Réserve sanitaire : „Wir werden nur noch verarscht“

Um die Covid-19-Krise in den Krankenhäusern zu bewältigen, zog die Regierung neben freien Ärzt*innen auch Krankenpflege-Schüler*innen in die „Réserve sanitaire“ ein. Sie fühlen sich ausgebeutet.

Acht Stunden im Ganzkörperanzug schwitzen – für Krankenpflege-Schüler*innen, die im Rahmen der „Réserve sanitaire“ in medizinischen Einrichtungen arbeiten, ist das Alltag. Bald sollen sie den Job ohne Bezahlung machen. Das Foto zeigt das „Centre de soins avancé“ in Grevenmacher. (Foto: © SIP/Emmanuel Claude)

„Wir werden alle verarscht.“ Anna* ist wütend. Seit Ende März ist die Krankenpflegerin, die eine Zusatzausbildung im Bereich Intensivmedizin und Anästhesie macht, im Covid-19-Bereich eines luxemburgischen Krankenhauses im Einsatz. Die Regierung bringe den jungen Menschen, die die Pandemie bekämpfen, keinen Respekt entgegen. Dabei sei die Situation in den medizinischen Einrichtungen schon angespannt genug.

Als zu Beginn der Covid-19-Krise der Notstand ausgerufen wurde, war Ärzt*innen die Berufsausübung nur noch sehr beschränkt erlaubt. Anfang April verkündete die Regierung dann, es sei den Mediziner*innen nun möglich, im Rahmen der „Réserve sanitaire“ für den Staat zu arbeiten, wozu sie zeitlich begrenzte Arbeitsverträge (CDD) erhielten. Neben Ärzt*innen waren von dieser Maßnahme eine ganze Reihe anderer Gesundheitsberufe betroffen, zum Beispiel Veterinär*innen, Psychotherapeut*innen, Krankenpfle
ger*innen – und nicht zuletzt Schü
ler*innen des Lycée technique pour professions de santé (LTPS). Doch deren Bezahlung soll am 11. Mai aufhören, obwohl sie weiterarbeiten sollen: Im Rahmen eines Praktikums statt eines CDD. Die Situation ist unklar und chaotisch, einige fühlen sich ausgebeutet.

Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann

„Am 28. April kam eine E-Mail der Schule, dass unsere CDDs am 10. Mai aufhören würden. Wir werden allerdings am gleichen Einsatzort bleiben und dort auch vermutlich genau die gleiche Arbeit machen, nur dass es jetzt halt nicht mehr CDD heißt, sondern Praktikum. Das heißt, wir werden nicht mehr dafür bezahlt. Das gilt für alle Schüler des LTPS“, erzählt Anna wütend. Eigentlich hätten die Verträge bis zum 28. Mai laufen sollen. Rein legal ist es nicht möglich, einen CDD einseitig zu kündigen – doch die Schüler*innen des LTPS wurden mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt.

Die Schüler*innen erhielten die Nachricht zuerst von einem – sichtlich aufgebrachten – Lehrer via Mail. Der erklärte, dass die Entscheidung dem widerspreche, was am Freitag davor zwischen Schule und Ministerium abgemacht worden sei. Die Gründe würde der Staat den Schüler*innen selbst mitteilen. In der entsprechenden Mail – die übrigens nicht von einer staatlichen, sondern von einer Gmail-Adresse aus versendet wurde – heißt es: „[…] il a été décidé de fixer la date de votre fin de contrat de travail en tant qu’employé(e) d’Etat au 10 mai 2020 […]“ Auch die Beamtin, die das PDF mit dem „Commun accord“ schickt, schreibt in ihrer Mail lediglich „Hier die Kündigung ihres Vertrages, der früher aufhört.“

Eigentlich hätten die Schüler*innen das Recht, den Aufhebungsvertrag, den der Staat ihnen vorlegte, nicht zu unterschreiben. Wie es dann jedoch mit dem Praktikum, das sie für ihren Abschluss brauchen, weiterginge, ist unklar – de facto ist es ein Angebot, das sie nicht ablehnen können.

Emma* ist Krankenpflege-Schülerin im LTPS und wurde Ende April in die „Réserve sanitaire“ einberufen. Da sie ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen hat, erledigt sie vor allem Hilfstätigkeiten. „Ich bin alleine mit drei Krankenpflegerinnen oder Krankenpflegern, die auf die Zimmer gehen. Um die Isolation der Patienten aufrecht zu erhalten, brauchen sie Unterstützung außerhalb der Zimmer. Über Telefon sind wir in Kontakt, ich schreibe die aktuellen Daten auf und beschaffe das benötigte Material. Außerdem erledige ich Aufgaben wie Mülleimer wegbringen oder Material herumtragen, meistens ziemlich anstrengende Arbeit.“

Angespannte Stimmung und schlechtes Material

Wie es am 11. Mai weitergeht, weiß Emma nicht genau. „Es ist ein riesiges Chaos. Ich werde wohl weiter dort arbeiten, wo ich jetzt bin und die gleichen Tätigkeiten ausüben. Für eine bezahlte Arbeit war das okay und ich fand es fair, dass ich entlohnt wurde. Aber wenn ich die gleichen Aufgaben im Rahmen meines Praktikums erledigen muss, lerne ich nichts dazu, was mir später bei der Ausübung meines Berufes hilft.“ Was Emma ebenfalls aufregt, ist die lange Anfahrtszeit. Normalerweise würde ihre Schule darauf achten, die Praktikumsplätze so zu vergeben, dass die Schüler*innen keine zu langen Wege zurücklegen müssen – aktuell muss Emma jedoch über eine Stunde fahren. „Ich stehe sehr früh auf, muss dann Arbeitskleidung und Maske anziehen, arbeite acht Stunden, dazwischen habe ich eine halbe Stunde Pause und muss danach noch duschen, ehe ich wieder eine Stunde nach Hause fahren kann.“

Für Anna heißt das Ende ihres CDDs, das sie weiterhin im Covid-19-Trakt arbeiten muss. „Es geht mir nicht einmal darum, all die Stunden bezahlt zu bekommen, sondern ums Prinzip. Am Anfang haben alle für uns geklatscht, und jetzt werden wir – die Schüler*innen und Student*innen – nur noch verarscht. Ich arbeite acht Stunden in einem Ganzkörperanzug, in dem man schwitzt, nicht aufs Klo kann, nichts essen kann. Und das soll ich jetzt umsonst machen. Wenn ich das Thema bei Kollegen anspreche, höre ich oft nur ‚Sei doch froh, dass du überhaupt etwas bekommst!“, erzählt sie. Überhaupt sei die Stimmung schlecht, alle seien angespannt, da noch mehr Druck auf dem medizinischen Personal laste als ohnehin schon. „Es gibt beinahe jeden Tag Streit, auch wegen dem Material. Es sind zwar genügend Masken da, aber die wirklich guten Modelle sind fast alle weg. Viele haben Angst, mit einer Maske, die selbst abgeklebt werden muss, weil sie nicht dicht ist, in den Covid-Bereich zu gehen.“

Foto: Gouvernement luxembourgeois

In der Einrichtung, in der Emma arbeitet, ist die Situation etwas anders: „Es ist genug Material da, die Situation ist mittlerweile sogar besser als am Anfang, da gab es nur eine Maske pro Tag, nun sind es zwei. Man merkt aber, dass es nicht die üblichen Marken sind, die normalerweise im Einsatz sind, sondern dass von überall eingekauft wird.“ Sie und ihre Kolleg*innen nähmen das aber eher mit Humor – zum Beispiel, wenn sie sich über den ungewöhnlich heftigen Gestank eines neuen Desinfektionsmittel wunderten.

Im Gespräch mit den Schü
ler*innen wird jedoch schnell klar, dass die Situation in den Krankenhäusern und medizinischen Zentren nicht so rosig ist, wie sie von offizieller Seite – und in einigen Medienberichten – dargestellt wird. „Es ist nicht so, wie es im Fernsehen gezeigt wird. Die wollen ohnehin nur eine Krankenpflegerin im Ganzkörperanzug filmen, die den Daumen nach oben hält. Dass die ganze Situation vielen überhaupt nicht mehr aus dem Kopf geht, kommt da natürlich nicht rüber“, sagt Anna.

Zu den schweren Arbeitsbedingungen und der schlechten Stimmung kommen bei ihr der psychologische Druck und die Angst hinzu. Vor der Krise wurde sie als Praktikantin in der Reanimation stets von einer*einem Krankenpfleger*in begleitet, nun muss sie alle Aufgaben selbstständig durchführen. „Am Anfang hatte ich schon Angst. Und ganz ehrlich gesagt, würde ich all das Geld zurückgeben, wenn ich dafür auf diesen Stress verzichten könnte.“ Dabei hat Anna nicht nur die Situation, dass sie ab dem 11. Mai wieder als Praktikantin arbeiten muss, sondern es gab bereits andere Schwierigkeiten mit dem Vertrag.

Freiwillig gezwungen

„Ich habe angefangen zu arbeiten, ohne einen Vertrag zu sehen. Der kam dann Wochen später und das Anfangsdatum war einfach eine Woche später als mein eigentlicher Arbeitsanfang. Als ich nachfragte, wurde mir gesagt, die Woche hätte ich halt freiwillig gearbeitet.“ Die Mail, in der eine Beamtin der Schülerin erklärt, dass sie verstehe, dass Anna aufgebraucht ist, aber an dieser Entscheidung nichts ändern könne, liegt der woxx vor.

Es ist unverständlich, wie der Staat mit den angehenden Kranken
pfleger*innen umgeht. Auch wenn die Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 zurückgehen, so ist nicht ausgeschlossen, dass es zu einer zweiten Welle kommt. Warum die Verträge jetzt bereits beendet werden müssen, obwohl sie weniger als drei Wochen später ohnehin ausgelaufen wären, konnte den Schüler*innen niemand erklären. In Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen herrscht ohnehin Personalmangel, der während der Krise durch die „Réserve sanitaire“ ausgeglichen wurde. In den kommenden Wochen muss der normale Betrieb wieder hochgefahren werden. Es ist also zu erwarten, dass die Schüler*innen weiterhin ihre bisherigen Tätigkeiten ausüben müssen, nur ohne Bezahlung und mit noch weniger Wertschätzung, als sie ohnehin bekommen.

Als die woxx das Gesundheitsministerium um eine Stellungnahme zu diesen Missständen bat, kam als Antwort lediglich, man müsse sich über diese komplexen Fragen informieren und würde sich zurückmelden. Bis zum Redaktionsschluss der Printausgabe gab es keine Rückmeldung.

Lesen Sie hier, wie sich die Situtation weiterentwickelt hat: Réserve sanitaire: CDDs werden nun doch fortgeführt und eine Schülerin meldet sich zu Wort.

*Name von der Redaktion geändert.

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