Filmgeschichte: „Sie haben mir das Leben schwer gemacht“

Die Frères Lumière dürften den meisten Kinokenner*innen ein Begriff sein, doch was ist mit Alice Guy, der ersten Spielfilmregisseurin der Welt? Die Doku „Alice Guy – L’inconnue du 7e art“ porträtiert die Frau, die das Kino revolutionierte – und von männlichen Kollegen ausradiert wurde.

„La fée au choux“ (1896) gilt als erster fiktionaler Spielfilm aller Zeiten und geht auf die Filmemacherin Alice Guy zurück, die das Drehbuch schrieb, Regie führte und mitspielte. (Copyright: Screenshot/Arte)

„Cette femme nous a touchées, éblouies et émues”, sagten die Regisseurinnen Nathalie Masduraud und Valérie Urréa im Januar beim Radiosender France Culture. Mit „cette femme“ meinen sie Alice Guy: Die beiden widmen ihr auf Arte den Dokumentarfilm „Alice Guy – L‘inconnue du 7e art”, der auf den Memoiren der Filmemacherin sowie auf Interviews mit ihr beruht und mit Farbillustrationen von Catel Muller versehen ist. Alice Guy, deren Karriere mit der Erfindung des Kinematografen Ende des 19. Jahrhunderts begann, gilt als die erste Spielfilmregisseurin und Produzentin der Welt. Eine Anerkennung, die ihr aufgrund männlicher Widersacher spät zuteilwurde.

Masduraud und Urréa konzentrieren sich in ihrer Doku auf diesen Umstand: Sie verknüpfen filmhistorische Ereignisse mit Guys Sexismus-Erfahrungen. Diese Kombination bestimmt die packende Erzählung über Alice Guy und ist eine nachvollziehbare Entscheidung seitens der Regisseurinnen, denn als Guy 1896 den ersten fiktionalen Langspielfilm aller Zeiten („La fée au choux“) veröffentlichte, war sie in der Branche allein unter Männern. Mit Anfang dreißig leitete sie die Filmproduktion bei Gaumont, der bis heute existierenden Produktionsfirma von Léon Gaumont.

Der Weg dahin war aufgrund ihres Geschlechts nicht leicht, wie die Regisseurinnen in ihrer Doku herausarbeiten. Doch auch nach ihren ersten Erfolgen hatte Guy mit männlichen Kollegen zu kämpfen. In einem Interview berichtet sie von einem Werkstattleiter, der nicht gut auf sie zu sprechen war und in einer Winternacht ihre Kulissen als Brennholz nutzte. „Oh ja, sie haben mir das Leben schwer gemacht“, sagt Guy über die Zusammenarbeit mit Männern.

Die Regisseurinnen heben in der Doku die Werke hervor, in denen sie die Lebensrealität von Frauen und das Motiv der Geschlechterrollen verarbeitet hat – es sind Arbeiten, die damals für Aufruhr sorgten. In „Les résultats du féminisme“ verdammte Guy Männer zu Hausarbeit und machte aus den Frauen Verführerinnen, die über Männer herfallen. „Madame a des envies“ zeigt eine schwangere Frau, die anzüglich an einem Lolli lutscht und Pfeife raucht. In der Doku sind die entsprechenden Filmausschnitte zu sehen.

Guy interessierte sich auch hinter den Kulissen für benachteiligte Menschen: Sie besuchte unter anderem Gefängnisse und indigene Völker, um mehr über ihre Not zu erfahren, und schreckte nicht davor zurück, gegen Gewalt vorzugehen. Als Guys Assistent sich an einer minderjährigen Statistin vergriff, entließ sie ihn. Mit dieser Entscheidung verärgerte sie den Verwaltungsrat von Gaumont, der sie mit wachsenden Anforderungen unter Druck setzte. Masduraud und Urréa vermuten, dass die Leitung der Produktionsfirma Guy anschließend loswerden wollte, dementsprechend deuten sie einen weiteren Schlüsselmoment in ihrem Leben: Nur drei Tage nach ihrer Heirat mit dem Kameramann Herbert Blaché, der ebenfalls für Gaumont tätig war, wurde dieser in die USA versetzt. Guy folgte ihm und verließ Gaumont nach elf Jahren.

Alice Guy war eine Pionierin des Kinos, doch ihr Name wurde von männlichen Kollegen aus der Filmgeschichte verbannt.

Gestraft und ersetzt

In Amerika gelang ihr wider Erwarten der Durchbruch: 1910 gründete sie mit den Solax Studios ihre eigene Produktionsfirma. Sie drehte vor allem Western und Melodramen, doch setzte nach wie vor auch Zeichen gegen Diskriminierung. Als sich ihre Schauspieler*innen 1912 weigerten in „A Fool and His Money“ mit afroamerikanischen Darsteller*innen zusammenzuarbeiten, sortierte sie die weißen Akteur*innen kurzerhand aus. Die Komödie, die um Diebstahl und das aristokratische Leben kreist, gilt als einer der ersten Filme mit einer ausschließlich afroamerikanischen Besetzung in einem Amerika, in dem damals noch Rassentrennung herrschte.

Auch für diesen mutigen Schritt bekam Alice Guy Schelte von Männern: Ihr Ehemann, der zu dem Zeitpunkt die Leitung von Solax übernommen hatte, bestrafte sie mit Auftragsarbeiten. „Du hast die Männer gestört, die in Ruhe ihre Zigarre rauchen wollen“, soll er sie damals abgemahnt haben. Blaché stürzte das Unternehmen später durch Fehlinvestitionen und seine Spielsucht in den Ruin und verließ Guy. Ihr Studio in Fort Lee brannte im Dezember 1919 ab.

Zurück in Frankreich stellte Guy fest, dass Gaumont sie aus dem Firmenarchiv gestrichen hatte. Im Abspann mehrerer Filme war ihr Name durch den männlicher Kollegen ersetzt worden. Guy beschwerte sich bei Gaumont, der die Umstände als unwichtig abgetan haben soll. Noch zu Lebzeiten bemühte sich die Filmemacherin, ihre Geschichte zu erzählen, doch die Verlage lehnten ihre Memoiren ab. In den 1950er-Jahren erhielt sie immerhin die Légion d’honneur, einen Verdienstorden, für ihr Schaffen. Erst seit den 1960er- und 1970er-Jahren – Guy verstarb 1968 – setzen sich Historiker*innen und Filmbegeisterte mit ihrer Arbeit auseinander. Durch technische Verfahren konnten Guy nachträglich einige Filme zugeschrieben werden. Masduraud und Urréa verzichten leider darauf, diese Wiederentdeckung darzustellen.

Generell handelt es sich bei der Doku mehr um eine Hommage als um eine kritische Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichtsschreibung an sich. Außer Guy kommt in der Doku niemand ausgiebig zu Wort. Ihr Schicksal wird weder mit dem anderer Künstlerinnen um die Jahrhundertwende verglichen, noch im Hinblick auf Debatten wie #MeToo analysiert. All das ist aufgrund der allgemeinen Dichte des Films jedoch verzeihbar. Am Ende hat Alice Guy diese Aufmerksamkeit auch verdient – in der Firmengeschichte von 
Gaumont, die man sich auf der 
Website des Unternehmens durchlesen kann, taucht sie bis heute nur in drei Sätzen auf.


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