Literarisches Colloquium Berlin: Literaturgeschichte que(e)r gelesen

Die Online-Sammlung „Queeres Lesen hören“ gibt in Text- und Audiobeiträgen Einblicke in queere Weltliteratur. Eine literarische Entdeckungsreise für alle, die über den eigenen Buchrand hinweg schauen wollen.

Kristof Magnusson (links) und Lann Hornscheidt (rechts) führen in einem verspielten, audiovisuellen Parcours durch queere Literaturgeschichte. Am Tresen diskutieren sie gemeinsam über ausgewählte Werke. (© Screenshot, Literarisches Colloquium Berlin/dichterlesen.net)

„Warum sollte es überhaupt so was wie queere Literatur geben? Wozu ist das wichtig, notwendig? Was kann es mir geben, egal, wie ich positioniert bin? Was ist die Rolle von Literatur in der Gesellschaft?“ Lann Hornscheidt, tätig in der Sprachwissenschaft und in den Gender Studies, sowie Kristof Magnusson, Autor und Übersetzer, geben gleich mehrere Antworten auf diese Fragen. Wer sie ihnen gestellt hat? Sie sich selbst – im Rahmen des Online-Projekts „Queeres Lesen hören“ des Literarischen Colloquiums Berlin, das zwischen 2017 und 2018 durchgeführt wurde.

Auf der Internetplattform präsentieren die beiden Audioaufnahmen und Texte, die die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geschlecht und Sexualität hinterfragen oder sie aus der Perspektive queerer beziehungsweise queerfreundlicher Autor*innen erfahrbar machen. Das Projekt schreibt sich in eine Reihe digitaler Hörräume zu literarischen Themen ein, die auf Initiative des Literarischen Colloquiums Berlin unter dichterlesen.net verfügbar sind. Hornscheidt und Magnusson haben für „Queeres Lesen hören“ aus den digitalen Beständen des Literarischen Colloquiums Berlin, der Literaturhäuser Stuttgart und Basel sowie des Deutschen Literaturarchivs Marbach geschöpft. Die Sammlung ist deswegen unvollständig und nicht unbedingt repräsentativ. Das Ergebnis ist dennoch äußerst lehrreich und wertvoll für alle, die nach der Repräsentation marginalisierter Menschen in der Literaturgeschichte sowie nach einer queerfreundlichen Literaturvermittlung lechzen.

Sagt Ihnen beispielsweise der Name Rosenstengel was? Nein? Kennen Sie Anne Lister? Beides sind historische queere Figuren, deren Geschichten sich die Autorin Angela Steidele angenommen hat – und sie sind spannend. Catharina Link schlug sich Anfang des 18. Jahrhunderts unter dem Decknamen Anastasius Rosenstengel in Männerkleidung durchs Leben. Sie wurde später als Deserteur überführt und für ihr Doppelleben zum Tode verurteilt. Steidele kam Link/Rosenstengel zufällig auf die Spur, was sie in einem Audiobeitrag im Hörraum humorvoll erzählt. Steidele widmete sich in ihrem Debütroman „Rosenstengel. Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.“ ihrem Schicksal. Während Link ihre Weiblichkeit zu verstecken versuchte, verdrehte Anne Lister den Frauen reihenweise den Kopf. Sie führte im 19. Jahrhundert fleißig und detailliert Buch über ihre lesbischen Liebschaften. Ihr Tagebuch gilt mit seinen vier Millionen Wörtern als eines der ausführlichsten der Welt. Dem US-Fernsehsender HBO diente ihre aufregende Biografie als Grundlage für die Serie „Gentleman Jack“, Steidele arbeitete ihre Tagebucheinträge in dem Buch „Anne Lister. Eine erotische Biographie“ auf.

Einen anderen Themenschwerpunkt setzen Hornscheidt und Magnusson, wenn sie nicht-fiktionale Texte von Carolin Emcke einbringen: In „Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ geht es nur im entferntesten Sinne um queere Menschen, dafür aber um die Mechanismen struktureller Gewalt und um die Schwierigkeit, Grausamkeiten in Worte zu fassen. Aspekte also, die auch für die oft angegriffene queere Gemeinschaft relevant sind. Emckes „Was wir begehren“ greift hingegen die Suche nach der Sprache des eigenen Begehrens auf, das in ihrem Fall vor allem eine homosexuelle Begierde ist.

Die Sammlung umfasst nicht nur europäische Autor*innen, sondern auch Stimmen der Weltliteratur. Es fällt beispielsweise der Name Audre Lorde: Der Name einer schwarzen, offen lesbischen Autorin und Aktivistin, die von den 1950er bis zu den 1980er-Jahren sowohl gesellschaftliche Normen als auch die Funktion literarischer Gattungen kritisch analysierte. Die Infragestellung heteronormativer Literatur bedeutete für Lorde die Einführung neuer Genres. Sie soll Gedichte als Notwendigkeit für das Überleben diskriminierter Personengruppen gehalten haben. Neben Lorde ist in puncto Weltliteratur zudem die Rede von Saleem Haddad, der mit seinem Roman „Guapa“ das schwule Leben in der arabischen Welt beschreibt.

Sex, Körper, Gender und Wissenschaft, Transidentität, Kindheit und Queerness, Dekonstruktion von Privilegien – die Liste weiterer Themen, die im Hörraum diskutiert werden, ist lang. Vielleicht etwas zu lang, wenn man sich alles auf einmal durchlesen und anhören möchte, zumal die besprochene Literatur inhaltlich und sprachlich anspruchsvoll ist. Die zahlreichen Audiobeiträge sowie die Videos, in denen Hornscheidt und Magnusson beispielsweise über die Werke der Bestsellerautorin Hanya Yanagihara debattieren, sind selten kürzer als zehn Minuten. Am Ende hat man sich trotz interessanter und unterhaltsamer Beiträge satt gehört. „Queeres Lesen hören“ ist nichts für zwischendurch. Dafür ist es zu lang, zu komplex und viel zu gut.

Der Hörraum ist unter 
www.dichterlesen.net/queeres-lesen-hoeren verfügbar und in deutscher Sprache.

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