Gleichstellungspolitik: „Es hapert an der praktischen Umsetzung“

In vielen Gesellschaftsbereichen besteht de facto keine Geschlechtergleichstellung. Im Interview mit der woxx spricht Ministerin Taina Bofferding über bestehende Problematiken.

„Es darf nicht mehr so sein, dass man sich zwischen Familienleben und professioneller Tätigkeit entscheiden muss“ – Gleichstellunsgministerin Taina Bofferding im Interview mit der woxx. (Foto: woxx)

woxx: Welches sind für Sie die größten Probleme, die sich in Luxemburg zurzeit in puncto Gendergerechtigkeit stellen?


Taina Bofferding: Es ist in Luxemburg so, dass die Geschlechtergleichstellung zwar gesetzlich verankert ist, im gelebten Alltag jedoch nicht durchgängig umgesetzt wird. Als Beispiel könnte man hier den Arbeitsmarkt anführen. Beim Homeoffice sind viele der Ansicht, dass dieser besonders für Mütter interessant ist, weil sie so mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können. Dabei richtet sich Homeoffice erstens an alle, unabhängig vom Geschlecht, zweitens ist auch Homeoffice Arbeit. Es als Maßnahme zu verkaufen, die sich spezifisch an Frauen richtet, wäre völlig verfehlt. In den letzten Jahrzehnten ist so viel passiert, um Frauen in der Arbeitswelt zu halten, jetzt müssen wir die gegenteilige Entwicklung verhindern: Dass die drei Ks – Kinder, Küche, Kirche – durch die drei Hs – Homeoffice, Homework, Homeschooling – ersetzt werden. Ansonsten hätten wird als Politik versagt. Eine entsprechende Studie, die das Gleichstellungsministerium beim Liser (Anm. d. Red.: Luxembourg Institute of Socio-Economic Research) in Auftrag gegeben hat, ist zwar noch nicht abgeschlossen. Es wird aber schon jetzt ein Conseil Scientifique aus Vertretern von Liser, Gleichstellungsministerium, Arbeitsministerium und Sécurité sociale zusammengestellt, um die Ergebnisse der Studie späterhin zu analysieren und in konkrete politische Initiativen münden zu lassen. Eine weitere Problematik betrifft die Teilzeitarbeit: Laut aktuellen Zahlen des Statec arbeiten 36 Prozent der Frauen und 6 Prozent der Männer in Teilzeit. Es ist wichtig, diese Möglichkeit beizubehalten, gleichzeitig darf der Weg hin zu einer Vollzeitbeschäftigung nicht erschwert werden. Zusammen mit dem Arbeitsministerium und im Rahmen des Koalitionsabkommens wird zurzeit eine Regelung ausgearbeitet, die das Recht auf Teilzeitarbeit ebenso garantiert, wie den Weg zurück in die Vollzeitarbeit. Es geht dabei nicht bloß darum, Statistiken aufzubessern, sondern um ganz konkrete Lebensrealitäten: Ein niedriges Einkommen und die damit einhergehende niedrige Rente kann nicht zuletzt für alleinerziehende oder geschiedene Frauen zum existenziellen Problem werden. Das hängt vor allem mit den hohen Immobilienpreisen zusammen.

„Etwas zu tun, nur um etwas zu tun, bringt uns nicht weiter.“

Ein Gender Budgeting im Wohnbereich könnte hier doch sicherlich hilfreich sein? Man könnte sozialen Wohnraum und finanzielle Subventionen spezifisch für Frauen in prekären Situationen vorsehen.


Aus Studien geht hervor, dass alleinerziehende Mütter auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden, trauen Vermieter ihnen doch aufgrund ihrer Lebenssituation oftmals nicht zu, ihre Miete langfristig stemmen zu können. Bei sozialen Wohnungen werden alleinerziehende Mütter zwar priorisiert, da stellt sich allerdings das Problem, dass wir einfach nicht über ausreichend Sozialwohnraum verfügen. Als Innenministerin habe ich diesbezüglich durchaus meine Verantwortung übernommen. Durch eine Gesetzesvorlage wird künftig in allen Gemeinden ein bestimmter Prozentsatz an Sozialwohnungen entstehen müssen – da viele davon aber erst gebaut werden, ist erst mittel- bis langfristig mit substanziellen Steigerungen an Wohnraum zu rechnen. Die Wohnproblematik stellt sich auch im Besonderen für Opfer häuslicher Gewalt. Solche mit schwachem Gehalt müssen es sich dreimal überlegen, ob sie es sich leisten können, sich von ihrem Peiniger zu trennen. Das darf eigentlich nicht sein, diese Frauen sind in akuter Gefahr. Notfallstrukturen sind nicht mehr als eine kurzfristige Übergangslösung. Ich bin aktuell mit Gemeinden im Gespräch, um gerade für solche Frauen spezifischen Wohnraum vorzusehen. Eine weitere geplante Initiative des Ministers für Wohnungsbau ist der „Bailleur social“: Organisationen, die etwa Opfer häuslicher Gewalt oder ehemalige Prostituierte unterstützen, können zu erschwinglichen Preisen Wohnräume mieten, um Bedürftigen anschließend darin betreuen zu können. Solch zielgerichtete Projekte für Menschen in prekären Situationen sind von äußerster Wichtigkeit.

Stichwort Prekarität: In keinem Bereich arbeiten so viele Frauen wie im Reinigungssektor. Die meisten davon haben einen Migrationshintergrund. Gleichzeitig ist es auch einer der prekärsten Arbeitsbereiche des Landes. Wie ist dieses Problem in den Griff zu bekommen?


Erst einmal ist es wichtig, dass privat angestelltes Putzpersonal vom Arbeitgeber angemeldet wird. Nur so kann garantiert werden, dass diese Menschen späterhin Rente beziehen können. Es stimmt, dass in diesem Sektor vor allem Frauen mit Migrationshintergrund arbeiten, viele davon ohne Schulabschluss. Zurzeit laufen Diskussionen zwischen den Sozialpartnern, um den Beruf aufzuwerten und den Zugang zum qualifizierten Mindestlohn nach zehn Jahren Berufserfahrung zu garantieren.

Bringen Sie sich als Gleichstellungsministerin in diese Diskussionen ein?


Als Gleichstellungsministerin fällt meine Kompetenz nicht in diesen Bereich. Ich kann aber immer auf solche Problematiken aufmerksam machen. Der Arbeitsminister ist diesen Themen gegenüber nicht verschlossen und hat sich auch mit den Vertreterinnen der Plattform Jif (Anm. d. Red.: Die Plattform Journée internationale des femmes ist ein Zusammenschluss aus Organisationen, die sich für die Stärkung von Frauenrechten einsetzen) getroffen, um genau diese Problematik zu diskutieren. Es stimmt auf jeden Fall: Wenn es um die Prekarität von Frauen in der Arbeitswelt geht, müssen wir ohne Zweifel über den Reinigungssektor reden.

Der größte Input Ihres Ministeriums auf dem Arbeitsmarkt sind die Actions positives, ein Coaching, das Betrieben dabei hilft, gendergerechter zu werden. Bisher haben nur 80 Betriebe daran teilgenommen. Dennoch halten Sie am Prinzip der Freiwilligkeit fest.


Im Moment ja. Andernfalls müsste man Bedingungen definieren, unter denen ein Betrieb zu einer Teilnahme verpflichtet würde. Das ist schwierig. Die meisten Betriebe hierzulande sind nicht groß oder haben ihren Hauptsitz im Ausland. Die können von dem Programm nicht erfasst werden. Wo wir aber noch Handlungsspielraum sehen, ist bei den Délégués à l’égalité. Hierzulande ist jeder Betrieb ab 15 Angestellten gesetzlich dazu verpflichtet, einen solchen Posten zu besetzen. Wir mussten jedoch feststellen, dass die wenigsten Betriebe dieser Verpflichtung nachgekommen sind. Wir sind dabei, all jene zu identifizieren und mit Nachdruck die Besetzung dieses Postens einzufordern. Manche Betriebe verfügen zwar über einen Délégué à l’égalité, haben dessen Aufgaben jedoch nicht klar genug definiert. Wir sind zurzeit mit der Chambre des salariés in Diskussionen, um gemeinsam eine Aufwertung dieser Delegierten zu veranlassen. Das wäre zum Beispiel durch eine Zusammenstellung von Best-Practice-Beispielen möglich.

Könnten Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern eine Bedingung sein, um Betriebe zur Teilnahme an den Actions positives zu verpflichten?


Zurzeit wird ja über eine EU-Direktive zur Lohntransparenz diskutiert. Diese könnte hier in diesem Fall absolut weiterhelfen. So würde überhaupt einmal eine Diskussion über Gehälterunterschiede aufkommen – hierzulande ist das immer noch ein Tabu. Die EU-Kommission hat diesbezüglich jetzt geliefert, in einem nächsten Schritt muss die Direktive hierzulande implementiert werden. Die Teilnahme an den Actions positives wird aber weiterhin freiwillig bleiben. Würde gesetzlich verankert, dass jeder Betrieb ab 15 Angestellten über einen Gleichstellungsaktionsplan verfügen muss, müsste dessen Umsetzung auch kontrolliert werden. Das können wir momentan aber nicht gewährleisten.

Könnte diese Aufgabe nicht von der Inspection du travail et des mindes übernommen werden?


Das wäre die Instanz, die in einem solchen Fall zuständig wäre, ja. Erst einmal müssten der ITM aber die entsprechenden Kompetenzen erteilt werden. Etwas zu tun, nur um etwas zu tun, bringt uns nicht weiter. Das ist das Problem mit sehr vielen aktuellen Initiativen: Auf dem Papier sehen sie zwar gut aus, woran es jedoch hapert ist die praktische Umsetzung. An dieser Stelle müssen wir ansetzen.

Gerade wenn es um eine Entlastung von Frauen bei der Hausarbeit und Kindererziehung geht, stehen Forderungen wie Arbeitszeitverkürzung oder die Ausweitung des sogenannten Pappecongés auf drei Monate im Raum. Wird zurzeit über solche Maßnahmen nachgedacht?


Ich bin zumindest der Ansicht, dass darüber nachgedacht werden sollte. Gerade bei der Arbeitszeitverkürzung sehe ich eine große Chance, um eine bessere Work-Life-Balance für alle Geschlechter zu garantieren. Der Pappecongé wurde ja bereits verlängert, man kann aber sicherlich über eine weitere Verlängerung nachdenken. Es lässt sich nicht verleugnen, dass bei Vätern ein realer Bedarf besteht, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Das zeigt sich schon allein am Erfolg des Congé parental. Es ist wichtig, dass die Politik dieser gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung trägt und den entsprechenden Rahmen schafft. Einerseits müssen Frauen verstärkt die Möglichkeit erhalten zu arbeiten, andererseits müssen Väter aber auch die Möglichkeit haben, weniger und flexibler zu arbeiten. Es darf nicht mehr so sein, dass man sich zwischen Familienleben und professioneller Tätigkeit entscheiden muss.

Auch wenn aufseiten der Männer kein Bedarf bestünde: Es geht doch mindestens genau so sehr um eine private Entlastung und finanzielle Absicherung von Frauen. Müsste der notwendige Paradigmenwechsel nicht verstärkt durch politische Maßnahmen gefördert werden?


Absolut. Man kann sogar so weit gehen, sich zu fragen, wieso wir im 21. Jahrhundert überhaupt noch über solche Fragen diskutieren müssen. Wieso immer noch ein Unterschied zwischen Mutter und Vater gemacht wird. Stattdessen sollte einfach nur von Eltern geredet werden. Das ist der Punkt, den wir erreichen wollen. Wir setzen den gesetzlichen Rahmen. Jede Person soll dann selbst entscheiden können, was sie schlussendlich für richtig hält. Da darf sich die Politik nicht einmischen. Sie kann allerdings darauf achten, dass keine Anreize geschaffen werden, welche Frauen benachteiligen.

Foto: woxx

Sie haben kürzlich das Observatoire à l’égalité ins Leben gerufen. Von den Rubriken auf der Internetseite sind die meisten momentan noch leer. Gibt es keine Statistiken des Statec, auf die man zurückgreifen könnte? Immerhin sind diese ja auch nach Geschlecht aufgeschlüsselt. 


Es handelt sich beim Observatoire à l’égalité um ein Projekt, das kontinuierlich weiterentwickelt wird. Bisher wurden zwei Themenbereiche abgedeckt: häusliche Gewalt und Arbeit. In den nächsten Monaten werden die Bereiche „Prise de décision“ und „Équilibre entre vie professionelle et privée“ fertiggestellt. Ziel ist es, eine zentralisierte Stelle zu schaffen, um sich auf einen Blick eine Übersicht über existierende Statistiken zu verschaffen. Bezüglich häuslicher Gewalt etwa gibt es einerseits die Statistiken des Comité de coopération violence. Dieses erfasst aber nicht alle Fälle, sondern nur die, die offiziell gemeldet wurden. Um das umfassende Bild zu bekommen, das wir mit dem Observatoire anstreben, ist es deshalb wichtig, darüber hinausgehendes Zahlenmaterial in die Statistik einzubeziehen, wie etwa die der Opferambulanz. Je nach Instanz sind die Daten aber anders aufgeschlüsselt und genau das macht die Arbeit so zeitaufwendig: Sie müssen erst aufgearbeitet und vereinheitlicht werden, bevor sie ins System aufgenommen werden können. Mithilfe des Observatoire soll aber auch deutlicher werden, in welchen Bereichen in Zukunft noch verstärkt Daten erhoben werden müssen. Trotzdem war es mir wichtig, das Projekt jetzt schon zu starten und die Rubriken allmählich zu vervollständigen. Das Observatoire ist etwas Dynamisches, das heißt, dass die Zahlen fortwährend neuen Erkenntnissen angepasst werden.

„Je mehr geschlechtergerecht geschrieben wird, desto mehr wird es zur Selbstverständlichkeit.“

Anpassungsbedarf besteht in Luxemburg zurzeit auch in puncto gendersensibler Sprache. Sowohl Gesetzestexte als auch Briefe und Publikationen staatlicher Institutionen werden ausnahmslos im generischen Maskulinum verfasst. Soll sich das irgendwann ändern?


In den beiden Ministerien, für die ich zuständig bin, wird jede Veröffentlichung, jedes Presseschreiben gegendert. Um auch andere dazu zu motivieren, ist das Gleichstellungsministerium dabei, einen Leitfaden auszuarbeiten. Auf Luxemburgisch, Deutsch und Französisch. Alle, die gendergerecht schreiben wollen, sollen auf diesen zurückgreifen können. Wir sehen es als unsere Aufgabe einerseits zu erklären, wieso Gendern wichtig ist, und andererseits Schreibweisen zu empfehlen. Je mehr geschlechtergerecht geschrieben wird, desto mehr wird es zur Selbstverständlichkeit.

Wäre es in dem Sinne nicht umso wichtiger, dass nicht nur zwei, sondern alle Ministerien mit gutem Beispiel vorangehen?


Absolut. Genau deshalb werden wir diesen Leitfaden veröffentlichen.

Um bei der Sprache zu bleiben: Wieso heißt es „Ministerium für Gleichstellung von Frauen und Männern“ und nicht „Ministerium für Gleichstellung aller Geschlechter“?


Bei der Regierungsbildung wurde der gesamte Genderbereich aufgeteilt zwischen Gleichstellungs- und Familienministerium. Genau diese Aufteilung wurde mit dem Namen verdeutlicht.

Arbeitet die Hervorhebung von Männern und Frauen nicht der Aufgabe des Familienministeriums entgegen, alle Geschlechter, auch nicht-binäre, zu entmarginalisieren?


Ich sehe es nicht als ein „Entgegenarbeiten“, weil die beiden Ministerien in diesen Fragen eng zusammenarbeiten. Ich empfinde diese Aufteilung nicht als schlimm, weil sie es erlaubt, die Aufmerksamkeit gezielt auf Geschlechterdiskriminierung zu richten. Von Männern und Frauen zu reden, erlaubt es, auf die spezifischen Lebensrealitäten einzugehen. Solange diese Ungleichheiten bestehen, sind auch nach Geschlecht aufgeteilte Statistiken notwendig. Erst wenn keine Diskriminierung mehr vorliegt, erübrigen sich die Geschlechterkategorien.

Könnte man die Geschlechter nicht in „weiblich“, „männlich“ und „nicht-binär“ aufschlüsseln?


Das könnte durchaus der nächste Schritt sein. Die Statistiken müssten aber erst einmal nach dieser Aufteilung erhoben werden.


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