Im Kino: Blue Jean

In „Blue Jean“ folgt das Publikum der Sportlehrerin Jean durch ein dunkles Kapitel queerer Geschichte: 
die Einführung der Section 28 in Großbritannien, mit der die Verbreitung homosexueller Inhalte verboten wurde.

Viv (links) und Jean (rechts) führen eine glückliche Beziehung, wären da nicht Jeans Existenzängste aufgrund der Section 28. (Quelle: imdb.com)

Die Sportlehrerin Jean (Rosy McEwen) verheimlicht ihre Homo-
sexualität auf dem Arbeitsplatz, stößt im Alltag wiederholt auf Homofeindlichkeit und riskiert mit ihren Unsicherheiten die Beziehung zu ihrer Partnerin Viv (Kerrie Hayes). Druck ist in „Blue Jean“, dem Spielfilmdebüt der queeren britischen Regisseurin Georgia Oakley, allgegenwärtig und spiegelt damit die Zeit, in der die Handlung stattfindet. Der Film, der im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig 2022 Premiere feierte, spielt Ende der 1980er-Jahre in Nord-
england. 1988 wurde unter Premierministerin Margaret Thatcher eine Reihe Gesetze – Section oder Clause 28 genannt – eingeführt, die die Verbreitung homosexueller Inhalte durch öffentliche Behörden untersagte.

In einem Rundtischgespräch des British Film Institute Southbank (BFI) offenbarte die 34-jährige Regisseurin Georgia Oakley, auf ihrem Bildungsweg sei ihr das Verbot nie begegnet. Dabei wurde es erst im Jahr 2000 in Schottland und 2003 in Großbritannien und Wales offiziell aufgehoben. Oakley, die eigenen Aussagen nach im Laufe ihrer Karriere selbst Opfer von Mikroaggressionen, Homofeindlichkeit und Sexismus geworden ist, war es ein Anliegen, diese Geschichte als queere Filmemacherin aufzugreifen. Zu oft werde von queeren Autor*innen erwartet, schöne Erlebnisse auf die Leinwand zu bringen, doch sie könne sich nicht mit diesen Erfahrungen identifizieren.

Dass Oakley sich in „Blue Jean“ für eine Lehrerin als Hauptfigur entschieden hat, kommt nicht von ungefähr: Die National Union of Teachers kritisierte das Verbot damals scharf, da es unter anderem die Bekämpfung von homofeindlichem Mobbing erschwerte. Unter den Lehrbeauftragten wuchs die Unsicherheit darüber, inwiefern sie ihre Schüler*innen über Homosexualität und Queerness aufklären sowie ihnen beratend zur Seite stehen durften. Georgia Oakley erinnert sich im Interview mit dem BFI an den Austausch mit einer lesbischen Lehrerin, die zu dieser Zeit in Großbritannien tätig war. Sie soll sich rückblickend für ihren Umgang mit betroffenen Schüler*innen geschämt und gesagt haben: „I just wished I could have been braver.“

Und genau diesen Konflikt durchlebt auch Jean, als sie in ihrer Stammkneipe zufällig einer Schülerin über den Weg läuft. Das Mädchen wird später von ihren Mitschülerinnen aufgrund ihrer vermuteten Homosexualität schikaniert; Jean ist mit der Situation überfordert. Oakley schildert eindrücklich, was für einen Einfluss strukturelle Homofeindlichkeit auf Menschen haben kann und zu welchen absurden Entscheidungen sie manche treiben mag. So entpuppt sich Jean, die in der Öffentlichkeit zu Beginn ohnehin verhalten mit ihrer Homosexualität umgeht, schon bald als problematische Figur. Ihr Verhalten ist schwer nachvollziehbar, ihre Handlungen unsympathisch. Anders als ihre Partnerin Viv hadert sie mit sich selbst: Haben Lesben einen Platz in der Gesellschaft? Lohnt es sich, junge Lesben oder Mädchen, die neugierig auf die Szene sind, zu unterstützen? Sollte sie gegen homofeindliche Attacken vorgehen oder sie stillschweigend dulden? Alles an Jean schreit nach internalisierter Homofeindlichkeit. Die Schauspielerin Rosy McEwen spielt diese innere Zerrissenheit unaufgeregt, wenn auch bestimmt und überzeugend.

Oakley wirft damit in „Blue Jean“ die zeitlose Frage nach der Verantwortung auf, die die Gesellschaft gegenüber marginalisierten Personengruppen trägt. Homofeind*innen verteufeln LGBTIQA+-Personen bekannterweise regelmäßig als größte Gefahr für Heranwachsende, tabuisieren jegliche Auseinandersetzung von Minderjährigen mit sexuellen Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten, die über Heterosexualität beziehungsweise die Dichotomie Mann/Frau hinausgehen. „Blue Jean“ legt den Finger in die Wunde: Einerseits leidet Jean unter dem Hass, der ihr als Lesbe entgegengeschleudert wird, andererseits suchen betroffene Jugendliche verzweifelt doch vergeblich nach Anhaltspunkten. Wem ist mit solchen Verboten und öffentlichen Hetzkampagnen also am Ende geholfen?

Quelle: imdb.com/Screenshot

Georgia Oakley wirft in „Blue Jean“ die zeitlose Frage nach der Verantwortung auf, die die Gesellschaft gegenüber marginalisierten Personengruppen trägt.

Diese Message kommt vor allem deshalb rüber, weil Oakley hier keine Lesben zeigt, die die Gelüste eines sensationsgierigen Publikums befriedigen sollen. Anders als in Produktionen wie „Carol“ (2015) oder „La vie d’Adèle“ (2013) entsprechen nicht alle Hauptdarsteller*innen in „Blue Jean“ gängigen Schönheitsidealen oder sind wohlhabend; es gibt keine ausgefallenen Sexszenen zwischen jungen Frauen. Jean und Viv, beide gut in der lesbischen Szene vernetzt, essen nach dem Feierabend auf dem Sofa Fertignudeln aus dem Becher, zocken ihre Freundinnen beim Billard ab und haben ein liebevolles Intimleben. Ihre Figuren widersprechen noch dazu den Erwartungen, die so manche Zuschauer*innen aufgrund eines bestimmten Aussehens an sie haben mögen: Viv trägt Lederkluft und mehr Piercings am Ohr als Haare auf dem Kopf, ist jedoch die verletzliche Seele in der Partnerinnenschaft. Jean, die eher unscheinbar ausschaut, überrascht mit impulsiven Handlungen und Härte.

Oakley erzählt die Geschichte der Frauen langsam, mit ästhetischen Bildern, festgehalten auf einem 16 mm-Film. Manche mögen dies als schleppend empfinden, andere als Sehvergnügen für alle, die es nicht eilig haben. Statt einen Dokumentarfilm oder ein politisches Drama aus der Section 28 zu machen, überträgt die Regisseurin diesen Teil britischer Geschichte auf die persönliche Ebene, platziert ihn mitten in das Leben einer Sportlehrerin, wie sie auch heute noch an jeder x-beliebigen Schule arbeiten könnte. Nur durch Medienberichte, die meist im Hintergrund laufen, erfahren die Zuschauer*innen mehr über die politische Situation. Auch über Jeans oder Vivs Vorgeschichte verrät Oakley wenig. Das tut dem Film jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil: Es macht neugierig, regt dazu an, zwischen den Zeilen – oder in diesem Fall zwischen den Bildern – zu lesen und die Geschichten weiterzuspinnen. Es verwundert auf jeden Fall nicht, dass Oakleys Debüt mehrfach für Auszeichnungen nominiert wurde und unter anderem den Publikumspreis beim Filmfestival in Venedig erhielt.

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Bewertung der woxx : XXX


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