Gilets jaunes
: Eine Weste für alle?

Eine recht positive Deutung der Gilets jaunes liefert Luisa Michael in ihrem Buch „Wir sollten uns vertrauen“. Die in Paris lebende Autorin begreift die Bewegung vor allem als sozialen und politischen Lernprozess.

Ignorieren der bestehenden Organisationsmodelle: Protest der Gilets jaunes im März 2019 in Paris. (Foto: EPA-EFE/JULIEN DE ROSA)

Die Gilets jaunes scheinen wieder da zu sein. Jüngst kam es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Anhänger*innen jener Protestbewegung, die niemand so recht versteht, die aber auch irgendwann niemand mehr ignorieren konnte. 2018 tauchten sie scheinbar aus dem Nichts auf, die Demonstrant*innen, die nichts miteinander zu verbinden schien als ihr gelbes Kleidungsstück und der Ruf nach dem Rücktritt des französischen Präsidenten Macron. Damit all die Teilzeitbeschäftigten, Alleinerziehenden, Sozialhilfeempfänger*innen und Arbeitslosen sichtbar werden konnten, mussten sie sich erst eine gelbe Weste überstreifen, so wie es andere mit einer Sturmhaube und schwarzen Klamotten machten, um sich zum „Black Block“ zu formieren.

Warum diese französischen ‚Normalos‘, weiße Arbeitslose aus der Provinz, rebellierende Jugendliche aus der Banlieue, Gewerkschafter*innen und bisher unpolitische Kleinbürger*innen auf die Straße gingen, Ronds-points besetzten und sich militante Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht geliefert haben, verwunderte viele.

Insbesondere die politische Linke stand eher rat- und ahnungslos neben den Protestierenden und konnte sie nicht so recht einordnen. Die organisierten Linken aus Parteien und Gewerkschaften blieben abseits und nähern sich jenen Vergessenen und Überflüssigen nur zaghaft. Gerade der Ruf der Gilets jaunes nach Steuersenkung war weit weg den Forderungen der Linken. Dieses Unverständnis äußerte sich dann auch im Bedürfnis nach Abgrenzung zu ihnen: Die Gilets jaunes seien unpolitisch, populistisch oder rechtsgerichtet.

Mit diesen Berührungsängsten, aber auch mit den Ansätzen der Gilets jaunes selbst hat sich nun Luisa Michael in ihrem in deutscher Originalausgabe erschienenen Buch „Wir sollten uns vertrauen. Der Aufstand in gelben Westen“ beschäftigt. Die aus Deutschland stammende Michael lebt seit zwanzig Jahren im Pariser Stadtteil Belleville und ist dort unter anderem in Initiativen für die Rechte von Migrant*innen aktiv. In ihrem Buch, eine Art Bewegungs-Tagebuch, schildert sie ihre Erfahrungen und die anderer Pariser*innen mit und zunehmend auch innerhalb der Gilets jaunes. Sie beschreibt ihre eigenen Vorurteile als Großstadtbewohnerin gegenüber dieser „provinziellen“ Bewegung, nähert sich aber mit skeptischer Neugierde immer mehr an, sieht und hört hin – und streift sich schließlich auch selbst die gelbe Warnweste über.

In ihren Aufzeichnungen kommen verschiedene Bereiche vor, mit denen sich die Gilets jaunes beschäftigen, wie Geschlechterverhältnisse, Rassismus, Armut oder Stadtpolitik. Aktivist*innen kommen selbst zu Wort, zudem wird das Buch durch den Wiederabdruck von Zeitungsartikeln und Reflexionen diverser Intellektueller zum Thema ergänzt.

„Man hörte einander interessiert zu, es ging ganz offensichtlich nicht darum, irgendeinen Standpunkt durchzusetzen, sondern sich auszutauschen.“

Die Gilets jaunes sind Produkt der krisenhaften Transformationsprozesse bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung. Jahrzehntelang war die Bevölkerung durch einen starken Sozialstaat an das System gebunden und hatte so scheinbar wenig Grund zur Rebellion. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den daraus folgenden Konsequenzen für den Weltmarkt, der nicht zuletzt auch ein globaler Arbeitsmarkt ist, gerieten die nationalen Wohlfahrstaaten immer weiter unter Beschuss. Die Prekarisierten und in Armut gestoßenen Menschen weltweit können ein trauriges Lied hiervon singen. Die Hoffnung auf gesellschaftlichen Kompromiss und Versöhnung schien vorbei zu sein, die Aussichten der heutigen ausgebeuteten Klassen gering, die Lage fatal. Die Gilets jaunes sind der aktuelle Ausdruck dieser Proteste.

Michael macht jedoch deutlich, worin ihrer Ansicht nach das fundamental Neue an deren Revolte besteht: Paris ist diesmal nicht das Zentrum des Aufstands. Die Stadt ist bestenfalls Austragungsort der Auseinandersetzungen, die in sie hineingetragen wurden. Die Gilets jaunes kommen größtenteils aus der Provinz. Da, wo man auf das Auto angewiesen ist – daher auch der Protest gegen die Benzinsteuer. Für Michael sind dies Menschen, die „sowieso kämpfen müssen, um einigermaßen selbstbestimmt leben zu können. Menschen, die durch höhere Kraftstoffpreise in echte Bedrängnis geraten, auch wenn sie nicht gerade verhungern oder obdachlos werden“.

Bei den Gilets jaunes findet sich keine fixe oder kohärente Ideologie oder Motivation, die Teilnehmer*innen sind zu unterschiedlich und auf sämtliche Regionen von Frankreich verteilt. „Da standen Menschen zusammen, von denen sich manche schon mal gründlicher mit diesen Zusammenhängen beschäftigt, womöglich Marx gelesen hatten, und andere, die aus einem ganz anderen Erfahrungshintergrund kamen und sich ihre Gedanken gemacht hatten. Man hörte einander interessiert zu, es ging ganz offensichtlich nicht darum, irgendeinen Standpunkt durchzusetzen, sondern sich auszutauschen, die Begegnung zu nutzen, um gemeinsam klüger zu werden“, so beschreibt Michael ihre Erfahrungen.

Auf diese Weise haben die Aktivist*innen nach Michaels Meinung eine neue, eine radikale Form des kollektiven Handelns entwickelt, die sich nicht so recht einordnen lässt. Was die protestierenden Menschenmassen eint, ist nicht nur das gelbe Kleidungsstück, sondern die Erkenntnis, zusammenarbeiten zu können, ohne auf bestehende Organisationsmodelle der Gewerkschaften und Parteien zurückgreifen zu müssen oder überhaupt zu wollen. So verweigern sich die Gilets jaunes nicht nur einem Dialog mit der Staatsmacht, sie beharren auf ihrem Recht auf selbständige politische Meinungsäußerung. Dabei werden ihre Themen und Missstände wie zu hohe Preise für Treibstoff und Mieten oder unzureichende Löhne und Renten sichtbar.

Für die Gilets jaunes sind nicht mehr die öffentlichen Plätze als Ausdruck direktdemokratischer Versammlung von zentraler Bedeutung, wie noch bei den Nuits debout des Jahres 2016, sondern die Verkehrskreiseln. Diese werden auch in symbolischer Hinsicht so „besetzt“, dass sie als lebendige Orte inmitten des „toten“ Kreislaufs der kapitalistischen Warenproduktion und -konsumption wirken. Jeder besetzte Verkehrskreisel stellt für Michael „eine kleine res publica dar, eine miteinander geteilte ‚Sache‘, unvollkommen und vieldeutig darin, was genau jene, die das Ganze initiiert hatten und am Laufen hielten, intendierten, aber doch sehr real“. Was blockiert wird, „ist unser alltägliches Leben: die Landstraßen, die Nationalstraßen, die Einkaufszentren und Industriegebiete“, so zitiert sie einen Aktivisten der Gilets jaunes.

Klar: Nicht alles ist gelb, was glänzt. Das Problem der Gilets jaunes ist, dass ihre Systemkritik meist keinen umfassenden Widerstand gegen den Kapitalismus bedeutet, sondern in erster Linie eine Ablehnung des politischen Rahmens der bestehenden Wirschaftsweise. Darauf jedoch mit der Überlegenheit der geschulten Theoretiker*innen zu reagieren, wäre falsch. Gerade weil die Gilets jaunes laut Michael auch einen gehörigen Abstand zu gängigen Vorstellungen des Populismus aufweisen. Sie weigern sich, Führer*innen oder Repräsentant*innen anzuerkennen. Dadurch, dass sie für sich selbst sprechen, lassen sie sich nicht vereinnahmen. Ihre Wut nehme kaum je die Färbung des Ressentiments an, so die optimistische Zusammenfassung der persönlichen Erfahrung der Autorin.

Diese fasst sie so zusammen: In dem Maße, wie die Gilets jaunes „zusammen mit anderen an den Kämpfen teilnehmen, die sie und uns alle betreffen, lösen sich Vorurteile und Projektionen auf“.

Damit unterscheiden sich die Gilets jaunes nach Michaels Meinung auch maßgeblich von anderen Bewegungen. Wenn die „Wutbüger“ in Deutschland „Merkel muss weg!“ schreien, dämonisieren sie die Politik der deutschen Bundeskanzlerin gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen. Bei den Gilets jaunes gehe es hingegen um soziale Gerechtigkeit – für alle.

Damit stören sie den alltäglichen Ablauf des kapitalistischen Normalvollzugs, decken auch die Phrasenhaftigkeit des politischen Feldes auf und erlangen durch ihre Regelverletzungen und Militanz Glaubwürdigkeit. „Sie treten aus ihren jeweiligen eigenen alltäglichen Abläufen heraus, lernen andere Menschen kennen, die sie sonst nie kennengelernt hätten. Sie besprechen mit ihnen ganz grundsätzliche Fragen, die sie sich selber noch gar nicht beantwortet haben. Sie hören einander zu. Sie erleben, dass sie zusammen klüger und weniger ohnmächtig sind. Sie teilen ihre Sorgen und Ängste mit den eben noch Fremden – oder mit Nachbar*innen, Kolleg*innen, Angehörigen, mit denen sie so noch nie gesprochen haben.“ Sollten Michaels Eindrücke verallgemeinerbar sein, dann könnte die politische Linke von dieser Form der Selbstorganisation noch einiges lernen.

Luisa Michael: Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen. Nautilus Verlag, Originalausgabe, 240 Seiten.

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