undurchsichtiger wird der Fall. Aus Tatsachen werden nur noch Vermutungen, mögliche Mordmotive werden immer unklarer. Zudem droht der Konflikt zwischen den Hafenarbeiter*innen und Wild Pines zu eskalieren. Lässt sich ein Blutbad in den Straßen Rechavols noch verhindern – oder ist es genau das, was die Gewerkschaftsbosse wollen, um eine Revolution anzuzetteln?

Die meiste Zeit verbringen die Spieler*innen in Disco Elysium damit, in Martinaise herumzulaufen und mit verschiedensten Charakteren zu reden. Die grandios geschriebenen Dialoge führt man mit Mitgliedern der Gewerkschaft, der Verhandlungsführerin von Wild Pines, Jugendlichen, die in den Hinterhöfen Martinaises herumlungern, Zeug*innen des Mords, vermeintlich unbeteiligte Einwohner*innen – und den unterschiedlichen Stimmen im Kopf des Hauptcharakters. Wie in den allermeisten Rollenspielen hat auch Disco Elysium ein Fähigkeiten-System, das bestimmt, welche Dinge der Hauptcharakter besonders gut oder schlecht kann. 24 Fähigkeiten, eingeteilt in vier Kategorien – Intellekt, Psyche, Stärke und Motorik – stehen zur Auswahl.

Der innere Monolog und die Würfel

Vor dem Spielstart lassen sich drei Archetypen auswählen, die jeweils eine andere Gewichtung der Kategorien haben. Fortgeschrittene Spieler*innen können die Gewichtung der Kategorien auch selbst vornehmen. Während des Spiels sammeln die Spieler*innen Erfahrungspunkte, mit denen sie ihre Fähigkeiten verbessern können.

Die 24 Fähigkeiten mischen sich munter in Dialoge ein, geben Einschätzungen ab und fordern den Polizisten auf, die eine oder andere Dialogoption auszuprobieren. Die Fähigkeiten repräsentieren verschiedene charakterliche oder körperliche Eigenschaften und haben dementsprechend eine eigene Agenda. So stellt „Electrochemistry“ das Belohnungssystem des Hirns dar und verlangt stetig nach Drogenkonsum, Sex und anderen Aktivitäten, die Glückshormone ausschütten. Dementsprechend sind dessen Ratschläge nicht immer unbedingt die besten.

Neben relativ intuitiven Fähigkeiten wie Logik, Rhetorik, Autorität, Schmerzensgrenze, Hand-Augen-Koordination oder Empathie gibt es auch kryptischere Fähigkeiten wie etwa „Inland Empire“ oder „Shivers“. Ersteres lässt sich am ehesten mit Kreativität und Fantasie beschreiben, während Shivers (Schaudern) die Verbindung zwischen dem Hauptcharakter und der Stadt, in der er lebt, darstellt. Beide sind eine Art „siebter Sinn“, mit dem die Spielwelt erlebt werden kann. Wie eine zu starke Fantasie kann „Inland Empire“ auf einem hohen Level jedoch dazu führen, dass man Gespräche mit seiner Krawatte führt oder auf andere Weise den Blick für das Wesentliche verliert.

Welche Fähigkeiten sich im inneren Monolog melden, ist aber genauso wie die Frage, ob bestimmte Aktionen – etwa die bereits erwähnte Krawatte vom Deckenventilator zu holen – möglich sind, vom Würfelglück der Spieler*innen abhängig. Genau wie in Pen-and-Paper-Rollenspielen, die nicht am Computer, sondern analog mit Papier, Figuren und Würfeln gespielt werden, ist Würfeln eine zentrale Mechanik von Disco Elysium. Das passiert einerseits offen bei sogenannten Checks: Eine Aktion kann zum Beispiel ein bestimmtes Level an Hand-Augen-Koordination erfordern. Zu dem mit zwei sechsseitigen Würfeln bestimmten Ergebnis wird das Level der Fähigkeit addiert. Ist das Resultat größer oder gleich dem erforderten Level, gilt der Check als gewonnen.

Aufräumen im Gedankenkabinett

Dieses relativ intuitive System wird während des Dialogs durch verstecktes Würfeln ergänzt. Im Hintergrund würfelt das Spiel ständig und entscheidet so, welche Fähigkeiten sich wie zu Wort melden. Wer einen Charakter mit hohem Intellekt erstellt hat, wird oft von der Enzyklopädie-Fähigkeit hören und Hintergrunddetails über die Welt erfahren. Ein Polizist, dessen körperliche Fähigkeiten wichtiger sind, kann aber zum Beispiel erkennen, wenn die psychische oder physische Schmerzgrenze eines Gegenübers erreicht wurde (und wird oft von „Electrochemistry“ hören).

Mit verschiedenen Kleidungsstücken oder Ausrüstungsgegenständen können benachteiligte Fähigkeiten ausgeglichen – oder starke noch verstärkt – werden. Das ist eine Mechanik, die vielen Rollenspielen innewohnt, in Disco Elysium ist sie mit dem internen Monolog jedoch noch einmal spannender umgesetzt. Die Entscheidung, wo man seine mühsam erarbeiteten Punkte investiert, verändert die Wahrnehmung der Spielwelt genauso wie die Auswahl der Kleidung. Auch der Konsum von Drogen, von denen vier verschiedene zur Auswahl stehen, gibt temporäre Boni auf die vier verschiedenen Fähigkeiten-Kategorien: Zigaretten erhöhen den Intellekt, Alkohol die körperliche Stärke, Speed die motorischen Fertigkeiten und die fiktive psychoaktive Droge Pyrholidon die Psyche.

Eine weitere relativ innovative Mechanik ist das „Thought Cabinet“. Je nachdem welche Dialogmöglichkeiten die Spieler*innen auswählen, werden ihnen verschiedenste Gedankengänge präsentiert. Diese können im Gedankenkabinett ausgewählt und verinnerlicht werden. Durch viel Nachdenken kann der Polizist sich vielleicht an sein Geburtsdatum erinnern. Nach einigen Stunden wird das Resultat präsentiert: Der Hauptcharakter ist nicht nur etwas schlauer, sondern hat auch Boni oder Mali auf eine oder mehrere Fähigkeiten. Welche das sind, ist nicht ersichtlich, bis der Gedanke abgeschlossen ist.

Das Gedankenkabinett ist nicht nur eine interessante Mechanik, sondern knüpft auch nahtlos an die Themen an, die Disco Elysium behandelt. Der Hauptcharakter mit Amnesie ist nicht nur ein ideales Instrument, um die Spieler*innen an die sehr ausführlich ausgebaute Geschichte der Spielwelt heranzuführen, sondern dient auch als Projektionsfläche. Der Polizist kann im besten Sinn des Wortes rollengespielt werden, denn die vielen Antwortmöglichkeiten, die das Spiel in Dialogen präsentiert, formen nach und nach einen ausgefeilten Charakter mit Widersprüchen, wie jeder Mensch sie hat.

Es gilt also nicht so sehr herauszufinden, was den Detektiv dazu getrieben hat, sich sämtliche Erinnerungen wegzusaufen, sondern selbst zu entscheiden, was es war. Der Slogan „What kind of cop are you?“, mit dem Disco Elysium beworben wurde, bewahrheitet sich mehr, als in den ersten Spielstunden zu durchblicken ist. So ist der Name des Detektivs am Anfang des Spiels unbekannt. Man kann jedoch einen erfinden und sich fortan als Raphaël Ambrosius Costeau vorstellen – selbst, wenn der wiedergefundene Polizeiausweis etwas anderes behauptet.

Allerdings lässt sich die Vergangenheit nicht mehr ändern – das zerstörte Hotelzimmer bleibt zerstört, egal wie sehr sich die Spieler*innen anstrengen, ein ehrenhafter, geradezu langweiliger Detektiv zu sein. Genauso lässt sich die Erinnerung an die Ex-Frau, die dem Hauptcharakter das Herz gebrochen hat, zwar größtenteils ignorieren, das ungute Gefühl, das bei dem Geruch von Aprikosenkaugummi aufkommt, geht jedoch nie weg. Genauso ist es möglich, nie in den Spiegel zu schauen und niemals in das eigene vom Alkohol aufgeschwemmte Gesicht zu blicken – alle anderen Charaktere werden es trotzdem sehen.

Die Wahl der Kleidung hat einen Einfluss auf das Spielgeschehen. Als Polizist ist der aufgedruckte Slogan „Fuck the World“ dennoch vielleicht nicht die beste Idee. (Bild: ZA/UM)

Politik am Ende der Geschichte

Die ausgewählten Dialoge ändern dabei nicht nur die Sicht der anderen Charaktere auf den Hauptcharakter, sondern auch dessen Sicht auf die Welt. Wer ständig allen erzählt, dass das Ende der Welt nahe und man selbst der Herold der Apokalypse ist, wird überall Zeichen des nahenden Weltuntergangs sehen und sich bestätigt fühlen. Neben den bekannten Themen der Midlife-Crisis – Selbstfindung, Depression, Alkoholsucht und verflossene Liebesbeziehungen – spielt Politik eine wichtige Rolle in Disco Elysium.

Sprechen die Charaktere politische Themen an, gibt es meistens vier verschiedene Antwortmöglichkeiten, die vier Strömungen entsprechen: Kommunismus, Liberalismus, Moralismus (die „radikale Mitte“) und Faschismus. Je nachdem, mit welchem Charakter man spricht, werden solche Äußerungen auf mehr oder weniger fruchtbaren Boden fallen. Martinaise – der Stadtteil und seine Bewohner*innen – ist auch nach vier Jahrzehnten immer noch von den Auswirkungen einer vereitelten kommunistischen Revolution geprägt. Sie wurde von einer internationalen Koalition kapitalistischer Staaten, deren Beschreibung erstaunlich an die EU oder die UN erinnert, niedergebombt. Diese Koalition führt jetzt die Geschicke der Stadt. Das sprichwörtliche Ende der Geschichte, der endgültige Sieg des Kapitals scheint auch in Revachol unausweichlich.

Die Art und Weise, wie das Spiel durch seine Charaktere über Politik spricht, ist erfrischend ehrlich und widerspricht völlig der Branchenweisheit, dass Games sich am besten verkaufen, wenn sie vermeintlich unpolitisch sind. Obwohl jede Ideologie ihr Fett abbekommt, werden Faschismus und Liberalismus durchweg am negativsten dargestellt. Dass das Spiel bei Spieler*innen aus postkommunistischen Ländern besonders gut ankommt, liegt vermutlich auch daran, dass die Entwickler*innen aus Estland stammen und ihre Perspektive dementsprechend eingebaut haben.

Die vielen Charaktere sind meistens sehr vielschichtig und mehr als nur die Klischees, für die man sie auf den ersten Blick halten könnte. Besonders Sidekick Kim Kitsuragi entpuppt sich als solch spannende Persönlichkeit, dass man sich wünscht, mehr Zeit mit ihm verbringen zu können.

Die Auflösung des Mordes – auch eine interessante politische Beobachtung – ändert sich nicht, egal wie man seinen Polizisten formt. Das mag in einem Spiel, das einem nicht nur die Freiheit gibt, Karaoke zu singen, sondern auch eine Disco zu eröffnen, etwas enttäuschend wirken, ergibt jedoch Sinn. Denn es ist das „Wie“, das in Disco Elysium zählt und das den Reiz des Spiels ausmacht. Mit der visuellen Integration von Mechaniken, die aus traditionellen Pen-and-Paper-Rollenspielen bekannt sind, kommentieren die Entwickler*innen diese nämlich auch.

Popkultur und Ölgemälde

Das wird besonders in der Figur der Würfelmacherin deutlich. Sie stellt die Frage, was es eigentlich bedeutet, ein Rollenspiel zu gewinnen. Die Spieler*innen haben daraufhin sogar die Möglichkeit, einen Gedanken zu internalisieren, der das Würfeln leichter macht. Gewinnen heißt nicht, den Mord aufzulösen, sondern den Hauptcharakter zu definieren und ihm bei seiner Selbstfindung zu helfen.

Dies passiert in einer Welt, die visuell an ein Ölgemälde erinnert. Die isometrische Draufsicht mag technisch nicht sonderlich komplex sein, sie erlaubt jedoch, das wunderbare Design von Martinaise zu bewundern. Stilistisch erinnern sowohl die Spielwelt als auch die Porträts der einzelnen Charaktere an eine Mischung aus Rembrandt, Kandinsky, Kanevsky und Saville. Unterlegt ist das Spiel mit einem Soundtrack, der von der Rockband British Sea Power stammt – eine der Lieblingsbands der Entwickler*innen. Nicht alle Dialoge sind gesprochen, aber das Voiceacting ist stets fabelhaft.

Das Spiel ist zudem voll mit popkulturellen Referenzen. Das reicht von klassischen Detektivromanen zu aber auch weniger naheliegenden Anspielungen an Songs oder Bands. So gibt es sowohl Hommagen an die Einstürzenden Neubauten, den Rapper DMX, als auch an Scooter. Auch Filme werden referenziert: Eine Tapete stammt aus The Shining und eine Fähigkeit ist nach David Lynchs Inland Empire benannt. Diese kleinen Details, die oft erst bei einem zweiten oder dritten Spieldurchlauf auffallen, machen das Spiel sehr charmant. Auch wie Geschichte, Religion und Politik der Spielwelt sich in interner Popkultur widerspiegelt, ist bemerkenswert.

Anfang Dezember hat ZA/UM verkündet, dass Disco Elysium im März 2021 in einer „Final Cut“-Version erscheinen wird. Dies erstmals auch für Konsolen, nachdem bisher nur PC-Spieler*innen in den Genuss kamen. Nicht nur wird Martinaise ein weiteres Areal bekommen – auch zusätzliches Voiceacting für sämtliche Dialoge wurde angekündigt. Wird ein solches Update bei normalen Spielen als Erweiterung oder gar Remake zum Vollpreis verkauft, schenken die Entwickler*innen den bisherigen Spieler*innen die „Final Cut“-Version einfach. Eine überraschende Ankündigung, die umso mehr Ansporn sein kann, das Meisterwerk, das Disco Elysium darstellt, auszuprobieren.


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