EZB: Liegt Karlsruhe in Europa?

Das deutsche Urteil gegen den Kauf von Staatsanleihen stellt sowohl die Autorität des EU-Gerichtssystems als auch die Krisenmaßnahmen der Europäischen Zentralbank in Frage.

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. (Wikimedia; Rainer Lück 1RL.de; CC BY-SA 3.0)

Die „schwere Artillerie“ muss in die Kaserne zurück. Das könnte die Folge des Urteils des Bundesverfassungsgericht vom Dienstag in Bezug auf den Kauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) sein. Zur Erinnerung: Während der Eurokrise 2012 hatte der damalige EZB-Präsident Mario Draghi angekündigt, den Euro mit allen Mitteln zu retten. In den Folgejahren wurden massiv Staatsanleihen der Eurozone an den Börsen aufgekauft – das schwerste Geschütz, das eine Zentralbank auffahren kann. Die gleiche Vorgehensweise hat sich in den vergangenen Wochen die jetzige Präsidentin Christine Lagarde zu eigen gemacht, denn auch die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise könnten die Finanzwelt veranlassen, auf fallende Kurse bei Staatsanleihen zu spekulieren.

Pikanterweise widerspricht das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe so einem Urteil des EU-Gerichtshofs. Dieses hatte im Dezember 2018 befunden, der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB verstoße nicht gegen die EU-Regeln. Im Detail: Die Maßnahme habe zum Ziel, eine „ideale“ Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent wiederherzustellen. Außerdem würden die Staatsanleihen an den Märkten gekauft, stellten also keine direkte Schuldenfinanzierung der Mitgliedstaaten dar – letzteres gilt als der Stein des Anstoßes schlechthin für orthodoxe Wirtschaftsexpert*innen, insbesondere in Deutschland.

Verfassungsgericht ohrfeigt EU-Gerichtssystem und EZB

Das Karlsruher Gericht hat nun den Kolleg*innen des EU-Gerichthofs in Luxemburg attestiert, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme nicht überprüft zu haben – die Mitgliedstaaten würden ermutigt, sich höher zu verschulden, so der Verdacht. Sollte die EZB binnen drei Monaten keine Rechtfertigung vorlegen, so sei klar, dass die EZB gegen EU-Recht verstoßen habe. Dann müsse sich die Bundesbank aus dem Aufkauf von Anleihen ausklinken und die bereits gekauften wieder auf den Markt bringen, so das Verfassungsgericht weiter. Zwar ist das neu aufgelegte Aufkauf-Programm nicht direkt vom Urteil betroffen, doch weitere, erfolgreiche Klagen in Karlsruhe sind absehbar – dies umso mehr, als die EZB die Regeln für den Kauf von Staatsanleihen jüngst noch gelockert hat.

Bundessiegel.

Mit diesem Urteil stellt das Bundesverfassungsgericht die Autorität des EU-Gerichtssystems grundsätzlich in Frage – etwas, das man eher von Regierungen wie denen in Ungarn oder Polen erwartet. Sollte das Beispiel Schule machen, so kündigt sich EU-weit ein juristisches Chaos an, das nicht ohne politische Folgen bleiben wird. Am Freitag hat der Gerichtshof in Luxemburg reagiert. Im Kommuniqué geht es nicht um den Inhalt des Karlsruher Urteils, sondern um die Form: Einzig das EU-Gerichtssystem selber sei zuständig, einen Verstoß der Institutionen gegen EU-Recht festzustellen. Nationale Gerichte müssten sich an solche Urteile halten, sonst seien die Einheitlichkeit des EU-Rechts und die Rechtssicherheit gefährdet. Dass von deutscher Seite gewissermaßen Sonderrechte beansprucht werden, scheint dem EU-Gerichtshof besonders zu missfallen, denn im Kommuniqué heißt es: „Nur so [indem europäische Urteile von allen nationalen Instanzen respektiert werden] kann die Gleichheit der Mitgliedstaaten in der von ihnen gebildeten Union sichergestellt werden.“

Corona-Finanzhilfe gefährdet

Die EZB kann damit guten Gewissens die Zuständigkeit des Karlsruher Gerichts zurückweisen und sein Urteil ignorieren. Damit läge der Ball bei der Bundesbank. Zieht sie sich aus dem Anleihenkauf-Programm zurück, wie von Karlsruhe gefordert, so wird die EZB zu einem zahnlosen Tiger, mit unabsehbaren Folgen für die gemeinsame Währung. Doch schon Ankündigungen von deutscher Seite, in diese Richtung gehen zu wollen, dürften heftige politische Reaktionen hervorrufen und den Zusammenhalt der Eurozone und der gesamten EU in Frage stellen.

„Wer braucht Euroskeptiker, wenn man das Bundesverfassungsgericht hat?“, spottet Euractiv („With friends like these in Karlsruhe…“). Die Onlinezeitung beklagt, dass das Urteil zu einem Zeitpunkt erfolgt, wo die EU gerade dabei ist, ein finanzielles Hilfsprogramm zusammenzustricken. Das Urteil sei „ein politischer Akt, um die EZB daran zu hindern, wie eine normale Zentralbank zu handeln, und sie in eine Zwangsjacke zu stecken“. Anders sieht man die Sache in Berlin bei der Unionsfraktion. Laut Handelsblatt begrüßte der Sprecher Ralph Brinkhaus die Entscheidung: „Wir haben es als Unionsfraktion immer sehr, sehr kritisch gesehen, dass im Bereich der EZB die Grenzen der Geldpolitik (…) und einer Fiskal- und Wirtschaftspolitik sehr, sehr fließend waren.“ Mehr zur Bewertung des Urteils im woxx-Kommentar „Kaufen? Verkaufen? Eurobonds!“.

 


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