Großbritanniens Premierminister Keir Starmer hat vergangenen Montag zum Gipfel gegen „organisierte Einwanderungskriminalität“ geladen. Wie seine EU-Kolleg*innen übt er sich in scharfer Rhetorik, die die Schutzsuchenden aus dem Blickfeld verdrängt.

Flüchtlinge auf dem Ärmelkanal im März 2024: Inzwischen werden die Schlauchboote mit deutlich mehr Menschen darauf losgeschickt. (Foto: EPA-EFE/TOLGA AKMEN)
„Taking back control of our borders”, die Kontrolle über unsere Grenzen zurückerlangen – so lautete nicht nur die wichtigste Parole der Befürworter*innen des Brexit, sondern nach dem Referendum auch der offizielle Plan der damals amtierenden konservativen britischen Premierministerin Theresa May für den Austritt aus der EU. In beiden Fällen war damit vor allem die „unkontrollierte Einwanderung“ gemeint.
Fünf Jahre nach dem Brexit läuft deren Eindämmung laut britischen Statistiken alles andere als rund. Auch der amtierende Premierminister Keir Starmer von der sozialdemokratischen Labour-Partei hat seinen Wahlsieg nicht zuletzt dem Versprechen, der „illegalen Migration“ den Garaus zu machen, verdankt. Sogar eine neue Behörde, das „Kommando für Grenzsicherheit“ („Border Security Command“) hat er dafür geschaffen. Geholfen hat das wenig: Die Zahl der auf kleinen Schlauchbooten aus Frankreich nach Großbritannien gelangenden Flüchtlinge ist so hoch wie unter all seinen konservativen Vorgänger*innen nicht. Über 6.600 Menschen sind auf diesem Weg in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres bereits ins Vereinigte Königreich gelangt – rund 1.600 mehr als der bisherige Rekord im Vorjahreszeitraum.
Paradoxerweise ist dies der zunehmenden Repression gegen Schmuggler auf dem europäischen Festland geschuldet. Da immer mehr ihrer Schlauchboote beschlagnahmt werden, setzen sie einfach immer mehr Flüchtlinge auf die verbleibenden Kähne Richtung Großbritannien. Über 80 Personen wurden in diesem Jahr bereits mehrmals auf solchen Booten gezählt, denen man bislang eine Maximallast von 50 Menschen zugetraut hatte. Das größere Risiko, das damit einhergeht, führte in diesem Jahr bereits zu zehn Toten.
Flüchtlinge werden zum Ding degradiert, weil sie als handelnde Subjekte nicht mehr wahrgenommen werden.
Premierminister Starmer kann zwar für sich reklamieren, die Zahl der angekommenen Boote sei exakt dieselbe wie unter seinen beiden konservativen Amtsvorgänger*innen geblieben, gegenüber seinen Kritiker*innen wird ihm das aber wohl nur wenig nützen. Er macht daher, was derzeit alle machen, und rüstet rhetorisch weiter auf. Auf einem eigens von ihm am vergangenen Montag in London einberufenen Gipfel kündigte er das „bisher härteste internationale Vorgehen“ gegen die sogenannte „organisierte Einwanderungskriminalität“ an. Diese sei eine „weltweite Bedrohung“, deren Vertreter betrieben ein „abscheuliches Geschäft“ und müssten daher wie Terroristen behandelt werden, so Starmer vor Vertreter*innen aus 40 Nationen. Bei so viel verbaler Schärfe fand sich auch der ebenfalls anwesende und für Migration zuständige EU-Kommissar Markus Brunner inspiriert. „Wir müssen zusammenarbeiten, um das skrupellose Schmuggelgeschäft zu bekämpfen und die Kriminellen dahinter auszuschalten („root out the criminals behind it“)“, schrieb er auf X.
Der Kampf gegen die sogenannte Schleuserkriminalität hat Konjunktur; da lässt man sich nicht davon stören, dass das gezeichnete Bild von monströsen Organisationen eine Chimäre ist. „Großbritanniens Plan zur Zerschlagung von Menschenschmugglerbanden hat ein großes Problem: Es gibt keine Banden“, betitelte immerhin der wirtschaftsliberale britische „Economist“ einen Artikel zu Starmers Gipfel, in dem aufgezeigt wird, dass die Situation am Ärmelkanal exakt der von dem Migrationsforscher Luigi Achilli jüngst in der woxx (1828) dargelegten Muster entspricht: Der Schmuggel basiert auf losen Netzwerken, nicht auf stabilen, hierarchischen Organisationen.
Vielleicht dient der Hype um die Schleuser aber auch einem ganz anderen Zweck: Die Schutzsuchenden sollen hinter all dem Getöse verschwinden. Stück für Stück werden sie zum Ding degradiert, weil sie als handelnde Subjekte eigentlich gar nicht mehr wahrgenommen werden – ganz ähnlich wie es auch die Diskussion in Deutschland um die Bezahlkarten für Asylbewerber*innen bezweckt. „Kein Geld zu haben, das ist zur Not vorstellbar; nicht das Recht zu haben, überhaupt Geld haben zu dürfen, ist unvorstellbar“, hatte der Gesellschaftskritiker Joachim Bruhn über eine ähnliche Debatte zum dortigen „Asylbewerberleistungsgesetz“ schon vor bald dreißig Jahren geschrieben. Nun werden sie auch noch zur bloßen Währung einer „organisierten Einwanderungskriminalität“ gemacht. Die Entmenschlichung der Flüchtlinge wird so kontinuierlich vorangetrieben.