Über 20 Länder haben auf der Weltklimakonferenz einen Aufruf unterzeichnet, die Kapazitäten der Kernkraft bis 2050 zu verdreifachen. Doch ein neuer Bericht über den Status der weltweiten Nuklearindustrie zeigt, dass das alles andere als einfach wird.
„Kernkraft ist zurück!“ Das hofft zumindest der französische Präsident Emmanuel Macron. In seiner Rede in Dubai am 2. Dezember dankte er nicht nur seinen Partner*innen aus der Industrie und den Mitunterzeichner*innen, sondern strich die Vorteile von Kernkraft hervor. Sie sei so sauber wie Windkraft, sicher und eine gute Gelegenheit, um strategisch unabhängig zu werden. Vor allem für Entwicklungsländer seien sogenannte Small Modular Reactors (kleine modulare Reaktoren – SMRs) interessant, wenn die Weltbank und andere Kreditgeber*innen mitspielen würden.
Die zivilen nuklearen Kapazitäten bis 2050 zu verdreifachen, wird jedoch gar nicht so einfach. Nicht nur, dass es bisher kaum SMR-Projekte gibt, die mehr sind als Pläne und großspurige Ankündigungen – die Zahl der aktiven Kraftwerke ist aktuell eher im Sinken. Das geht aus dem diesjährigen World Nuclear Industry Status Report (WNISR) hervor. Der Bericht ist von unabhängigen Expert*innen verfasst, finanziert wird er unter anderem vom deutschen Umweltministerium und dem Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung sowie von den parteinahen Heinrich-Böll- und Friederich-Ebert-Stiftungen.
Bis 2030 sollen 88 Kernkraftwerke stillgelegt werden, zwischen 2031 und 2040 noch einmal 108 und zwischen 2041 und 2050 gehen planmäßig weitere 75 Reaktoren in den Ruhestand. Um die Kapazität bis 2030 auf dem gleichen Stand wie heute – 9,2 Prozent der Elektrizitätsproduktion – zu halten, müsse fast jeden Monat ein neues Kraftwerk in Betrieb gehen. Um die in Dubai vorgebrachten Verdreifachungspläne zu verwirklichen, wären also gewaltige Anstrengungen nötig – oder aber es müssen alte und tendenziell unsichere Kraftwerke weiterlaufen. Der WNISR sieht sogar das einfache Ersetzen der bisher bestehenden Kraftwerke als „hochgradig unrealistisches Szenario“, da die Planungs- und Bauzeiten für Kernkraftwerke so lang sind. Obwohl meistens von fünf Jahren Bauzeit ausgegangen wird, sind im Durchschnitt bei allen sich im Bau befindenden Kernkraftwerken sechs Jahre seit Beginn der Arbeiten vergangen. Die Hälfte aller Bauprojekte ist entweder schon verzögert oder in Gefahr, sich zu verzögern. Die Autor*innen des Berichts betonen, dass neben dem Bau auch Entwicklung, Planung, Finanzierung und Bürokratie Zeit kosten.
Russland und China bauen am meisten AKWs
Auf der Liste der Unterzeichner*innen des Aufrufs von Dubai fehlen China und Russland – dabei sind es diese beiden Länder, die am meisten Kernkraftwerke bauen: China vor allem zu Hause (23 Reaktoren, davon 4 russischer Bauart), während Russland im Ausland (24 Stück) baut. Auch das schafft Abhängigkeiten: die EU-Länder Bulgarien, Tschechien, Finnland und die Slowakei beispielsweise betreiben Reaktoren mit sowjetischem Design, die nur mit russischem Brennstoff betrieben werden können. Zwar ist es der Nuklearfirma Westinghouse gelungen, diese Brennelemente nachzubauen, bisher wurden diese jedoch nur in die Ukraine geliefert, heißt es im WNISR.
Können SMRs – kleine, vielseitig einsetzbare, möglicherweise auch mobile Reaktoren – Abhilfe schaffen, was lange Bauzeiten angeht? Auch hier versprüht der der WNISR wenig Optimismus: Bisher gibt es nur zwei Beispiele, eins in China und eins in Russland. Während bei der russischen Version, die auf der Barge „Akademik Lomonosov“ auf einem Fluss schwimmt, die Leistung unerwartet niedrig ist, lieferten die chinesischen HTR-PM-Reaktoren, die als die einzigen „echten“ SMRs weltweit gelten, im Jahr 2022 nur 27 Stunden lang Strom. Grundsätzlich stellen die Autor*innen des Berichts fest, dass SMRs nur wenig Chancen haben, ökonomisch Strom zu liefern. Das zeige auch der Kollaps des US-amerikanischen Startups Nuscale, das im November dieses Jahres ankündigte, sein SMR-Projekt aufzugeben.
So könnte es durchaus sein, dass der Anteil an Atomstrom im weltweiten Energiemix in den nächsten Jahren eher zurückgeht. 2022 war er auf dem niedrigsten Stand seit 40 Jahren. Derweil haben Solar- und Windkraft im Jahr 2022 rund 28 Prozent mehr Strom produziert als Kernkraftwerke. Insgesamt lag der Anteil der Erneuerbaren (ohne Wasserkraft) bei 14,4 Prozent. Seit 2009 sind die Energiekosten für Fotovoltaik um 90 Prozent, jene für Windkraft um 70 Prozent gesunken. Dahingegen sind die Kosten für Kernkraft um 47 Prozent gestiegen. Um sie zu verdreifachen, müssten also gewaltige Investitionen getätigt werden.