Kritischer Bericht in Krisenzeiten: Kein Kernkraft-Revival

Der Boom der Atomkraft wird nur herbeigeredet, belegt der „World Nuclear Industry Status Report“. Und er zeigt alte und neue, krisenbedingte Risiken dieser Energieform auf.

„Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Realität des Atomindustriesektors von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und zahlreicher Entscheidungsträger als blühende Zukunftstechnologie unterscheidet“, kommentierte Mycle Schneider am Mittwoch bei der Vorstellung des „World Nuclear Industry Status Report 2022“ (WNISR) in Berlin. In den Augen des Herausgebers dieses seit 2007 jährlich erscheinenden kritischen Berichts wird „das Revival der Atomindustrie“ nur herbeigeredet. Das fast 400 Seiten starke Dokument macht deutlich, dass diese Form der Energieerzeugung keineswegs erfolgreich ist, dafür aber viele alte – und ein paar neue – Probleme mit sich bringt.

Über die vermeintliche Klimafreundlichkeit hinaus hat die Gefährdung der Energieversorgung infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine den Atomlobbys neue Argumente geliefert. So befürwortet die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) eine „weltweite Transition in eine sicherere, stabilere und preisgünstigere energetische Zukunft“ und lobt die Kernenergie, die inmitten der Krisen von 2021 eine „sichere und zuverlässige emissionsarme Stromversorgung“ gewährleistet habe. Die Zahlen im WNISR sagen etwas anderes: Zwar ist die Leistung der AKW weltweit stabil, doch ihr Anteil an der gesamten elektrischen Energieerzeugung sank 2021 „mit 9,8 Prozent auf den niedrigsten Stand seit 40 Jahren, während der Anteil von Wind- und Solarkraft auf über 10 Prozent anstieg und damit die Atomkraft erstmalig überholte“, wie dem Kommuniqué der Heinrich-Böll-Stiftung zur Vorstellung des Berichts zu entnehmen ist.

Der WNISR hebt außerdem die zentrale Rolle Russlands bei der Errichtung neuer AKWs hervor und widmet dem Atomstaat Frankreich ein Unterkapitel mit dem vielsagenden Titel „Nuclear Unavailability Review 2021“. Wollte man tatsächlich verhindern, dass durch reguläre Stilllegungen weltweit die Zahl der Reaktoren ab 2024 sinkt, müsste man im Monatsrythmus neue errichten – doppelt so schnell wie in den 2010er-Jahren. An diesem „stillen Atomausstieg“ ändert auch die deutsche kurzzeitige Laufzeitverlängerung nichts, auf die der Bericht im Detail eingeht.

Interessant sind die Ausführungen zur Verbindung zwischen IAEA und Weltklimarat (IPCC), die erklären, wie dessen Berichte es erleichtern, Atomenergie als effizienten Klimaschutz darzustellen. Der WNISR selbst untersucht weniger die Klimabilanz dieser Energietechnologie als ihre wahren Kosten und die technischen Schwierigkeiten bei neuen Projekten. Das Dokument ist betont sachlich gehalten – klassische Unfallrisiken und radioaktives Erbe werden vor allem indirekt dokumentiert. So ist ein Kapitel der Situation in Fukushima gewidmet, wo die Entsorgung über zehn Jahre nach dem Unfall nur schleppend vorangeht. Weltweit wurden bisher 204 Reaktoren stillgelegt, davon wurden aber nur 22 voll zurückgebaut und von diesen nur zehn Standorte wirklich saniert. Das ähnlich gelagerte, aber breitere Thema der nuklearen Abfälle wird ausdrücklich im Bericht ausgeklammert. Dafür ist einem „neuen“ Risiko ein ganzes Kapitel gewidmet: „Kernenergie und Krieg“.

Kernkraft im Kriegsfall

So verdeutlicht der WNISR, dass die IAEA mit einer absurden Doppelaufgabe betraut ist: Kontrolle der Verbreitung von Atomwaffen und Förderung der Atomenergie. Die Rolle der Kernwaffen als Anreiz für die Nutzung der Nuklearenergie wird allerdings im Bericht nicht vertieft. Stattdessen geht es vor allem um die Risiken, denen AKWs im Rahmen von Kampfhandlungen ausgesetzt sind. „Im Kriegsfall gibt es viele Schwächen und potenziell absichtliche wie auch ungewollte Auswirkungen, sowohl innerhalb der Anlage als außerhalb, die zu einer Unterbrechung der Strom- und Wasserversorgung führen können“, heißt es im Bericht. Das Risiko einer Kernschmelze ist erheblich, denn „kein AKW weltweit wurde konzipiert, um unter Kriegsbedingungen zu funktionieren“. Die Einschätzung der Risiken sei im Mai 2022 vorgenommen worden, liest man weiter, und „es ist bemerkenswert, wie viele der theoretischen Annahmen offenbar in den folgenden Monaten in der Ukraine Realität wurden.“


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