Gentrifizierung: Gefährdete Heimaten

Mit dem „Zing“ gelang es Awa Taban-Shomal, im Saarbrücker Szenequartier Nauwieser Viertel eine einzigartige Jazzkneipe zu etablieren. Doch dann wurde der Mietvertrag gekündigt: Ein Investor hat mit dem Gebäude etwas anderes vor. Kein Einzelfall in Zeiten der Gentrifizierung. Ein exemplarisches Lehrstück für Prozesse, die überall voranschreiten, wo Städte nicht eingreifen. Also auch für Luxemburg.

2022 schloss in der Nauwieser Straße 10 nach einem Besitzerwechsel das wohl bekannteste Bordell des Saarlandes. (Copyright: Ekkehart Schmidt)

Awa Taban-Shomal ist zu einer Symbolfigur geworden. Und sie weiß das durchaus, als sie letzten Donnerstag im „Theater im Viertel“ auf die Bühne tritt, um ihren Abschied aus Saarbrücken zu begehen. Feiern möchte sie den Abschied auf keinen Fall, aber doch noch einmal alles ausleben, alles geben, wofür die Frontsängerin von „Savoy Truffle“ bewundert und geliebt wird. Sie wird wegziehen, letztlich weil die hiesige Region ihr nicht bieten kann, wofür sie leben möchte.

Das ist aber nicht in ihrer Rolle für diese saarländische Kultband und deren Möglichkeiten begründet, sondern in ihrer eigentlichen ökonomischen Existenz als Wirtin eines sehr besonderen Lokals, das die 33-Jährige vor sieben Jahren aus dem Nichts aufgebaut hatte, jetzt aber schließen musste: dem „Zing“. Mit viel Herzblut und Energie hatte die Tochter iranischer Eltern ab 2015 aus einem düster wirkenden, heruntergekommenen Lokal am Rande des Nauwieser Viertels, das kaum ein Viertelbewohner freiwillig betreten hätte, eine frisch und fröhlich wirkende Cafébar gemacht. Durch die Umwandlung dieser fast schon historisch zu nennenden Kneipe hatte sie etwas Neues geschaffen, ohne das Alte zu eliminieren. Vor allem aber gelang ihr die Schaffung eines Ortes, an dem die Jazzszene regelmäßig jammen konnte.

Im Februar 2022 wurde ihr jedoch plötzlich der Mietvertrag gekündigt: Der Inhaber will das gut 100-jährige Gebäude abreißen und dort einen Neubau errichten, durch den wohl langfristig deutlich höhere Mieteinnahmen zu erwarten sind. Awa hat gehört, es sei auch ein Investor aus Luxemburg beteiligt. Überprüfbar ist das jedoch nicht.

Die Hiobsbotschaft traf sie unvorbereitet; ihr entsprechend frustrierter Aufschrei in den sozialen Medien („Das Viertel geht vor die Hunde“) schlug ein wie eine Bombe. Eine Welle der Empörung erreichte erst das Ludwigsparkstadion und dann die Politik. „Mit dem Zing fängt es an. Ist bald das ganze Viertel dran? Gentrifizierung im Nauwieser Viertel stoppen“, hatten Fans beim nächsten Heimspiel des 1. FC Saarbrücken auf ein gut 35 Meter langes Spruchband geschrieben. Die Stadt bot Hilfe an, doch fand sich keine Lösung, weil der Bebauungsplan in diesem attraktiven Ausgehviertel keine neue Gastronomie erlaubte. Das „Zing“ musste Ende September schließen. Ursprünglich sollte der Vertrag Ende Juni auslaufen, während monatelang mit vereinten Kräften nach einem Ausweichquartier gesucht wurde. Awa lief die Zeit davon – am Ende gab die gebürtige Saarbrückerin auf. Sie wird nach Hannover ziehen.

Ein Jazzcafé wird zum Symbol

An diesem Abschiedsabend vermischt sich ihre doppelte Identität als Sängerin und Wirtin. In der für Bands eher ungewöhnlichen Atmosphäre des kleinen Theaters präsentiert die stilistisch vielseitige achtköpfige Combo (vier Frauen vorne, vier Männer hinten) seit 1998 in einer Konzertserie an drei Januartagen ihr jeweils aktuelles Programm. Zu ihrem Abschied konnte Awa die Songs des Abends bestimmen: Mit „Set Me Free“ oder „Afterglow“ wählte sie viele, die von Abschied und Verlusten erzählen. Textzeilen wie „Geh ich laut, geh ich leise? Wie lange dauert meine Reise? Ich vermisse dich so sehr!“ singt sie zwar traurig, aber entschlossen („I cry – but not for you“), in einer faszinierend starken Bühnenpräsenz.

Fast könnte man denken, Awa sei in ihrer Rolle als Sängerin die Seele dieses erfrischend unaufgeräumten, authentischen Viertels, in dem viele auf der Suche nach anderen Lebensentwürfen sind. Sicher ist jedoch, dass das Schicksal ihres Herzensprojekts „Zing“ als Symbol gesehen wurde. Keinen adäquaten Ausweichort zu finden, war eines von zwei Aufregerthemen des letzten Jahres im Saarland, neben der bevorstehenden Schließung der Ford-Werke. Beide wecken oder bestätigen Verlustängste, davor, dass die ganze Region noch weitere Rückschritte machen könnte. Sich abgehängt zu fühlen, verletzt auch den Stolz.

Ganz ähnlich wie im luxemburgischen Quartier Gare lässt sich im Viertel eine Vielfalt an Menschen erleben, wie sonst nirgendwo im jeweiligen Land. Und beide sind aktuell im Kern ihrer Existenz bedroht durch ein außerhalb der Großregion längst wirkendes, hier aber noch neues Phänomen: Gentrifizierung. Gemeint ist die Verdrängung einkommensschwacher Haushalte durch wohlhabendere in citynahen Quartieren. Das klingt erst einmal neutral, wird aber als wichtiger Aspekt der Auswirkung sozialer Ungleichheit auf den Wohnungsmärkten gesehen. Den Eigentümer*innen der Häuser dieser Viertel fehlten die Mittel, die Häuser zu sanieren. So blieben die Mieten günstig, was Menschen anzog, deren Budget eher gering ist: Studierende, Kunstschaffende oder auch Migrant*innen.

Die Aktivitäten und Lokale von sozialen und künstlerischen Initiativen sind Vorboten oder auch Auslöser von Gentrifizierungserscheinungen. Als Pioniere verwandeln sie nach und nach ehemalige Arbeiterviertel in subkulturelle Hotspots und erhöhen den kulturellen Mehrwert eines Viertels, so der Sozialwissenschaftler Andrej Holm. Soziologisch und ökonomisch gesehen handele es sich um „eine immobilienwirtschaftlich vermittelte Enteignung des kulturellen Kapitals von (ökonomisch mittellosen) Künstlerinnen durch später zuziehende Reiche“. Das „Zing“ kann so nicht nur als Opfer, sondern auch als Wegbereiter steigender Mieten und Bodenpreise gesehen werden. Die Pioniere werden Opfer ihres Erfolgs.

„Wem gehört Saarbrücken?“, fragten die „Saarbrücker Hefte“ letzten Sommer und illustrierten ihr Titelthema mit einem Monopoly-Spielbrett, auf dem sie anstelle der Schlossallee die Nauwieser Straße platzierten. Damit wurde ein Erschrecken darüber ausgedrückt, dass die Entwicklung dieses exemplarisch von sozial-ökologischen Initiativen und Kneipen geprägten Viertels den Weg des Prenzlauer Bergs in Berlin gehen könnte. Also den einer von privaten Interessen rein über den Markt gesteuerten Stadtentwicklung, die genau die Szene zerstört, von welcher ausgehend der Wert der dortigen Immobilien gestiegen war und weshalb es dort plötzlich „interessant“ wurde zu investieren.

„Verwertungsdruck“

Konkret ging es neben dem „Zing“ auch um einen anderen Gebäudekomplex und dessen Abriss und Ersatz durch Neubauten – etwas, das hier bis auf zwei oder drei Ausnahmen in den letzten zwei Jahrzehnten nie vorgekommen war. Auch dies ein Unterschied zu Luxemburg, wo der „Verwertungsdruck“ vergleichsweise sehr viele Eigentümer diesen Weg gehen ließ. Im Quartier Gare wurden ganze Häuserblöcke in der Rue Joseph Junck und der Rue d’Épernay komplett abgerissen, riesige Neubauten wurden hochgezogen. Ohne Widerstand.

Für die Befürchtung, dass das Nauwieser Viertel als Idyll gefährdet sein könnte, gab es einige Vorzeichen. Zunächst etablierten sich hippe Lokale als Vorboten einer langsamen Veränderung, dann entstand ein Vier-Sterne-Boutique-Hotel mit Zwei-Sterne-Gastronomie. Ernst nahm das zunächst kaum jemand – bis 2022 die preisgekrönten Saarbahn-Wartehäuschen an der Johanniskirche entfernt wurden, um „Randständige“ zu vertreiben, das „Zing“ zur Schließung gezwungen, ehemalige Bordelle von Investoren aufgekauft und nebenan städtische Häuser für eine völlig viertelsfremde Nutzung freigegeben wurden. Alarmglocken läuteten: Da werden Investoren aktiv, die ihre ökonomische Chance sehen, ohne in Kontakt zur Viertelskultur zu stehen. Jetzt war die Angst vor der Verdrängung da.

Am anderen Ende des Viertels war im Vergleich zum „Zing“ 2022 eine viel längere Ära zu Ende gegangen: Nach vielen Jahrzehnten schloss in der Nauwieser Straße 10 nach einem Besitzerwechsel mit dem „City Love“ das wohl bekannteste Bordell des Saarlandes. 2016 war bereits der Bordellbetrieb in Nummer 8 beendet worden, nachdem das Haus den Besitzer gewechselt hatte. Beide waren Relikte aus den 1970er-Jahren, als am St. Johanner Markt und mit Ausläufern bis weit ins Viertel hinein viele heutige Szenekneipen Orte der Prostitution waren – und im Übrigen auch der Drogenszene. Anfang der 70er-Jahre war St. Johann der „faule morsche Kern der Stadt“. Dem damaligen Bürgermeister Oskar Lafontaine gelang es im Zuge einer großen Stadtsanierungsmaßnahme ab 1976, den Hauptplatz der Stadt zur „gudd Stubb“ ohne Prostitution umzugestalten.

Es habe sich eine Gelegenheit ergeben, sich an der „interessanten Entwicklung“ in diesem Teil der Stadt zu beteiligen, sagten die neuen Besitzer von Nummer 10. Konkrete Pläne gebe es noch nicht. Gegenüber der „Saarbrücker Zeitung“ hieß es lediglich: „Wir wollen etwas Schönes da-
raus machen. Was genau, da sind wir offen. Wir warten jetzt mal ab, was im Umfeld passiert und entscheiden dann.“ Mit dem „Umfeld“ gemeint sind die Häuser Nummer 14-18 nebenan. Sie sind noch in städtischem Besitz, werden aber im Rahmen einer Konzeptvergabe, das heißt eines Verkaufs mit Auflagen bezüglich der künftigen Nutzung, verkauft. Sie sind seit den 1980er-Jahren stark sanierungsbedürftig und stehen zum Teil leer. Selbst investieren kann und will die hochverschuldete Stadt dort nicht. Sie wollte die maroden Gebäude eher unauffällig und ohne Bürgerbeteiligung gegen Höchstgebot verkaufen, dabei wohl auch einen Abriss in Kauf nehmen. Doch schnell formierte sich Widerstand in einer Initiative namens „Operation: Viertel retten“.

Eine Stadt wird gentrifiziert

Nach einer intensiven öffentlichen Diskussion griff die Stadt zum Mittel der Konzeptvergabe: Der Anbieter, der bestimmte Bedingungen am besten erfüllt, erhält den Zuschlag. Im Viertel ist man damit nicht zufrieden, insbesondere, weil der Erhalt der Gebäude nur zu fünf beziehungsweise zehn Prozent in die Bewertung der erwarteten Angebote einfließt. Immerhin waren diese und andere Bedingungen, wie das Entstehen sozialen und bezahlbaren Wohnraums auf der Grundlage einer Bürgerbeteiligung eingeflossen. Seit dem 1. Januar können Angebote abgegeben werden.

Man könnte Gentrifizierung neu-
tral als Aufwertungsprozess sehen, wie es offenbar in Luxemburg der Fall ist, wo in Bezug auf das Garer Viertel medial fast nur über Probleme berichtet und „Laissez-faire“ praktiziert wird. Denkt man noch einen Schritt weiter, könnte man sagen, dass die gesamte Stadt gentrifiziert wird: Mit der Entwicklung des Finanzplatzes stiegen die Mieten überall extrem stark. Wer sie nicht zahlen kann, wird nicht an den Stadtrand, sondern ganz aus der Stadt heraus oder gar aus dem Land verdrängt. Und was das Bahnhofsviertel angeht, könnte man von einer Supergentrifizierung sprechen, einem Begriff, der in London geprägt wurde. Wohnraum verschwindet zugunsten teurer Büros der Finanzbranche. Die Situation ist viel dramatischer als in Saarbrücken, macht man sich die Analyse der Gruppe „Luxembourg under Destruction“ zu eigen, die mit einer neuen Petition einen stärkeren Denkmalschutz fordert, weil enorm viele historische Gebäude abgerissen werden – zum Beispiel auch in der Route de Thionville in Bonneweg.

Aber zurück an die Saar. Eine neue Heimat könnte die Jazzszene in einer anderen Kultkneipe finden: der seit über 50 Jahren bestehenden „Brasserie“ am Markt. Nach dem Tod des legendären Wirtes Micha Weber vor zwei Jahren wird es dort ab dem 2. Februar Jazzsessions geben, kündigten die neuen Pächter letzte Woche an. Auch der „Blaue Hirsch“ oder das „Terminus“ stünden zur Verfügung. So frustrierend die Situation für Awa auch ist: Es gibt Alternativen. Und die jungen Menschen auf der Suche nach anderen Lebensentwürfen, Studierende und Kunstschaffende mit begrenztem Budget? Noch treffen sie sich im Viertel, haben zum Wohnen aber seit Längerem auch den Arbeiterstadtteil Malstatt entdeckt. Auch da fehlt den Eigentümern das Kapital, die Gebäude an heutige Ansprüche anzupassen. So bleibt das Mietniveau niedrig. Wie damals „Uff de Nauwies“. Noch hat dort kein cooles Lokal eröffnet. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Und noch ist kein Investor interessiert.


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